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St. Pöltens gute Seite

Eigentlich ...

Text Johannes Reichl
Ausgabe 03/2022
Eigentlich wollte ich mich in diesem Leitartikel mit dem Masterplan 25/50 beschäftigen, mit den Zukunftsvisionen für St. Pölten, die - auf 200 Seiten zusammengetragen - so etwas wie die Roadmap für die nächsten Jahre darstellen. Darstellen sollen. Denn ist jeder Plan per se ein Unterfangen mit offenem Ausgang, in „stabilen Zeiten" aber doch einigermaßen abschätzbar, so hat uns dieser Tage der Einmarsch Russlands in die Ukraine auf einen harten, ungemütlichen und vagen Boden der Realität zurückgeworfen, auf dem wir in Europa niemals wieder zu landen gedacht hätten.
Mit einem Mal ist vieles, was wir bislang als selbstverständlich, als „normal“, als geradezu in Stein gemeißelt erachteten, bedroht und in Frage gestellt. Und damit auch unsere imaginierte Zukunft – die nahe 2025 ebenso wie die fernere 2050.
Dabei sind wir nicht die vielzitierten Schlafwandler, die quasi unbewusst in die Falle gestolpert sind. Es hat eher den Anschein, dass wir im Hinblick auf die Probleme dieser Welt und die daraus resultierenden Verwerfungen wie der berühmte Vogelstrauß den Kopf in den Sand gesteckt haben, um uns nicht damit auseinandersetzen zu müssen. Nur – wir leben nicht auf der Insel der Seligen, und aus der Geschichte gibt es kein Entrinnen. Sie ist auch nicht zu Ende, wie wir nach dem Fall des Eisernen Vorhangs erhofften, sondern geht weiter. In welche Richtung, dieser Kampf wird gerade ausgetragen. 
Zugleich sind wir nach wie vor die großen Privilegierten, dass man sich fast dafür schämt, überhaupt irgendwelche Worte des Lamentierens in den Mund zu nehmen, während in nicht einmal 1.000 Kilometern Entfernung Menschen um ihr Leben, ihre Freiheit und ihre Selbstbestimmung kämpfen. Und sterben. Für all das, was wir so satt und achtlos die letzten Jahre verludern ließen: Demokratie, Freiheit, Menschenrechte, Solidarität. 
Dabei ist es nicht so, dass es nicht auch hierzulande im Angesicht sich zuspitzender Radikalität, potenziert durch die Pandemie, mahnende Worte gegeben hätte. Aber sie schienen oft lauwarm vorgetragen, eher wie eine lästige Alibihandlung, die halt erwartet wird, wenn wieder irgendwo ein populistischer Demagoge unsere Art zu leben herausforderte oder hierzulande die fundamentalsten Coronaleugner Richtung Staatsverweigerer entglitten. „Wir müssen unsere Werte verteidigen, unsere Demokratie, unsere Freiheit.“ Plötzlich haben diese Worte wieder Gewicht, das bleischwer als Auftrag auf unseren Schultern lastet. Wir müssen sie stemmen, indem wir sie endlich wieder aufrichtig mit Leben erfüllen. 
Wir müssen all die Gehässigkeit, den Zwiespalt, die Intoleranz, den Egoismus, die Gier, welche die Pandemie gnadenlos offengelegt hat, überwinden und zusammenstehen. Wir müssen begreifen, welchen unersetzbaren Wert Demokratie bedeutet, und dürfen nicht geschichtsvergessen und zynisch auf Demos von Diktatur schwafeln, während anderswo Menschen für ihren Kampf um Meinungsfreiheit unterdrückt, eingesperrt oder getötet werden. 
Wir müssen – anstatt blind irgendwelchen Trollen in die Bubble-Falle zu gehen und den Anschluss an die Gemeinschaft zu kappen – die Medien- und Meinungsvielfalt hochhalten, anstatt sie als „Mainstream“ zu attackieren. Anderswo werden Medien zugesperrt, gleichgeschaltet und bis aufs Wording hinab zensiert – eine „Invasion“ gibt es in den russischen Medien nicht, der Krieg ist eine Erfindung des Westens, und kritische Journalisten bezahlen ihren Mut, dies zu entlarven, mit dem Leben. 
Wir müssen begreifen, dass unsere Freiheit einen Preis hat und sie widerstandsfähig gegen Angriffe machen, indem wir sie ehrlich leben. Jeden Tag: Im respektvollen Umgang miteinander. In der gerechten Aufteilung des Wohlstandes. Im Schutz der Menschenrechte. Im lautstarken Eintreten für Frieden. In der Toleranz gegenüber anderen. In der Solidarität mit Schwächeren und Verfolgten.
Eigentlich wollte ich hier über den Masterplan und die Zukunft schreiben. Jetzt reden wir über die Gegenwart.