MFG - Der Zug fährt ab!
Der Zug fährt ab!


MFG - Das Magazin
St. Pöltens gute Seite

Der Zug fährt ab!

Text Eva Seidl
Ausgabe 09/2010

Während sich aktuell Stadt und ÖBB angesichts des gelungenen Bahnhofsumbaus sowie ebensolcher Vorplatzgestaltung selbst feiern und Rathaus-Pressesprecher Martin Koutny völlig zurecht konstatiert „St. Pölten ist ein eigenständiges und absolut herzeigbares Projekt“, scheint auf einer anderen „Bahnlinie“ noch nicht alles auf Schiene zu sein.

Und zwar im Hinblick auf das viel weitreichendere Vorhaben „Neue Westbahn.“ Nach ihrer Fertigstellung 2012 wird man in 25 Minuten von St. Pölten nach Wien gelangen. Für Raum- und Verkehrsplaner Reinhold Deußner, Vorstandsobmann des Österreichischen Instituts für Raumplanung, „ein Meilenstein in der St. Pöltner Stadtentwicklung, da St. Pölten nunmehr zu einem Vorort von Wien wird!“ Und das bringt aus Sicht des Experten ausschließlich Vorteile. „Einerseits erreichen die Pendler durch die Halbierung der Fahrtzeit schneller Wien, andererseits wird auch für St. Pölten ein größeres Arbeitsmarktpotential erschlossen, da der hiesige Arbeitsmarkt nun auch für Wiener reizvoller wird. Dies führt zu einer Standortaufwertung, die Stadt wird auch für neue Betriebsansiedlungen interessanter.
Die Region St. Pölten wird zudem als Wohnungsstandort für Wiener attraktiv werden, was allerdings auch vom Grundstücksangebot abhängt.
Schließlich wird der Dienstleistungssektor eine enorme Aufwertung erfahren, da für diesen die Verbindung der Bahn relativ wichtiger ist als für Industriebetriebe!“
Heißer Dampf
Das klingt nach Goldenen Zeiten. Zwar weiß man auch seitens der Stadt um diese Chancen, aber das scheint sich aktuell eher im passiven Artikulieren von Selbstverständlichkeiten, denn im offensiven Setzen konkreter Planungs-, oder gar Handlungsschritte zu manifestieren.
Klopft man etwa beim Stadtmarketing oder der Stadtplanung an, wird man schnell an die Pressestelle weiterverwiesen, die einen mit stereotypen Allerwelts-Floskeln abspeist á la: „Zweifellos wird der Bau der Hochleistungsstrecke mehr Lebensqualität und eine entscheidende Verbesserung der Infrastruktur bringen. Durch den Umstand, dass St. Pölten dann ‚näher an Wien heranrückt‘ und durch den Vorteil, dass St. Pölten damit von der Zugehörigkeit zu Österreichs einziger Metropolregion noch mehr profitieren wird, ist mit einem beständigen Bevölkerungszuwachs zu rechnen“. Und weiter heißt es im Sonntagsredenjargon: „Es gibt aber viel mehr, das St. Pölten so anziehend macht: beste Lebensqualität, tolle Infrastruktur, hochwertiges und abwechslungsreiches Kultur- und Freizeitangebot...“, bla, bla, bla.
Nicht, dass dies nicht alles zutreffen würde. Nur, wie man sich eben konkret verkauft, welche Tools man anwendet, um etwa Wiener zu erreichen oder St. Pöltner zu halten, wie die Auswirkungen der Westbahn in Raumplanung, Bevölkerungsprognosen, Wohnraumangebot & Co. einfließen, erfährt man nicht – wohl weil es diesbezügliche konkrete Planungen (noch) gar nicht gibt.
Geradezu grotesk wird es, wenn man abschließend bemerkt: „Grundsätzlich ist die Entwicklung der Stadt im Visionsprozess 2020 und im Masterplan von Bürgermeister Mag. Matthias Stadler klar definiert.“ Im mitgeschickten Konvolut findet sich außer Überschriften, vagen Absichtserklärungen und der Zusammenfassung bereits angebahnter oder bestehender Entwicklungen absolut nichts an Substanz.
Einzig Christoph Schwarz von ecopoint, der Wirtschaftsservicestelle der Stadt St. Pölten, scheint sich so seine Gedanken zu machen. „Wir versuchen uns auf die neuen Chancen vorzubereiten. So wird Bürgermeister Stadler gemeinsam mit St. Pöltner Unternehmern im Oktober nach Potsdam und Berlin reisen. Dort sind die Gegebenheiten ähnlich wie bei uns: Berlin als Hauptstadt ist umgeben vom Bundesland Brandenburg. Von Potsdam, der Hauptstadt Brandenburgs, ist man mit der Schnellbahn in weniger als 30 Minuten in Berlin. Wir treffen bei dieser Reise mit zahlreichen Experten zusammen. Mit Ministerpräsident Platzeck sowie Unternehmern aus Brandenburg werden wir über die ‚Chancen zweier Landeshauptstädte im Windschatten zweier Weltstädte‘ diskutieren.“
Im Warteraum
Auch andere Institutionen bleiben im Vagen. Wirtschaftskammer-Bezirksobmann Norbert Fidler etwa freut sich über die Fahrtzeitverkürzung „die vor allem große Vorteile für die Arbeitnehmer, die nach Wien auspendeln, bringt. Es ist zu erwarten, dass diese Zahl steigen wird“ Zudem führt er aus, „werde für Geschäftsleute die Benützung der Bahn attraktiver!“, um abschließend seiner Hoffnung Ausdruck zu verleihen, „dass der Standort St. Pölten durch diese Neuerungen generell an Attraktivität für Wirtschaftstreibende gewinnt.“ Was die Kammer dazu konkret beitragen möchte, gerade auch im Hinblick auf die neue Verkehrssituation, erfährt man nicht.
Gleich überhaupt keinen Handlungsbedarf sieht die Arbeiterkammer – nebstbei als eine der letzten großen Institutionen nach über 20 Jahren Hauptstadt noch immer nicht mit ihrer Landeszentrale vorort. So meint Bezirksstellenleiter Andreas Windl: „Wir treffen speziell keine Vorbereitungen. Die Pendler werden halt besser heraus kommen, aber ich glaube nicht, dass dies große Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt in St. Pölten haben wird. Ich habe keine großen Erwartungen.“
Schublok gefordert
Wie man an die Sache herangehen müsste, das vermitteln wahre Profis, die nicht nur konkrete Antworten geben und sinnvolle (Planungs)Fragestellungen in den Raum stellen, sondern – wohl eingedenk des bisweilen beobachtbaren St. Pöltner Schlendrians bei der aktiven Nutzung sich auftuender Chancen – auch alle Protagonisten zum konkreten Handeln auffordern. So meint etwa Immobilienprofi Georg Edlauer im Hinblick auf die zahlreichen tollen Skills, die St. Pölten bietet, die aber eben auch dementsprechend kommuniziert gehören. „Klar muss uns sein: Diese Änderung der Wahrnehmung wird ein Prozess sein, der nicht von heute auf morgen stattfinden wird, und der unser aller Anstrengung bedarf, diese Botschaft zu transportieren.“
Und der ehemalige Chef der NÖPLAN Norbert Steiner appelliert: „Von selbst wird sich nichts tun. Man muss die Chance nutzen!“
Ansonsten könnte sich Geschichte wiederholen. So schreibt Thomas Pulle über die Eröffnung der Kaiserin Elisabeth Westbahn 1858. „St. Pölten wurde durch den Bahnbau an eine Verkehrsverbindung von europäischer Dimension angeschlossen, eine Entwicklungschance, deren Bedeutung in den fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts noch gar nicht abzusehen war.“
Diesmal sollten wir die Chancen erkennen und umgehend sowie offensiv nutzen!
Infos zum Thema:
Bahnhof St. Pölten – NEU

Gesamtinvestition: 208 Millionen Euro
Bauzeit: 4 Jahre
Betriebe: BAWAG, OKAY-Lebensmittelhandel, Trafik, Zeitschriften, McDonald´s,Blumen, Bäckerei, Telefonie/Internet/Handy, Gastrobetrieb, ÖBB Reisecenter)
Infrastruktur: 4 Aufzüge ■ 5 Rolltreppen ■ 260 überdachte Fahrradabstellplätze
Neubaustrecke Wien – St. Pölten
■ Fertigstellung: 2012
■ Gesamtinvestition: 1,6 Milliarden Euro
■ Streckenlänge: 44 km
■ Fahrtzeit: 25 Minuten / bis 250 km/h Fahrtgeschwindigkeit
■ Kunstbauten: 4 Tunnel in bergmännischer Bauweise, 3 Tunnel in offener Bauweise, 29 Brückenobjekte für Bahn, Straßen und Wege bzw. Wildwechsel, Regionalbahnhof Tullnerfeld
Interview: Norbert Steiner, Projektleiter Skylink Wien
Was bringt die neue Westbahn der Stadt?

Gemeinsam mit dem Ausbau der Schnellstraßen ist das ein ziemlicher Bedeutungssprung. Nur, von selbst wird sich nichts tun.
Was wird dazu notwendig sein?
Es bedarf eines geförderten Wohnungsausbaus in verschiedenen Bereichen St. Pöltens. Im Moment gibt es alle zehn Jahre das Zittern, ob die 50.000 Einwohnermarke erreicht wird. Der öffentliche Verkehr wird in der Mobilität an Bedeutung gewinnen. Man muss also die Fantasie entwickeln, wer die Bevölkerung sein könnte, die sich in St. Pölten ansiedelt.  Durch attraktive Wohnmöglichkeiten könnten Leute, die nun z. B. von Neulengbach nach Wien pendeln, nach St. Pölten ziehen und von hier direkt nach Wien fahren.
Wie könnte man Ansiedlung erreichen?
Ich würde mir wünschen, dass die neue Verbindung einen Qualitätshupfer auslöst. Wien wächst stetig, bis jetzt allerdings immer nur bis Neulengbach. Durch die neuen Bahn- und Straßenverbindungen könnte auch St. Pölten vom Wachstum Wiens profitieren. Die Glanzstoff ist gemeistert, die Struktur stimmt, die Bildungsvoraussetzungen stimmen.
Von der Straßenverbindung her habe ich in St. Pölten, so wie in Wien, die Möglichkeit in alle Richtungen zu fahren. Ich sehe große Chancen, nur von alleine passiert in der Stadtentwicklung nichts.

Interview: Georg Edlauer, Obmann nö. Immobilientreuhänder
Wie wird sich die neue Bahnstrecke auf den Immobilienmarkt auswirken?

Es ist zu erwarten, dass St. Pölten in den Kreis der Alternativen zu Wohnorten wie Stockerau, Bisamberg, Eichgraben, Mödling „aufrücken“ wird. Es ist zu hoffen, dass es uns gelingt, St. Pölten bei den „neuen Interessenten“ als das zu positionieren, was es ist: keine übelriechende kleinkarierte Provinzstadt, sondern eine lebenswerte kleine Stadt, die Infrastruktur und Freizeitangebote, also höchste Wohnqualität, bietet, die andere Städte teilweise nicht annähernd aufweisen können.
Ist mit Preissteigerungen zu rechnen?
Die Immobilienpreise in St. Pölten sind, euphemistisch formuliert, seit Jahrzehnten nicht von Überteuerung geprägt. Wir sind, was die Preise von Eigentums- und Mietwohnungen betrifft, sogar die billigste Landeshauptstadt. Auch bei den Preisen für Baugründe ist noch eine erhebliche Attraktivität für die Käufer gegeben. Nach Jahren des Rückganges bzw. der Stagnation ist seit einiger Zeit ein leichtes Anziehen der Preise festzustellen. Hier sehe ich für St. Pölten noch viel Potenzial.
Natürlich ist schon jetzt vorausschauendes Planen und Gestalten in Bezug auf Schaffung von Wohnraum gefragt. Nicht nur seitens der Wirtschaft und der genossenschaftlichen Wohnbauträger, sondern auch der Politik und der gewerblichen Bauträger.
Welche Wohnarten werden nachgefragt werden?
Wohnen ist insbesondere für die junge Generation ein zentrales Thema geworden. Diese Gruppe ist auch bereit, für Wohnen mehr als noch ihre Eltern auszugeben. Der Trend geht zu 3 bis 4-Zimmer-Wohnungen. Die Lieblings-Wohnform bleibt das eigene Einfamilienhaus.  Aber auch der Trend zum urbanen Wohnen nimmt deutlich zu. Allerdings müssen hier die Parameter stimmen: gute Ausstattung, Parkmöglichkeiten, Verkehrsanbindung, Einkaufsmöglichkeiten und natürlich die Nähe zu Kindergärten und Schulen. In diesem Zusammenhang ist anzudenken, den Dachgeschoßausbau zu forcieren,
z.B. durch Förderungsmaßnahmen der öffentlichen Hand oder sonstige Anreize. Denn beim Dachboden handelt es sich um potenziellen Wohnraum inmitten bereits bestehender Infrastruktur.
Meinungen zum Themna:
Christoph Schwarz, Leiter ecopoint Wirtschaftsservicestelle:

Natürlich ist die neue Westbahn-Verbindung als große Chance zu sehen. St. Pölten liegt ja als einzige Landeshauptstadt Österreichs in der Metropolregion Wien und rückt durch die rasche Zugverbindung somit noch näher an die Weltstadt Wien heran. Wir haben künftig zwei attraktive Zugverbindungen nach Wien, sowie drei hochrangige Autoverbindungen in die Hauptstadt.
Ich bin überzeugt, dass St. Pölten künftig für Wiener ein attraktiver Wohnraum wird. Die Anreise von St. Pölten zum Arbeitsplatz nach Wien wird teilweise rascher funktionieren als von einem Randbezirk in Wien selbst! St. Pölten hat genügend Baulandreserven und ist diesen Herausforderungen sicherlich gewachsen.
Auch in wirtschaftlicher Hinsicht sehe ich Chancen für St. Pölten. Ich merke jetzt bereits bei der Betriebsansiedlung, dass viele Unternehmer lieber in einem überschaubaren Umfeld ihren Betrieb ansiedeln und nur bei Bedarf nach Wien fahren. Für Klein- und Mittelunternehmen ist es in St. Pölten bei weitem einfacher ein Netzwerk aufzubauen als in einer Großstadt. Wer nicht täglich mit den Konzernzentralen zu tun hat, bzw. mehrmals wöchentlich in den Flieger steigen muss, für den überwiegen sicherlich die Vorzüge St. Pöltens. Nicht zuletzt ist es ja auch eine finanzielle Frage, und da liegen wir bei Grundstückspreisen schon noch deutlich unter Wiener Niveau!