Die kleine Spitze eines Eisberges?
Text
Johannes Reichl
Ausgabe
„Die Tangente St.Pölten wirkt nach innen: Sie will die lokale und regionale Gesellschaft in ihrer Gesamtheit erreichen und auf vielen Ebenen ins Veranstaltungsgeschehen einbinden.“
Nach dem Blick von außen, interessierte uns natürlich auch der Blick der heimischen Kulturszene auf das Tangente-Festival. Dazu baten wir zahlreiche Künstler und Veranstalter um ein Statement (nicht alle wollten eines abgeben), so dass ein Stimmungsbild entstand – ein sehr inhomogenes. Bisweilen konnte man den Eindruck gewinnen, hier wird nicht von einem, sondern von verschiedenen Festivals gesprochen. Was der Tangente aber im Künstler- und Veranstalterbereich jedenfalls gelungen ist – im Gegensatz zur breiten Öffentlichkeit: Sie hat berührt, soll heißen, niemanden kalt gelassen. Folgende Fragen haben wir in den Äther geschleudert:
„Wie haben Sie die ‚Tangente‘ erlebt/wahrgenommen?“ und „Ein explizites Ziel betraf die Integration und Förderung der heimischen Künstlerszene, sowohl im Zuge des Festivals an sich als auch im Sinne einer Anschubwirkung für eine nachhaltige Weiterentwicklung der Szene über 2024 hinaus. Ist dies in Ihren Augen gelungen oder nicht gelungen?“
In diesem Artikel legen wir den Fokus vor allem auf den zweiten Aspekt und können aufgrund der Überfülle nur wenige Zitate teils ganzer „Reden“ wiedergeben, weshalb Sie diese unbedingt im Ganzen auf www.dasmfg.at nachlesen sollten. Diese fallen teils weitaus differenzierter aus, als es die einzelnen Zitate widerspiegeln mögen. In diesem Sinne: Let’s Go.
Fangen wir vielleicht beim Ursprung an. Die Bewerbung zur Europäischen Kulturhauptstadt nahm ab 2017 Fahrt auf und segelte dabei vor allem auch unter dem Banner „Teilhabe und Integration der lokalen Szene“. Ende 2019 dann die Ernüchterung – Bad Ischl wurde St. Pölten vorgezogen. Dem Schock folgte seitens der Politik die Ankündigung eines Plan B, der schließlich – neben anderen Infrastrukturprojekten im „Kulturjahr 2024“ (s. S. 26) – das „Tangente – Festival für Gegenwartskultur“ hervorbrachte. Für manche wie die ehemalige Leiterin der Bühne im Hof, Daniela Wandl, vom Datum her nicht ideal. „Ganz grundsätzlich habe ich es schade gefunden, dass die Tangente zeitgleich mit der Kulturhauptstadt 2024 stattgefunden hat – dadurch hat das Festival, nicht nur für mich, halt nie den Geschmack des ‚Nicht-Verlieren-Könnens‘ verloren.“ Vor allem blieb damit in den Köpfen aber eine Art Gleichsetzung der Tangente mit der ursprünglichen Kulturhauptstadtbewerbung – wohl ein Grundmissverständnis. Denn die hochgeschraubten (von der Politik weiterhin befeuerten) Erwartungen einer starken Einbindung der Szene konnten nicht erfüllt werden, und sollten es wohl auch gar nicht. „Ob die Integration und Förderung der heimischen Künstlerszene gelungen ist, weiß die Künstlerszene wohl besser als ich. Meinen Beobachtungen nach ist sie nicht gelungen. Ich hatte auch nicht den Eindruck, dass man sich darum große Mühe machte“, bilanziert etwa Cityflyer Chefredakteur Werner Harauer als Kenner der Szene. Tatsächlich fühlten sich viele Kunstschaffende in Folge außen vor und ignoriert. Der bildende Künstler J. F. Sochurek hat etwa seine Anläufe um Kontaktaufnahme protokolliert, nach dem 4. Mal gibt er auf. „DAS WARS DANN FÜR MICH. Dieses Nicht-Beachten entsprach sicher nicht dem ursprünglich geplanten Anspruch des Teams und des Festivals für Gegenwartskultur“, wähnt er. Ähnliche Erfahrungen machte auch Franz Rupp von der Künstlergruppe Penta, der mehrmals erfolglos versucht hat, „einen Kontakt zum seinerzeitigen Projektverantwortlichen Christoph Gurk herzustellen.“ Ernest Kienzl, Altobmann des St. Pöltner Künstlerbundes, wiederum zeigte sich im Hinblick auf den Kunstparcours „The Way of the Water“ mit seinen 23 Einzelprojekten befremdet, „dass ein einziges Team aus St. Pölten dazu eingeladen wurde und von Seiten der für die bildende Kunst Verantwortlichen keinerlei Kontakt mit heimischen Künstlern gesucht wurde.“ Auch Steve Ponta vom Szeneclub Warehouse beklagt „Unsere Erfahrung war enttäuschend: Es kam niemand aktiv auf uns zu, und es gab keine Einladung zu einem Treffen … Bei der Tangente war alles anders.“
Andere wiederum wurden zwar Teil, es bedurfte dafür aber einer gehörigen Hartnäckigkeit, wie etwa Edith Haiderer berichtet. „Hippolyt und Töchter hat mit viel Humor und unerschütterlichem Durchhaltevermögen die Teilnahme an der Stadtgalerie erkämpft.“ Filmemacherin Anita Lackenberger machte sich ebenfalls Hoffnungen „Bis diese mit Christoph Gurk – lange Gespräche, über ein Jahr keine Antworten – ernüchtert wurden. Zwischenzeitig wurde das Budget vergeben, an viele – aber nicht an die ProvinzlerInnen, vor allem nicht, wenn sie nicht Sonnenkinder, jung und alternativ waren. Es war der große Wunsch, so war der Eindruck, KünstlerInnen einzukaufen, die einen Hauch von Nichtprovinz in die Stadt bringen sollen.“
Der Name Christoph Gurk fällt immer wieder. Ein St. Pöltner Kulturdoyen ortet nicht zuletzt in dieser Personalie und weiteren einen folgenreichen Schnitzer der Verantwortlichen. „Sie, die schon so viele Intendanzen von der Auswahl her professionell gelöst haben, griffen bei jenen der Tangente in kaum vorstellbarer Weise verlässlich daneben. Leute von der muffigen ‚Spiritualität‘ des Wiener Volkstheaters u.ä., von internationalen Agenturen gepushte Player/innen, sie glaubten uns mit Tonnen von Papier, bedruckt in einer pseudo-elitären, belehrenden Diktion, überhäufen zu müssen. Sogar eine demokratieförderliche Attitüde legte man sich noch zu. Dort, wo die Tangente an ihre Zielgruppe herankam, hatte sie sich einfach an seit Jahren erfolgreiche Formate angehängt. Es stellt sich die Grundfrage, ob die tatsächlich historischen Früchte des neuen Klimas mit ‚dem Land‘ (Synagoge, ja, auch KiKuLa, Alumnatsgarten etc.) nicht auch ohne den Wanderzirkus einer Tangente vorstellbar gewesen wären.“
Kurz vor dem Festival – eigentlich ein Supergau – wurde die Zusammenarbeit mit Gurk beendet. Tarun Kade übernahm als Feuerwehr und bekam bildlich gesprochen einen Rucksack voller Verspätungen auf allen Festival-Ebenen umgehängt. „Die heimische Szene mit Ausnahme ‚Solektiv‘ wurde erst sehr spät – über großen Druck verschiedener Initiativen – zumindest peripher eingebunden“, erinnert sich Ernest Kienzl, und die Theatermacher Georg Wandl und Fritz Humer berichten „Perpetuum wurde – wenn auch sehr spät – gefragt, ob wir mitmachen. […] Phasenweise hatten wir den Eindruck, ein St. Pöltner Feigenblatt zu sein.“ Was sie wie viele empfanden: „Da war kein spezieller Bezug zu St. Pölten. Eine Art Kolonisierung der Provinz durch Berlin und München.“ Ein Terminus, der immer wieder fällt.
Selbst Martin Rotheneder, über Freiraum ein Kooperationspartner, räumt ein „Als Künstler hab ich mich nicht wahrgenommen gefühlt, ich bin auch – ebenso wie viele andere meiner Kollegen aus der lokalen Musikszene – nicht beim Tangente Festival vorgekommen.“ Den Stab bricht er aber deshalb nicht (wie im Übrigen die meisten nicht, die dem Festival durchaus auch Gutes abgewinnen konnten), weil er aus Veranstaltersicht auch um die konkrete Künstlerinvolvierung weiß. „Das Songwriting Camp hätte es ohne das Festival nicht gegeben, ebenso die Workshops im BORG, der Musikschule und der Musikmittelschule Körner. […] Das war für viele, die noch nicht so aktiv in der Szene vertreten waren, ein super Einstieg und Motivator mit relativ hohem Nachhaltigkeitswert!“ Ebenso verweist er auf „Kooperationen der Tangente mit hiesigen Artists, etwa beim StadtLandFluss, im Löwinnenhof oder am Domplatz. Aber das war aus meiner Sicht halt eben nur die kleine Spitze eines großen Eisbergs.“ Auch Autorin und Regisseurin Renate Kienzl findet, dass die St. Pöltner Szene „groß aufgezeigt hat, als man sie endlich ließ. Sonnenpark war präsent wie nie, Tipping Time war dort gut platziert, StadtLandFluss war ein Highlight des Sommers, Blätterwirbel Spezial festigte seinen Ruf als Literaturinstanz …“ Marie Rötzer, künstlerische Leiterin des Landestheaters, wo einige Kooperationsveranstaltungen umgesetzt wurden, ist ebenfalls überzeugt „Die ‚Tangente‘ hat das Kulturleben in der Stadt St. Pölten und im Land Nieder-österreich und über seine Grenzen hinweg mit vielfältiger Gegenwartskunst bereichert und befruchtet. Lokale Künstler*innen sind internationalen Gästen begegnet und haben sich gegenseitig inspiriert.“ Klaus-Michael Urban, Obmann von KulturhauptSTART verweist auf die Kooperation mit der Tangente, „bei der unser vollstes Augenmerk auf der lokalen Kulturszene lag. Mittels Open Calls haben wir unseren STARTraum für neue Ideen ausgeschrieben oder gemeinsam mit lokalen Akteur:innen neue Formate ausgearbeitet. Eine Vielzahl an Ausstellungen, diversen Performances waren das Produkt dieses Engagements.“
Einer, der in verantwortlicher Tätigkeit kurbelte, war Andreas Fränzl als Tangente-Kurator für „Stadtprojekte“. Er verweist auf Formate wie „StadtLandFluss“, „Visionale“, „Working Class Festival“ oder die „Klimakonferenz“, die aus dem ursprünglichen Kulturhauptstadtprojekt sozusagen in die Tangente mitübernommen wurden, mit klarem Fokus auch der Einbindung der lokalen Szene. „Es gab einige Open Calls wie beispielsweise den Songwriting Call. […] Ich fand es auch wichtig die lokale Künstlerschaft anzuregen sich mit den Festivalthemen, Ökologie, Erinnerung und Demokratie zu beschäftigen. Diese Themen waren auch bei der Visionale und Stadt-Galerie relevant, wo wir den öffentlichen Raum und Leerstand bespielt haben.“
Von der Visionale schwärmt die Direktorin des BORG St. Pölten, Martina Meysel, noch heute. „So ist es zur spannenden Zusammenarbeit mit dem St. Pöltner Künstler Andi Rabel, ‚rabe.anders‘, und Schüler:innen der 6. und 7. Klasse des künstlerischen Schwerpunkts des BRG/BORG St. Pölten gekommen. Die intensive Beschäftigung mit den Fragen zur Demokratie fand auf der vier Meter hohen ‚Demokratiewand‘ in der Dr.-Karl-Renner-Promenade Ausdruck.“
Diese ist noch immer zu bewundern, den Kontext zur Tangente wissen aber viele nicht, wie überhaupt zahlreiche Outputs des Festivals über die jeweilige Bubble hinaus von der Öffentlichkeit kaum registriert wurden. Während Literatin Eva Riebler, bis vor kurzem Obfrau der Literarischen Gesellschaft, mutmaßt „Wären mehr Künstler vor Ort eingebunden gewesen, wäre das Publikum gekommen. Die Ablehnung der Unsrigen und Hiesigen, im Vorfeld bereits, war eklatant“, ortet Werner Harauer u. a. auch ein Versagen der Medien. „Außer den (bezahlten) Presseaussendungen fand man kaum Lesenswertes. […] aber ohne Medien keine Vermittlung. Ohne Vermittlung keine Besucher.“ Überhaupt ist die Kommunikation oft genannter Kritikpunkt. „Die Kommunikation war furchtbar schlecht“, urteilen etwa Humer und Wandl. „Angefangen vom Programmbuch. Man wusste, dass es die Tangente gibt, denn das war überall plakatiert. Aber wenn man Informationen über etwas Konkretes brauchte, musste man schon sehr bemüht sein.“ Das Künstlerkombinat Waldorf & Statler formuliert es harscher. „Das inflationäre Verwenden vorangestellter Hashtags, interponierter Sternchen und mittlerweile zur Unerträglichkeit degenerierter Begriffe wie nachhaltig, woke und divers machen aus einfältigen Texten noch lange keine Literatur, selbst wenn sie in mittelmäßigem Englisch dargebracht werden.“
Ein anderer Aspekt, der immer wieder aufpoppt, ist die Kostenfrage. Autor und „Brache“-Herausgeber Peter Kaiser formuliert seine Sicht augenzwinkernd so: „Wer aber zürnte der geistlosen Heuschrecke, wenn sie Staub aufwirbelnd Felder kahl frisst und Wüsteneien hinterlässt? Jenem aber, der sie herbei lockte mit des Volkes Honigtöpfen, jenem aber entziehet fürderhin das Mandat. (Petr. Imp. 4.11)“ Autor und Veranstalter Thomas Fröhlich ortet frei heraus Geldverschwendung. „Für mich stellte es ein unglaublich schlecht organisiertes, übel kommuniziertes und letztendlich an der Bevölkerung und an der heimischen Szene (Ausnahmen bestätigen die Regel) vorbei produziertes Millionengrab dar, in dem ein paar woke Bobos ihren Spielplatz hatten.“
NXP-Chef und VAZ-Betreiber René Voak wiederum treibt die Frage nach dem Verhältnis von Input-Output um. „Auch wenn das Programm für den einen oder anderen interessant und ansprechend war, so muss man die Relation zwischen Budgetgröße und Programmerfolg hinterfragen. Alle anderen in St. Pölten wirkenden Kunst- und Kulturschaffenden sowie Programmgestalter bestreiten mit diesem Budget wohl über mehrere Jahrzehnte ihre Programmierung und würden es dann noch immer nicht aufgebraucht haben. Eine etwaige Nachhaltigkeit ist auch in diesem Fall mit großen nachhaltigen Kosten verbunden.“
Eine ganz andere Befürchtung in Sachen Folgewirkungen hegt Anita Lackenberger. „All die neu geschaffenen Häuser und Strukturen brauchen Heizungen, Licht und Personal, und das muss alles bezahlt werden. Da das öffentliche Geld nicht mehr wird, werden alle anderen KünstlerInnen das bezahlen.“
Philipp Hubmann von Solektiv ist dahingegen von einem nachhaltigen Schub überzeugt. „Durch die Bewerbung von St. Pölten als Kulturhauptstadt sind auch dem Sonnenpark von Stadt und Land großzügige Baugelder zugestanden worden. Der freien Szene von St. Pölten werden ab dem kommenden Frühjahr tolle Räumlichkeiten zur Verfügung stehen, die es ohne diese Förderung nicht gegeben hätte.“
Auch Andreas Fränzl verweist auf Formate, die weiterbestehen werden. „Die Tangente hat geholfen StadtLandFluss auf ein neues Level zu heben und auch in Zukunft solls weitergehen. Die Klimakonferenz mit starker Einbindung der lokalen Nachhaltigkeits-Szene in Verbindung mit Kunst und Kultur ist ebenso etwas das nach Fortsetzung schreit! Der zweite freie Szene Ort – der Löwinnenhof*, der auch als Festivalzentrum diente – bleibt auch als innerstädtischer wichtiger Kristallisationspunkt bestehen“, nennt er einige Beispiele. Wichtig sei zudem – gerade im Hinblick auf die weitere Umsetzung der Kulturstrategie 2030 –„jetzt zu evaluieren, zu reflektieren und ein Learning mitzunehmen. Wir werden diese Erkenntnisse wahrscheinlich noch brauchen können.“ Schauspielerin Veronika Polly findet es „schade, dass die heimische Kulturszene so wenig eingebunden wurde. Da hätte es Luft nach oben gegeben. Ich finde, dass das Festival zu sehr im eigenen Saft gebraten hat, und in Gesprächen mit anderen Einwohnern unserer Stadt hatte ich den Eindruck, dass dieser Saft nicht allzu vielen geschmeckt hat.“ Das ist auch die persönliche Wahrnehmung eines Szene-Urgesteins, der den „modernen Festivalbetrieb“ per se in Frage stellt. „Die Veranstalter, Verantwortlichen, Sponsoren, Fördergeld-Ausschütter, Künstler, Kuratoren, Werbe-Fuzzis feiern sich bei diesen Gelegenheiten ohnehin nur mehr selbst, da sie in ihren Ego-Blasen, abgeschottet von dem was ‚draußen in der Welt‘ vorgeht, gar nicht mehr mitbekommen, was der Kultur-Konsument will und braucht.“
Renate Kienzl resümiert dahingegen: „Ja, ich finde schon, dass die Tangente St. Pölten sehr gut tat. Es wurde Vielfalt gezeigt und gelebt.“ Und Musiker Salamirecorder hält ein abschließendes Fazit in Sachen Anschubwirkung für noch verfrüht. „Also, ob die Tangente wirklich etwas bewirkt hat in diesem Zusammenhang lässt sich aus jetzigem Stand der Zeit nicht sagen.“ Er schließt jedenfalls einen prinzipiellen Wunsch an: „Es wär halt schön, wenn sich – durch das Tangente Festival z. B. – das Publikum für Kunst und Kulturzeug vergrößert, weil das mitunter auch zu einem organischem Szenewachstum führt!“
In, sagen wir, 10 Jahren werden wir besser wissen, ob die Tangente Keim neuer, nachhaltiger Entwicklungen geworden ist oder ob sie nur eine Einjahresfliege war – ob das Glas also halbvoll oder halbleer ist.