MFG - Zahlen, bitte!
Zahlen, bitte!


MFG - Das Magazin
St. Pöltens gute Seite

Zahlen, bitte!

Text Michael Müllner
Ausgabe 11/2024

Eingebettet in ein Jahr der Mega-Investitionen, versuchte das Gegenwartskulturfestival Tangente der Stadt ihren Stempel aufzudrücken. Die Rechnungen sind überwiesen und bevor der Letzte das Licht ausmacht, versuchen wir einen Blick auf Zahlen, Daten und Fakten. Zumindest soweit man uns lässt.

Unterm Strich und erst recht am ersten Blick sind Zahlen oft beeindruckend. Wir haben uns deshalb näher mit den Zahlen, Daten und Fakten rund um das Tangente Festival beschäftigt und nachgefragt. Bei der Abschlusspressekonferenz wurde etwa stolz darauf hingewiesen, dass von den mehr als 2.000 Künstlerinnen und Künstlern beinahe 60 Prozent lokale Künstler waren. Über tausend Künstler aus St. Pölten und Umgebung? Das hat uns überrascht, also haben wir nachgefragt, wie „lokal“ definiert wird. Antwort: „Lokal bezieht sich auf St. Pölten und NÖ und umfasst mehr als 1.000 Künstler:innen, Kurator:innen, Musiker:innen, Studierende und Mitwirkende.“ Einen genaueren Einblick wollte man uns nicht geben. 
Auch bei den Projektkosten fand die zeitgeistige Transparenz rasch ihr Ende. Wir hätten gerne anhand von Beispielen dargestellt, wie die Tangente ihre Mittel eingesetzt hat. Beispielsweise: Wie viele Personen haben das Pop-Konzert am Domplatz besucht und wie viel Geld wurde für diesen Tag aufgewendet – künstlerische Kosten, aber auch Werbekosten. Nur so lässt sich die Wirkung des Mitteleinsatzes nachvollziehen. Aber unsere Nachfragen blieben unbeantwortet. Es sei nicht üblich, über einzelne Projekte Auskunft zu geben und man habe datenschutzrechtliche Bedenken. Offenbar sollen einzelne künstlerische Performances nicht anhand ihrer Projektkosten diskutiert werden. Den kursierenden Gerüchten tut man damit freilich keinen Abbruch.
„Die Tangente St. Pölten war immer für 2024 konzipiert und als einmaliges Projekt angelegt. Diese konzeptuelle Befristung ist vergleichbar mit der Europäischen Kulturhauptstadt 2024 und dem Konzept der Landesausstellung NÖ“, hält das Festival-Team fest. Daraus ergibt sich auch, warum es keine Fortsetzung gibt. Jedoch habe das Festival in seiner Einzigartigkeit und Einmaligkeit „viele neue Impulse und Aufmerksamkeit geschaffen und war Anstoß für eine nachhaltige Weiterentwicklung St. Pöltens.“ Diese Weiterentwicklung zeigt sich auch auf zwei Ebenen. 
Einerseits verpflichten sich Stadt St. Pölten und Land NÖ zu einer verstärkten Zusammenarbeit im Bereich der Kultur. Beide teilen sich die Eigentümerrolle in der NÖ Kulturlandeshauptstadt St. Pölten GmbH, welche zukünftig das KinderKunstLabor betreibt. Die Stadt beteiligt sich zudem mit 26 Prozent an der Landestheater NÖ Betriebs GmbH. Und sie stockt die Anteile an der bestehenden NÖ Kulturszene Betriebs GmbH auf mindestens 20 Prozent auf – diese betreibt das Festspielhaus sowie die Bühne im Hof. Zu diesen gesellschaftsrechtlichen Verflechtungen kommen zukünftig unbefristete Förderverträge. 
Andererseits werden einzelne Formate wie die Bespielung des Domplatzes, „StadtLandFluss“ und das Nachhaltigkeitsfestival weiterhin von Stadt und Land gefördert und finden sowohl eine Fortsetzung. Auch das Festivalzentrum in der Linzerstraße soll als Löwinnenhof Bestand haben, ein Dachverein soll die zukünftige Nutzung gestalten.

BUDGET
Wer hat’s gezahlt?
17,6 Millionen Euro hat das Festival gekostet, Stadt St. Pölten und Land NÖ teilten sich im Wesentlichen die Kos­ten und steuerten jeweils 8,125 Millionen Euro bei. Rund eine Million kam durch Eigenmittel ins Tangente-Budget, beispielsweise durch Ticketerlöse, Drittmittel sowie durch Sponsoring: WKNÖ, EVN, Wiener Städtische und Fernwärme St. Pölten waren die Sponsoren (und sind Großteils auch im öffentlichen Eigentum). Zusätzliche 375.000 Euro schoss die Stadt als Sonderförderung für die Bespielung des Domplatzes mit Kunst im öffentlichen Raum zu: „Ein Bad für Florian“ von Christian Philipp Müller und „Dead, I Am Still Paper“ von Mariana Castillo Deball.

Wohin floss das Geld?
Rund 56 Prozent dieses Budgets (das sind 9,8 Millionen Euro) flossen in künstlerische Projekte, wovon die größten der Kunstparcours, die Oper „Justice“ und die Domplatz-Konzerte samt projektbezogenem Personal darstellten. Für Marketing und Kommunikation wurden 11,4 Prozent aufgewendet (2 Millionen Euro). Die Personalkosten beliefen sich auf 4,8 Millionen Euro oder 27 Prozent des Budgets. Im Durchschnitt waren 43,6 Vollzeitäquivalente beschäftigt, da nicht jeder Vollzeit arbeitet, waren es naturgemäß mehr Personen, 97 in der Spitzenzeit Ende Juni 2024. Rund 1 Million Euro oder sechs Prozent des Budgets wurden für allgemeinen Sachaufwand aufgebraucht.

BESUCHERINNEN UND BESUCHER
Wer war dabei?
Das Tangente-Team spricht von 56.000 Besuchern, wobei 35.000 Besucher auf Eigenveranstaltungen des Festivals entfielen. Rund 12.000 Besucher zählte man im Festspielhaus, dem Landestheater, der Bühne im Hof und dem Stadtmuseum – dabei trat die Tangente als Kooperationspartnerin der jeweiligen Projekte in Erscheinung. Rund 9.000 Besucher wurden bei Veranstaltungen der Vermittlung und im Festivalzentrum gezählt. Nicht mitgezählt sind Besucher der Projekte im öffentlichen Raum (Kunstparcours, Kunst am Dom, Stadt-Galerie) sowie von Workshops und Communityprogrammen. Anfangs waren 75 Projekte und 250 Vorstellungen geplant, umgesetzt wurden 130 Projekte mit 450 Vorstellungen, zahlreiche Workshops seien dabei nicht mitgerechnet worden, wie die Tangente betont. Rund 60 Prozent der 450 Vorstellungen waren bei freiem Eintritt zu besuchen. Die Auslastung lag bei 74,3 Prozent, Vorstellungen bei freiem Eintritt wurden nicht mitberechnet. Bei Vorstellungen mit Eintritt betrug der Anteil der zahlenden Besucher 70,2 Prozent. Von den 2.000 teilnehmenden Künstlern kam mehr als die Hälfte aus NÖ.

STUDIEN
Als die Tangente verabschiedet wurde, präsentierten die Verantwortlichen von Stadt und Land auch Zahlen und Statistiken rund um das Kulturjahr 2024.Im Auftrag des Landes NÖ erhob das Economica Institut für Wirtschaftsforschung „Das Kunst- und Kulturland NÖ aus ökonomischer Perspektive – Kultur St. Pölten 2024“. Die öffentliche Hand investierte im Jahr 2024 in den Kulturbereich rund 110 Millionen Euro. Von diesen flossen rund 55 Millionen Euro als einmalige Kosten in Investitionsprojekte, beispielsweise die Errichtung des KinderKunstLabors, den Grillparzer Musik- und Kunstschulcampus, die Sanierung der ehemaligen Synagoge, in neuen und alten jüdischen Friedhof, die Stadtbücherei, den Altoona-Park und Alumnatsgarten, das Stadtmuseum sowie diverse Ausstellungen und Instandhaltungsarbeiten an bestehenden Einrichtungen wie dem Festspielhaus oder Klangturm. 15 Millionen Euro flossen in Infrastrukturprojekte, die Neugestaltung des Domplatzes samt Archäologie, den Europaplatz sowie die Neugestaltung des Promenadenrings (Grüner Loop). Zu diesen 70 Millionen Euro rechnen die Wirtschaftsforscher rund 40 Millionen Euro, die aus Kulturförderungen durch die öffentliche Hand ausgegeben wurden plus 6 Millionen Euro, die von den Kulturinstitutionen selber aufgebracht wurden, etwa durch Ticketerlöse oder Sponsoring. Insgesamt kommt man so auf 116 Millionen Euro, davon 110 Millionen von Steuergeld. Das Land NÖ nimmt an, dass rund 300.000 Besucher im Jahr 2024 die Angebote genutzt haben. Diese Privatpersonen aktivieren laut Economica Institut weitere 29,4 Millionen Euro, beispielsweise für Anreise, Verpflegung und Nächtigung. Die aus all diesen Ausgaben generierte Bruttowertschöpfung beläuft sich in Summe auf 114,7 Millionen Euro, womit „die Gesamtwirtschaft fast in der gleichen Höhe von den 110 Millionen Investition der öffentlichen Hand profitiert hat“, wie die Studienautoren erläutern. Die öffentliche Hand habe zudem in Höhe von 43,6 Millionen Euro durch fiskalische Effekte profitiert, das sind beispielsweise Steuern und Abgaben, die wieder in die Taschen von Bund, Ländern, Gemeinden, Sozialversicherungsträgern oder öffentlichen Körperschaften geflossen sind. Zudem sei der positive Effekt auf die Beschäftigung beträchtlich gewesen und habe das Ausmaß von 1.329 vollzeitäquivalenten Arbeitsplätzen entsprochen (899 davon alleine in NÖ).

GENUG GEFEIERT, AB INS BETT!
In der Nächtigungsstatistik freut sich St. Pölten über ein Viertel mehr Nächtigungen. Aber hat das mit der Tangente zu tun? Nach den Jahren der Pandemie entwickelte sich der städtische Tourismus in den letzten Jahren positiv, Anreisen und Nächtigungen stiegen. Daher versprach man sich durch das Tangente-Festival einen weiteren Schub an Gästen, einerseits durch Mitwirkende, die in St. Pölten absteigen, andererseits durch Besucher, die auch in St. Pölten übernachten. Bei der Abschlusspressekonferenz zum St. Pöltner Kulturjahr unterstrich St. Pöltens Bürgermeister Matthias Stadler die positiven wirtschaftlichen Effekte: „Die Entwicklung kann sich sehen lassen – ebenso die Zahlen, die das untermauern. Von Jänner bis September 2024 etwa stiegen im Vergleich zum Vorjahr die Nächtigungszahlen um 26,5 Prozent“. 

Wer sich mit der lokalen Hotellerie beschäftigt, der war ob dieses sprunghaften Anstiegs überrascht. Mehr als ein Viertel mehr Nächtigungen? Da es keine Neueröffnungen gab und die Betriebe schon bisher eine hohe Auslastung haben, stellt sich die Frage: Wo haben all diese Gäste denn geschlafen? Die Antwort ist einfach: Am Traisenstrand. Denn seit heuer sind auch für kurzzeitig eingerichtete Campingflächen 2,50 Euro pro Person an Nächtigungstaxe zu entrichten. So sieht es das im Vorjahr novellierte NÖ Tourismusgesetz vor. Das jährlich im August stattfindende Frequency-Festival begrüßt täglich knapp unter 50.000 Gäste, ein großer Teil davon campiert an der Traisen und floss somit als gewaltiges Plus in Höhe von 41.715 Übernachtungen oder rund 14.000 zusätzlichen Ankünften in die Nächtigungsstatistik ein. Die Frequency-Camper waren freilich in den Vorjahren in gleicher Zahl zu Gast, nur wurden sie bisher eben nicht gezählt. Bereinigt man diesen „Ausreißermonat“ August und schaut man sich die Entwicklung des Jahres 2024 nur von Jänner bis Juli an (der September ist wiederum durch das Hochwasser nicht aussagekräftig), so wird klar: Der Tangente-Effekt ist überschaubar. Unterm Strich bleiben 1,3 Prozent mehr Nächtigungen, das sind in absoluten Zahlen 1.372. Die Anzahl der Nächtigungen stieg immerhin um 3.831 oder 7,3 Prozent. In der Eröffnungsphase des Festivals, den Monaten April und Mai 2024, gab es bei den Ankünften im Durchschnitt ein monatliches Plus von 955 Personen. Der Effekt ließ in den wärmeren Monaten nach, so waren im Juni und Juli die Übernachtungen sogar niedriger als im Vorjahr. 

Doch ist das Plus wirklich auf die Tangente zurückzuführen? Da die Gäste nicht explizit gefragt werden, weshalb sie nach St. Pölten kommen, ist darüber keine valide Aussage möglich. Fix ist laut Stadt St. Pölten jedoch, dass 2.900 Übernachtungen auf Künstler zurückgehen, diese wurden von der Tangente, dem Festspielhaus und dem Landestheater eingebucht. Wie groß der touristische Effekt durch die Tangente war, lässt sich auch deshalb schwer anhand der Statistik sagen, weil darin Tagestouristen nicht erfasst sind – diese schlafen schließlich nicht in einem Beherbergungsbetrieb. Eine Imagestudie des St. Pöltner Tourismusbüros ergab, dass beim Popkonzert am Domplatz im Juli 2024 viele Personen das erste Mal in ihrem Leben nach St. Pölten kamen. Kultur und Gastronomie sind zudem bei St. Pöltner Touristen beliebte Gründe für den Besuch. Die zukünftige Tourismusstrategie der Hauptstadtregion soll auf diese Erfahrungen aus dem Tangente-Jahr aufbauen. Dabei stützt man sich auch auf die Studie „Stadt.Kulturmonitoring St. Pölten“ von marketmind, die im Zeitraum von Oktober 2023 bis September 2024 erhoben wurde. Gefragt wurde unter anderem, wie gut gewisse Aspekte auf St. Pölten zutreffen würden. Als Top-Image-Aspekt wurde mit 55% der Aspekt „Festivals und Veranstaltungen“ genannt. Zudem würden Personen, die St. Pölten schon mal besucht haben, ein sehr hohes Potential zeigen, die Stadt neuerlich zu besuchen. Kunst und Kultur passe hier zur Positionierung als Destination für Ausflüge und Kurzurlaube. 

ÜBERNACHTUNGEN IN ST. PÖLTEN VERGLEICH 2023/2024

... analoge Beiträge:

Foto Nasnunt - stock.adobe.com

Dies zum einen, weil man den Terminus Kulturhauptstadt als möglichen Affront gegenüber Bad Ischl hätte (fehl)interpretieren können und nicht als schlechter Verlierer dastehen wollte. Zum anderen wurde der Claim „Kultur St. Pölten 2024“ erst so richtig forciert, als das neu im Entstehen befindliche Festival Tangente mit dem Abgang des künstlerischen Leiters nicht einmal ein Jahr vor dem offiziellen Start für schlechte Schlagzeilen sorgte. In der Wahrnehmung der Bürger war die  ...


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Nach dem Blick von außen, interessierte uns natürlich auch der Blick der heimischen Kulturszene auf das Tangente-Festival. Dazu baten wir zahlreiche Künstler und Veranstalter um ein Statement (nicht alle wollten eines abgeben), so dass ein Stimmungsbild entstand – ein sehr inhomogenes. Bisweilen konnte man den Eindruck gewinnen, hier wird nicht von einem, sondern von verschiedenen Festivals gesprochen. Was der Tangente aber im Künstler- und Veranstalterbereich  ...


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Sie hat ein bisserl gefremdelt die Tangente, sagen die St. Pöltner. Nein, nicht, weil importierte Organisatoren und Projektgestalter fürs Programm gesorgt haben. Auch nicht, weil – wenige – heimische Künstler nur im Abspann des Fes­tivals für Gegenwartskultur mitmachen durften. Gefremdelt hat die Tangente, weil sie mit nieder­österreichischer Gegenwartskultur wenig Schnittmenge hatte, nicht angedockt hat an die Menschen in der Stadt. Wenn ich begeistern will, wenn ich Menschen  ...


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Ein explizites Ziel der Politik bestand darin, mittels der Tangente die Außenwahrnehmung und das Image St. Pöltens zu heben. Um herauszufinden, ob dies gelungen ist, nahmen wir nicht nur die nackten Zahlen näher unter die Lupe, sondern wollten von renommierten (Kultur)Redakteuren wissen, ob die Tangente über das Jahr hinweg Thema im überregionalen Feuilleton geblieben war, ob das Festival in der Kulturszene wahrgenommen worden war und ob eine nachhaltige positive  ...


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Der kulturelle Hobbyflieger
Unser anonymer Tester ist männlich, mittleren Alters. Er hat seine Gattin zu einigen Tangente-Veranstaltungen begleitet. Seine persönliche Einschätzung des Festivals: 
„Es waren großteils sehr ungewohnte Veranstaltungen, eher für ein Nischenpublikum geeignet und insgesamt zu umfangreich für die Einwohnerzahl St. Pöltens. Positiv formuliert: Es war mal was Neues in der Stadt.“ Angesehen hat sich unser kultureller Hobbypilot  ...


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Zum Geleit
Im Grunde genommen mutet(e) es wie ein Kampf gegen Windmühlen an: Das Tangente Festival im Nachgang zu beleuchten ist so komplex, dass man wohl nie alle Aspekte einfangen kann, zumal mit dem Anspruch, es vor allem ausgewogen zu tun, was angesichts der teils diametral entgegengesetzten Wahrnehmungen zum Scheitern verurteilt scheint. Wir versuchten es trotzdem – immerhin war die Tangente Teil des, wie es die Politik formulierte, „größten  ...