TANGENTE - Die Außenwahrnehmung
Text
Johannes Reichl
Ausgabe
„Die Tangente wirkt aber auch nach außen: Internationale und künstlerisch anspruchsvolle Programme sprechen ein überregionales, kunst- und kulturinteressiertes Publikum an.“
Ein explizites Ziel der Politik bestand darin, mittels der Tangente die Außenwahrnehmung und das Image St. Pöltens zu heben. Um herauszufinden, ob dies gelungen ist, nahmen wir nicht nur die nackten Zahlen näher unter die Lupe, sondern wollten von renommierten (Kultur)Redakteuren wissen, ob die Tangente über das Jahr hinweg Thema im überregionalen Feuilleton geblieben war, ob das Festival in der Kulturszene wahrgenommen worden war und ob eine nachhaltige positive Wirkung auf das Außenbild der Stadt erzielt werden konnte. Nicht alle – auch schon in Teilen eine Antwort – konnten der Einladung nachkommen, weil sie die Tangente zu wenig verfolgt hatten „Es war schlicht und ergreifend viel zu viel anderes los.“ Zudem ersuchten wir eine Person an der „Tourismus-Front“, eine staatliche geprüfte Fremdenführerin, um ihre Eindrücke.
Matthias Dusini, FALTER
Der Falter hat in seiner Programmbeilage über die Highlights des Festivals berichtet. Nach den großen Geschichten im Vorfeld der Eröffnung erschienen allerdings keine ausführlichen Artikel mehr. Das lag nicht an der Qualität der Veranstaltungen, sondern an der nachlassenden öffentlichen Aufmerksamkeit. Gerade im Sommer gibt es eine Vielzahl von Angeboten, die St. Pölten Konkurrenz machten.
Was den Blick aus Wien betrifft, würde ich sagen, dass es sehr wohl Neugier gab. Das an experimenteller Kunst interessierte Festwochen-Publikum blickte nach Niederösterreich, wo einige bekannte Gruppen und Künstler aufgetreten sind. Insgesamt würde ich aber sagen, dass ein einmaliges Festival nicht ausreicht, um die Marke im Bewusstsein zu verankern. Das Image eines verschlafenen Ortes in einem konservativen Bundesland hat sich durch die Tangente indes etwas verändert. Wer hierher kam, lernte eine lebenswerte, mittelgroße Stadt mit einer ausgezeichneten kulturellen Infrastruktur kennen. Nachhaltig in Erinnerung blieb mir mein Besuch der ökologischen Initiativen im Sonnenpark. Als im September das Hochwasser überschwemmte, blieb dieses weitläufige Areal verschont. Die Wassermassen versickerten in den unversiegelten, wurzelreichen Böden.
Stefan Grissemann, profil
Man muss sich, angesichts der „Festivalisierung“ des Kulturbetriebs nicht nur hierzulande, natürlich immer fragen, welchen Sinn ein weiteres aus dem Boden gestampftes Multispartenfestival haben, was es einem zunehmend ennuyierten Kunstpublikum noch vermitteln kann. Ein leises Misstrauen gegen die Tangente hegte ich, offen gestanden, im Vorfeld durchaus – auch ihrer schwierigen Genese wegen. Mich hat dann aber die Eröffnungswoche eines Besseren belehrt. Schon der Start mit Milo Raus & Hèctor Parras Oper „Justice“ erschien sehenswert (wenn auch vielleicht zu Festwochen-nahe), und das konzentrierte Konzert der Drone-Avantgardistin Kali Malone im St. Pöltner Dom war ein kleiner Coup des Gegenwartsmusik-Kuratierens.
Am spannendsten geriet dann aber jene siebenstündige Kunst- und Performance-Wanderung, die Anfang Mai, perfekt organisiert von Caroline Barneaud und Stefan Kaegi, unter dem Titel „Shared Landscapes“ stattfand und in einer grandiosen Text- und Klangarbeit des spanischen Duos El Conde de Torrefiel gipfelte. Avancierter, zugleich unterhaltsamer kann man Kunst im Wald- und Wiesen-Umfeld tatsächlich nicht gestalten.
Die Außenwirkung der Tangente ist sicher noch ausbaufähig, der Überdruck all der anderen flächendeckenden Frühlingskulturprogramme war gerade 2024 heftig. An inspiriert kuratierten und liebevoll in Szene gesetzten Festivals wie diesem sollte man unbedingt festhalten.
Jonas Vogt, DIE ZEIT Österreich
St. Pölten lässt mich heuer nicht los. Ich hab nicht nur journalistische Storys über die Stadt geschrieben, sondern soll jetzt auch bereits zum zweiten Mal 2024 in diesem Medium meine Eindrücke aufschreiben, diesmal mit Fokus „Tangente und ihre Nachwirkungen“. Irgendwer muss es ja tun. Vorab: Das Ganze ist streng subjektiv und aus der „leicht snobistischen Perspektive eines Einwohners von Wien“ (MFG 06/24) geschrieben. Es hat über weite Strecken gar nicht den Anspruch, richtig oder falsch zu sein und ist wahrscheinlich auch nicht immer gerecht.
Sagen wir es zuerst mal freundlich: Die Tangente war ein Signal, das auch wahrgenommen wurde. Das positive Medienecho als Stadt im Aufbruch, das St. Pölten im Frühjahr genoss, hätte es ohne das Festival als Anlass nicht gegeben. Das hat Menschen erreicht, und davon bleibt sicher auch etwas hängen. Das weiß ich unter anderem deshalb, weil erst letzte Woche jemand mir gegenüber einen Witz über St. Pölten und seine Imagepolitur gemacht hat. Jetzt kommt allerdings das Aber. „Stadt im Aufbruch“ und „positives Medienecho“ sind Formulierungen, die auch aus einer Power-Point-Präsentation der Marketing St. Pölten GmbH stammen könnten. Und dahinter verbirgt sich eine etwas unangenehme Wahrheit: Außerhalb St. Pöltens wurde die bloße Existenz der Tangente vermutlich mehr wahrgenommen als ihre Inhalte.
Wer einen Blick in die überregionalen Medien wirft, wird ab Mitte Oktober zwei Rückblicke auf das Festival finden. Der Verriss von Thomas Trenkler im Kurier („Gescheiterter deutscher Nationalismus“) mag weh tun. Eigentlich noch schmerzhafter ist aber, dass der Rest eine inhaltliche Rückschau offenbar für nicht notwendig hielt und sich mit einer Agenturmeldung („Festival Tangente St. Pölten lockte 56.000 Besucher an“) zufrieden gab. Das kann der Landeshauptfrau und dem Bürgermeister gefallen, der künstlerischen Leitung eigentlich nicht. Die thematischen Schwerpunkte des Programms wie Demokratie, Erinnerung oder Ökologie strahlten nicht aus und hätten mich – ohne die Recherche, für die ich bezahlt wurde – vermutlich nicht erreicht.
In meinem persönlichen (Wiener) Umfeld und meiner Instagram-Timeline tauchte die Tangente spärlich auf. Am meisten noch mit dem (leider verregneten) Domplatzkonzert von Fever Ray. Über die Gründe dafür ließe sich diskutieren – zum Beispiel darüber, ob die kommunizierten sechs Monate Dauer das Programm nicht zu sehr streckten und es dünner ausschauen ließen, als es war –, aber das ist ein bisschen müßig. Ein Kulturfestival in St. Pölten für St. Pöltner muss auch gar nicht den Anspruch haben, die Wiener Kulturbobos zu erreichen. Aber wenn man das will, dann braucht es dafür wahrscheinlich ein paar Highlights mehr. Angeln funktioniert ohne Köder schwer.
Das Jahr 2024 hat sicher geholfen, St. Pölten als Ort, an dem Kultur stattfindet, bei mehr Menschen auf den Radar zu kriegen. Das ist nicht nichts. Damit daraus dauerhafter Nutzen entsteht, muss halt in St. Pölten jetzt auch weiter interessante Kultur stattfinden. So einfach ist das.
Heinz Sichrovsky, NEWS
Das Programm war schlicht erstklassig, vielfältig, von international konkurrenzfähiger Beschaffenheit, ich verweise partes pro toto auf Messiaen, Stadt ohne Juden, Justice. Wahrgenommen wurde es in Wien weit unterhalb seiner Bedeutung, ein Symptom des durchaus verwerflichen Eisernen Vorhangs zwischen Wien und den Bundesländern. Ich nehme mich da selbst nicht aus und fordere mich zur Abhilfe bei nächster Gelegenheit auf.
Thomas Winkelmüller, DATUM
Ich muss gestehen, mich hat die Tangente kaum berührt. Einerseits, weil ich in großen Teilen ein Kulturbanause bin. Andererseits, weil es für mein Stamm-Medium, DATUM, keinen besonderen Grund gab, eine Geschichte über das neueste Kulturangebot der Landeshauptstadt zu machen.
Ein großkopferter Zyniker könnte jetzt argumentieren, dass die Existenz eines St. Pöltner Kulturangebots allein eine Geschichte sei. Das wäre aber falsch. St. Pölten hat viel Energie darin investiert, dieses Klischee abzulegen und war damit durchaus erfolgreich. Wiener Bekannte, die es wohl nie in meine alte Heimat verschlagen hätte, posteten plötzlich Instagram-Stories vom Domplatz. Sogar „Die Zeit“, hat St. Pölten einen Text gewidmet. Das spricht für die Außenwirksamkeit der Tangente und das ordentliche Kulturangebot der Stadt. Sie hat sich mit ihrem Fortschritt aber auch eines Grundes beraubt, warum über sie geschrieben werden sollte. Der Spannungsbogen vom Gerechtigkeitskampf einer missverstandenen Stadt ist mit der Zeit überspannt und lasch geworden. Zum Glück, möchte ich argumentieren.
Vielleicht verträgt St. Pölten nun eine neue Erzählung. Kunstausstellungen und Konzerte der Tangente waren dabei sicherlich ein erster Schritt. Sie allein reichen aber nicht, um die Stadt dauerhaft näher in den Mittelpunkt der hiesigen Kulturszene zu rücken. Und obwohl ich ja wenig von Kultur verstehe und noch viel weniger von Mathematik: Der logische nächste Schritt kann also nur die Umbenennung von „Tangente“ in „Sekante“ sein. Was das für die Zukunft konkret bedeutet, sollte sich aber besser jemand anderes überlegen.
Andrea Radovan, Fremdenführerin
Ich bin Austria Guide und heuer war natürlich das „Tangente“ Festival auch bei den Stadtführungen ein großes Thema.
Ich habe das Gefühl, dass viele St. Pöltner:innen und auch Personen von außerhalb das Festival nicht richtig greifen konnten und sich in der Fülle des Programms verloren haben bzw. sich nicht vorstellen konnten, was auf sie zukommt.
Des öfteren habe ich gehört „Ich habe mir das Programm durchgelesen und eigentlich nix verstanden“. Besonders die performativen Formate waren vielen einen Tick zu schräg. Ich denke, dass etwas mehr Kulturvermittlung und eine entgegenkommendere Kommunikation geholfen hätten. „Ja, wenn man eine Erklärung dazu bekommt, ist es ja gar nicht so schlecht“ ist nur ein Statement dazu.