MFG - Urbane Visionen
Urbane Visionen


MFG - Das Magazin
St. Pöltens gute Seite

Urbane Visionen

Text Beate Steiner
Ausgabe 06/2016

Das Duo Christine Gegenbauer und donhofer. hat die 2.000-Seelengemeinde Karlstetten im Kunstprojekt „Karlopolis“ zur Großstadt gemacht. In vier Tagen ist so einiges vom Spiel mit der Utopie in die Realität geswitcht. Also: Experiment geglückt.

Denn die Künstler wollten mit ihren interaktiven Performances und Installationen Großstadtphänomene aufzeigen, sichtbar machen, wie sich das Leben im urbanen und im ländlichen Raum unterscheidet.
Übrigens: In 50 Jahren werden 70% der Weltbevölkerung in Städten leben, denn Verstädterung ist ein Megatrend. Das sagen die Forscher des Zukunftsinstituts, die St. Pöltens Stadtentwicklungs-Visionen vor zehn Jahren auf die richtige Schiene gebracht haben. Und sie bestätigen: Die Landeshauptstadt fährt in eine aussichtsreiche Richtung. Die Metropole Karlopolis ist aber noch weit weg. Millionendorf „Karlopolis“. Massen von Menschen wanderten entlang der bunten Graffiti-Wall Richtung Schlossplatz, starrten auf die weißen Quader am Sportplatz, suchten Bestätigung bei den anderen Eröffnungsgästen: „I vasteh’s net.“ Karlopolis nämlich, das Kunstprojekt von Christina Gegenbauer und donhofer., das ein Wochenende lang Karlstetten zum Millionendorf machte, mit allem, was zu einer Metropole gehört: Verkehrschaos, beleuchtete Konsumtempel, Straßenkunst und Kultur. Gegenbauer und donhofer. thematisierten in ihrem interaktiven Projekt die unterschiedlichen Formen des Zusammenlebens in Stadt und Land, übertrugen Großstadtphänomene wie Anonymität, Reizüberflutung und Überwachung ins Dorf, spielten mit Installationen und Aktionen im öffentlichen Raum von Karlstetten. Neben der 140 Meter langen Graffiti-Wand zum Austoben für Sprayer gab’s auch eine U-Bahnstation mit vielen wartenden Menschen(puppen) und Peitscherlbuben-Mercedes davor. Und der exklusive Club „Amore“ versprach facettenreiche Freuden der Erotik. Unverständlich für einen g’standenen Karlstettner, der Bürgermeister Anton Fischer nach der Fronleichnamsprozession wegen des Lusthauses im temporären Spiel empört zur Rede stellte: „Schamst di net?“
Auch die Verkehrssituation im Millionendorf ließ das Spiel in die Wirklichkeit kippen. Bei der täglichen Rush Hour, verursacht durch Bobby Cars, kollidierte ein älteres Ehepaar mit einem Kinderauto, erregte sich darüber und wurde von der wütenden Menge beschimpft. Die meisten Einheimischen aber spielten gern mit, bauten mit Bauklötzen ihre Stadt auf der riesigen Luftaufnahme von Karlstetten, die am Sportplatz ausgebreitet war – oder sie suchten dort ihr Haus und ihren Garten. Das war nicht immer leicht zu finden im in Bezirke aufgeteilten Millionendorf mit St. Pölten als 10. Bezirk.
Anonymität wie in der U-Bahnstation, Reizüberflutung und Überangebot wie in den Konsumtempeln, Verkehrsinfrastruktur und kulturelle Vielfalt, mehr Bildungs­angebote und größere Job-Chancen, ein vielfältigeres Freizeitangebot und bessere medizinische Versorgung – all das sind Phänomene, die mit Urbanisierung verbunden sind. Auch die steigende Kriminalität. Und die zeigte sich ungeplant zum Abschluss des Großstadtspiels: Teile der Utopie-Stadt wurden von Vandalen zerstört: „Das war der Geist von Karlopolis“, kommentierte donhofer. St. Pölten wird urbaner. Von einer Metropole wie dem erdachten Karlopolis ist Niederösterreichs Landeshauptstadt noch weit entfernt. Allerdings ist St. Pölten im österreichischen Maßstab auch keine Kleinstadt mehr. Sagt David Mock, Trend-Analyst am Zukunftsinstitut und Autor des Kapitels „Urbanisierung“ in der aktuellen Megatrend-Dokumentation des Zukunftsinstituts. Überhaupt greife die Kategorisierung zu kurz: „Urbanisierung, also Verstädterung, ist ein Megatrend, der weltweit wirkt, und da geht es um ganz andere Dimensionen“, erklärt der Trendforscher. Er sieht eine Auseinandersetzung zwischen dem asiatischen Modell der Megacity und den europäischen Städten als Basis unseres Kulturmodells. Als Beispiel nennt Mock Chongping, die Stadt, die in China am stärksten wächst. Fast 30 Millionen Menschen leben da. Es dominiert Einheitsarchitektur, traditionelle Stadtteile mussten Wolkenkratzern weichen, die Stadtfläche ufert aus, hat etwa die Fläche von Österreich. „Das ist ein quantitatives Modell, Wachstum um fast jeden Preis“, so Mock. Demgegenüber steht das europäische Stadtmodell: gewachsene, dicht verbundene Städte mit einem klaren Stadtkern. David Mock: „Dieses Modell wird gerade neu erfunden. Städte mit Zukunft setzen auf ein qualitatives Wachstumsmodell, dafür müssen sie nicht groß sein. Aber sie müssen einen ganzheitlichen Anspruch an die Qualität der Stadt haben, alles sein und auch alles sein wollen: Wirtschafts- und Bildungsstandort, Kultur- und Gesundheitsstandort, sie müssen Grünräume und Erholungsmöglichkeiten anbieten und den gewachsenen Kern erhalten und pflegen.“ Die Zukunftsforscher sprechen da von „Great Cities“ – nicht groß, aber mit dem Anspruch, großartig zu sein: Wachstum mit starken Wurzeln statt Reißbrett.
David Mock sieht St. Pölten unter diesen Aspekten in eine positive Zukunft steuern, denn „die beschriebene Vielfalt ist gegeben.“ Die Schwerpunkte in Richtung „Centrope Stadt“, Innovations- und Kreativstadt und vor allem die Entwicklung zur „Gesundheitsstadt“ seien richtig gewählt: „Die Bevölkerung wird im Durchschnitt weiter altern und will dabei gesund bleiben — auch das ist ein Megatrend.“ Entscheidend sei jetzt noch, dass die Infrastruktur fit und dass die Stadt durch kluge Verkehrskonzepte verbunden gehalten wird, „denn das Wachstum soll ja einen Rahmen haben.“ David Mock: „St. Pölten ist auf einem guten Weg, auch als urbaner Anziehungspunkt für die umgebende Region.“