MFG - Heimliche Weihnachten - Von Heimkindern und Marias ohne Gnaden
Heimliche Weihnachten - Von Heimkindern und Marias ohne Gnaden


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St. Pöltens gute Seite

Heimliche Weihnachten - Von Heimkindern und Marias ohne Gnaden

Text Althea Müller
Ausgabe 11/2006

Das anstehende Fest der Liebe wird nicht immer im Kreis der Familie begangen – v. a. wenn es eine solche gar nicht gibt. Ist man in St. Pölten dann trotzdem gut aufgehoben? Ein nach frischer Bäckerei duftender Lokalaugenschein im Mutter-Kind-Heim und ein ausführlicher Katzensprung zur hiesigen Jugendwohlfahrt gaben Antworten. Und hauchten den so selbstverständlich – wenn nicht gar lästig – anmutenden Kerzen, Kirchgängen und Konsumzwängen „traditioneller Familien“ plötzlich ein wenig mehr Wert ein...

HERBERGSSUCHE OHNE JOSEF
Kann es im Mutter-Kind-Heim, wo zurzeit sieben Frauen mit ihren Kindern leben, überhaupt Adventstimmung geben? Frau Gramer – die Familienhelferin, die gemeinsam mit den Sozialarbeiterinnen die Mütter und Kinder betreut – sprach mit mir darüber, rettete zwischendurch einen Kuchen aus dem Rohr der Gemeinschaftsküche und führte mich durch jene Räumlichkeiten, in denen Hoffnung und deren Losigkeit Tür an Tür wohnen ...
Wann kommt eine Frau zu Ihnen?
Manchmal finden Frauen zu uns, die zwar verheiratet sind, aber daheim solche desolaten Verhältnisse haben, dass wir ihre letzte Anlaufstelle sind, bevor ihnen das Jugendamt die Kinder wegnimmt. Meist aber kommen junge Mädchen, die schwanger sind und niemanden haben.
Wann sind die Probleme am größten?
Viele junge Mütter sind selbst Heimkinder – sind im Heim schwanger geworden und suchen bei uns Hilfe. Andere kommen z.B. aus Behindertenheimen, um bei uns in Ruhe ihr Kind zu bekommen. Oft sehen sie nach der Geburt aber, dass sie es nicht schaffen können. Das ist dann natürlich hart: Muttergefühle sind Muttergefühle – keine Frau trennt sich leicht von ihrem Baby!
Sie sind seit zehn Jahren hier. Wie beurteilen Sie die Situation in St. Pölten?
Es wird schlimmer. Vor allem, weil die Wohnungen hier immer teurer werden. Eine alleinstehende Frau mit Kind kann sich das immer schwerer leisten. Wir kämpfen mit Platzproblemen. Allerdings gibt es mittlerweile außer uns nicht nur das „Haus der Frau“, sondern auch eine Frauengruppe von der Emmaus. Und wir selbst ziehen nächstes Jahr in ein größeres Haus
Eine sehr junge, sehr dünne Frau bringt uns kurz ihren etwa 18monatigen Sohn. Er ist gut drauf, spielt mit meiner Tasche, deren Unterhaltungspotential allerdings zu wünschen übrig lässt, und krabbelt dann bei Frau Gramer auf den Schoß.
Sie sind augenscheinlich die gute Seele?
Wir alle versuchen es, sind aber weder Mutter noch Oma, und die Frauen müssen auch nicht unsere Freundinnen sein. Wir betonen auch immer: „Es ist DEIN Kind, es gehört zu DIR.“
Das ist sicher schwierig, wenn Sie ein Kind und seine Mutter dann wieder verlassen?
Es ist eine Freude für mich, wenn ich sehe, dass eine Mutter bei uns ausziehen und draußen ihr eigenes Leben beginnen kann. Solange die Frauen und Kinder da sind, begleiten wir sie nach bestem Wissen und Gewissen. Aber die Kinder gehören nunmal zu ihren Müttern. Natürlich habe ich das anfangs auch erst lernen müssen.
Gibts sowas wie Adventsstimmung?
Aber ja! Draußen hängt schon unser Adventskalender, der gehört nur noch befüllt. Wir haben auch einen Adventskranz, und wir laden die Frauen ein, mit uns zu basteln – oder zu backen. Die meisten Mütter kennen das ja gar nicht. Haben noch nie zuvor Kekse ausgestochen.
Wie wird Weihnachten gefeiert?
Wir haben einen Christbaum, und es gibt für alle Frauen Geschenke – etwas Praktisches für den Haushalt, Supermarkt-Gutscheine oder eine Spardose mit einem kleinen Geldbetrag. Und die Kinder bekommen natürlich auch alle etwas .
Das Weihnachtsfest an sich stelle ich mir aber doch etwas traurig vor?
Nein, nein! Die Frauen sind nicht traurig, dass sie bei uns sind. Sie akzeptieren es, und jede Frau mit Kind ist ja eigentlich in sich eine kleine Familie. Und bei uns sind sie sicher besser aufgehoben. Ich hatte schon öfters Dienst zu Weihnachten – mit vielen ist es wunderbar, zu feiern. Wir kochen dann gemeinsam. Es gibt aber auch Frauen, die sich mit aller Macht dagegen sträuben. Einfach deshalb, weil sie das so noch nie mitbekommen haben – sie haben das nie gespürt in ihren Familien, haben keine Ahnung von Weihnachten.
Und was tun Sie dann?
Wir können sie nur begleiten. Trösten. Ihnen zeigen, dass es auch anders geht: beisammen sitzen, Kerzen anzünden, ein bisschen singen... Es geht ja nicht um großartige Geschenke.
Bei der „Führung“ kommt mir das mehrstöckige Haus wie eine sehr große WG vor. Bei einer Tür klopfen wir an, doch Mutter und Baby schlafen. Also weiter. Das kleinste Zimmer, „die absolute Notunterkunft“ hat gerade mal 8qm. Ein Fenster, ein Bett, eine Wiege... Keine 4 Sterne. „Aber wenigstens sicher!“ schießt es mir durch den Kopf.
Es gibt mehrere Gemeinschaftsküchen. Sie strahlen auf spröde Art und Weise Geborgenheit aus: Kochen, Essen, Abwaschen – Normalität! An manchen Fenstern stehen übervolle Aschenbecher. Eine Mutter – jünger als ich – räumt gerade auf.
An der Wand hängt der Adventskalender des Wohnheims. Die einzelnen Filzstiefel sind mit Aufklebern versehen, auf denen die Namen der Klientinnen stehen. Gehören nur noch befüllt... Ich will nach Hause.
KEINE KINDERFÄNGER IN STP
Schreckenswort „Kinderheim“: Gänsehaut prickelt auf. Längst totgeglaubte Kindheitsalpträume kehren zurück. Aber wie sieht das eigentlich in der Realität aus? Konkret: in St. Pölten? DSA Gerhard Karner, Leiter der Jugendhilfe, gab geduldig Auskunft und hat das Schreckgespenst gezähmt...
Inwieweit kümmern Sie sich um Kinder aus problematischen Familienverhältnissen?
Das Wichtigste zuerst: die Jugendwohlfahrt ist nicht mehr das, was sie vor 15, 20 Jahren war – da wurde sie noch als Eingriffsbehörde gesehen und gefürchtet.
Ach?
Da kamen tatsächlich solche berüchtigten Nacht-und-Nebel-Aktionen vor, dass ein Kind mitten in der Nacht von daheim weggenommen und einfach in irgendein Heim in der Pampa gebracht wurde, weil das Jugendamt das beschlossen hatte. Das alles gibt es heute nicht einmal mehr im Ansatz. Es gab Umschichtungen, zwei Gesetzesänderungen. Die Ausbildung unserer Sozialarbeiter hat sich verändert, das Engagement und die Einstellung ist anderes geworden. Heute zählt der Grundsatz, möglichst im Einverständnis mit allen Beteiligten die beste Lösung zum Wohl des Kindes zu finden – Zielerreichung mit möglichst gelinden Mitteln, sozusagen.
Heißt?
Die Fremdunterbringung von Kindern befindet sich stark im Rückgang, ist immer die letzte Institution. Abgesehen davon, dass dadurch viel Leid verhindert wird, kommt die ambulante Betreuung und Versorgung auch sehr viel günstiger als ein letztendlicher Heimplatz. Es gibt nicht mehr diese Heime, in denen 20 Kinder in einem Zimmer schlafen. Doch je kleiner die Gruppen, desto mehr Betreuer, und desto höher natürlich auch die Kosten: die Tagsätze für eine Unterbringung variieren zwischen 900 und 2.200 Euro.
Das zahlen dann die Erziehungsberechtigten?
Unmöglich. Wir finanzieren die Unterbringungskosten aus unserem Budgettopf über die Jugendwohlfahrtsumlage (50 % Land, 50 % Gemeinden). Bestenfalls erhalten wir dann Teilkosten von den Obsorgeberechtigten (Eltern) rückerstattet... Aus diesen Gründen wird heute also verstärkt auf Prävention gesetzt – anstatt erst dann alles reparieren zu wollen, wenn bereits Feuer am Dach ist.
Und wie?
Auch, wenn die Probleme im Familienbereich heute größer denn je sind, ist die Versorgung eine bessere: es gibt viel mehr Beratungsstellen und Möglichkeiten, um Familien in Notsituationen aufzufangen, z.B. die sogenannte Sozialpädagogische Familienintensivbetreuung – eine Einrichtung, bei der Sozialarbeiter, Therapeuten zu den Familien kommen und mit Familien zusammenarbeiten. Kostenlos. Darüber hinaus ist auch die finanzielle Unterstützung einer Familie im Rahmen sozialer Dienste denkbar. Weiters bieten wir Rechtsbeistand, z.B. zur Einbringung von Unterhaltszahlungen und führen auch Unterhaltsbevorschussung durch.
Was sind denn Ihrer Meinung nach die Hauptprobleme in der Familie von heute?
Die Probleme, mit denen wir als Jugendhilfe konfrontiert sind, haben selten nur eine Ursache, vielmehr haben wir es oft mit Multiproblemfamilien zu tun! Oft beginnt es mit dem zu geringen Einkommen oder der Arbeitslosigkeit zumindest eines Elternteiles, dann kommt vielleicht das Abrutschen in eine Sucht wie Alkohol dazu, was wiederum als Beispielwirkung an die Kinder weitergegeben wird... Mit anderen Dingen wie z.B. Lernschwierigkeiten des Kindes o.ä. befassen wir uns selten - das sollte mittlerweile bereits in den Schulen abgefangen werden.
Arbeiten Sie mit den Schulen zusammen?
Die Zusammenarbeit mit den Schulen ist gegeben, häufig aber auch von den handelnden Personen (Direktoren, Lehrpersonal) abhängig. Seit einigen Jahren gibt es Schulsozialarbeit und natürlich wird sie von uns gefördert.
Aktuell wird aber nach wie vor an der Verbesserung unserer Kooperation mit den Schulen gearbeitet: eine gute Netzwerkarbeit ist das Wichtigste! Prinzipiell besteht ja für alle lehrbeauftragten Institutionen, also Schule, Kindergarten etc. Meldeverpflichtung. Leider nimmt es aber nicht jeder immer so ernst mit dieser Verpflichtung...
Wie ist das im Krankenhaus?
Misshandelte Kleinkinder oder solche, bei denen der Verdacht besteht, werden zuerst in der dortigen Kinderschutzgruppe aufgenommen und betreut, während wir als Jugendhilfe den sozialen Hintergrund beleuchten – natürlich das familiäre Umfeld, aber auch Kindergarten oder Schule. Je nach Ergebnissen dieser Erhebungen entscheiden wir dann weiter.
Und wenn ein Kind nun also wirklich nicht mehr in der Familie bleiben kann?
Ein Heimaufenthalt, wenn gar nicht anders möglich, soll immer so kurz wie möglich gehalten werden. Wenn wir ein Kind erst einmal in einer Einrichtung vom Land NÖ, einer Privateinrichtung oder auch bei Verwandten untergebracht haben, arbeiten wir darum verstärkt in Richtung „Rückführung“ weiter. Manche Kinder aber betreuen wir auch bis zur Volljährigkeit. Das sind dann die drastischsten Fälle.
Wo sind die Kids in St. Pölten untergebracht?
Die Fremdunterbringung erfolgt auf Grund der Heimstruktur des Landes NÖ häufig außerhalb der Stadt. In St. Pölten arbeiten wir stark mit „Rettet das Kind“ zusammen - hier werden in Niederösterreich mehrere familienähnliche Außenwohngruppen betrieben, ähnlich dem SOS-Kinderdorf, wo die ganz Kleinen bis hin zu den Jugendlichen mit BetreuerInnen in Häusern leben.
In der Stadt gibt’s gar nichts?
Es ist nun denkbar ungünstig, wenn ein Mädchen, das gerade die 3. HAK in St. Pölten besucht, aufgrund familiärer Schwierigkeiten gänzlich aus seinem Umfeld gerissen wird. Für Fälle wie diese haben wir uns für zumindest eine Jugend-WG in St. Pölten stark gemacht. Sie wird seit einigen Jahren unter dem Namen „Airbag“ von „Rettet das Kind NÖ“ betrieben und von der Jugendhilfe und der Stadt St. Pölten unterstützt.
Sie leiten das Referat seit sieben Jahren. Ist es nicht schwierig, Abstand zu halten?
Schicksale von Menschen können einen natürlich nicht kalt lassen, aber Abgrenzung ist sehr wichtig: Wer sich im Sozialbereich nicht abgrenzen kann, macht die Arbeit sicher nicht lange und ist nach fünf Jahren „ausgebrannt“. Aber natürlich schaue ich mir in meiner Freizeit dann nicht unbedingt noch so etwas wie „Vera“ an. Wobei die Situationen in solchen Sendungen ja häufig sehr verzerrt gebracht werden ...