MFG - Wenn es einmal nicht mehr geht
Wenn es einmal nicht mehr geht


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St. Pöltens gute Seite

Wenn es einmal nicht mehr geht

Text Andreas Reichebner
Ausgabe 12/2022

Die Geburt eines Babys beschreibt im gesellschaftlichen Diskurs vorderhand ein glückliches Erlebnis, kann aber in vielen Familien auch zur Belastung werden. Das war vor der Pandemie und der in vielen Bereichen unsicherer gewordenen Welt schon so, wurde aber dadurch zusätzlich verstärkt. Was tun, wenn es in der Familie mit Kleinkindern einmal nicht mehr so funktioniert? Das „Netzwerk Familie“ bietet Information, Unterstützung und Begleitung – freiwillig, kostenfrei und vertraulich.

Mama, Mitte 20, zwei Kinder, zweieinhalb und sieben Jahre alt, von zwei verschiedenen Vätern, die beide nicht mehr präsent sind. Mama hat eine Angsterkrankung, wird regelmäßig von Panikattacken aus der Spur geworfen. Noch dazu lebt die Kleinfamilie in einer teuren Wohnung, die nicht mehr leistbar ist. Die Lage ist prekär. Von solchen Fällen weiß Sozialarbeiterin Sabine Holzinger-Grath, Familienbegleiterin und fachliche Leiterin vom „Netzwerk Familie“ zu berichten. Tagtäglich wird sie und ihr Team mit Problemen dieser Art konfrontiert. Aber dafür wurde das „Netzwerk Familie“ im Rahmen von „Tut gut“ Niederösterreich ja geschaffen: Familien mit Kindern von 0 bis 3 Jahren Hilfe und Begleitung bei Problemen im Alltag anzubieten. 
„Uns wurde dieser Fall vom Kindergarten, natürlich in Absprache mit der Mutter, gemeldet. Nach dem Erstgespräch mit der Mutter erfolgte die Einbindung einer Psychotherapie, für die ältere Tochter wurde der Kontakt zu KiPKE – einer Einrichtung der Caritas, die sich um Kinder und Jugendliche von psychisch kranken Eltern(teilen) kümmert – hergestellt, ein guter Kindergartenplatz für die jüngere Tochter gefunden. Wir haben dann auch eine sichere Wohnsituation, finanziell erschwinglich für die Alleinerziehende, geschaffen“, erzählt Holzinger-Grath, deren Team vor allem das Ziel des gesunden Aufwachsens von Kindern und deren Chancengleichheit am Herzen liegt. Die Familienbegleiterinnen vom „Netzwerk Familie“ verstehen sich dabei als „Casemanagerinnen“.

Keine Konkurrenz 
„Wir sind keine Konkurrenz zu bestehenden sozialen Einrichtungen, im Gegenteil, wir wollen vermitteln und sehen uns als vernetzend tätig. Dazu gehen wir in die Familien und schauen, was von Nöten ist, aber auch, wo es Ressourcen innerfamiliär gibt. Wir bieten einerseits Entlastungsgespräche an, andererseits holen wir zusätzliche Angebote, die gebraucht werden, in die Familie hinein“, so Holzinger-Grath. Dabei ist die Hilfe nach allen Seiten offen, ob es nun die Familienhilfe, Schuldnerberatung, psychiatrische Vereine, die Kinderbetreuung, der Verein Wohnen oder die Caritas Sozialberatung ist. Ebenso werden gemeinsam mit den Familien Anträge auf finanzielle Unterstützung, wie Kinderbetreuungsgeld und Mindestsicherung durchgeführt, auch die Beantragung von Lebensmittelgutscheinen fällt darunter.  Auch mit SOMA-Märkten und anderen sozialen Vereinen, wie Kiwanis oder Lions-Club arbeiten die Case-Managerinnen zusammen, sogar mit Licht ins Dunkel. 
„Wir sind ein interdisziplinäres Team aus Lebens- und Sozialarbeiterinnen, Psychologinnen, Ernährungswissenschaftlerinnen, Krankenpflegerinnen und Pädagoginnen“, so Holzinger-Grath, „und vor allem sind wir ein freiwilliges Angebot, kostenfrei, vertraulich und aufsuchend.“ Meist werden die Familienbegleiterinnen über die Ringrufnummer, die zwischen 8 und 17 Uhr besetzt ist, von in Schwierigkeiten geratenen Familien angerufen. Entweder weil Familien von Ärzten oder Hebammen darauf hingewiesen wurden oder weil sie von anderen Stellen den Folder erhalten haben. „Beim Ersttelefonat werden einmal die Anliegen erhoben, ob die Kinder unter 3 Jahren sind und ob der Wohnort passend ist“, erklärt die Familienbegleiterin das Prozedere, „aber wenn das nicht der Fall ist, schaut das Team, ob wir die Familie woanders anbinden können.“ Ob etwa Kinderjugendhilfe oder psychiatrische Angebote, „niemand wird im Regen stehen gelassen.“ 

Erstgespräch im Vier-Augen-Prinzip
Das Erstgespräch in der Familie erfolgt im Vier-Augen-Prinzip, das heißt zwei Familienbegleiterinnen sind anwesend. Zu Beginn gibt es eine Zieldefinition, in Folge wird in punkto Erreichung der Ziele und zusätzlicher Herausforderungen evaluiert.
„Wir bieten auch Väteranbindung an, wählen die Termine für Erstgespräche so aus, dass auch der Vater dabei sein kann. Das wird gut angenommen.“ Vorausgesetzt natürlich, die Väter sind noch im Familienverbund, denn die Gruppe alleinerziehender Mütter innerhalb der zu betreuenden Familien wird immer größer. Etwa dann, wenn Väter sich das Leben mit Baby anders vorgestellt haben oder aber ihre vermeintliche Freiheit wieder haben wollen. Bei den 0-3-Jährigen gibt es bereits viele Alleinerziehende, deren schwierige Situation durch Trennungen in der Schwangerschaft entstehen. Meist fehlt es auch am sozialen Netz. „Wir hören sehr oft, dass die Großeltern selbst noch berufstätig sind oder ihr Leben auch noch genießen wollen und nicht immer da sein können oder wollen, um auf die Enkel aufzupassen.“ Auch gibt es viele Fälle, wo die Familien weit weg von ihren Herkunftsfamilien wohnen. 
Obwohl es viele Angebote in Niederösterreich gibt, erreichen diese oft die Familien nicht oder die Familien die Angebote nicht. Dann ist das „Netzwerk Familie“ tätig. „Es ist aber manchmal so, dass viele zwar informiert sind, aber es Hemmschwellen gibt, bei den zuständigen Stellen anzurufen. Dann helfen wir dabei, rufen gemeinsam an. Ich habe etwa einmal einer Mutter einen Satz aufgeschrieben, den sie sagen muss. Dann hat sie das allein geschafft, wir helfen also auch ganz niederschwellig.“ Das Team begleitet Menschen aber auch zu Terminen. „Wir stellen sicher, dass psychisch Kranke auch zu den ihnen zugewiesenen Terminen erscheinen.“ 
„Seit 2015, dem Jahr, wo das ‚Netzwerk Familie‘ gegründet wurde, gab es 888 Kontaktaufnahmen, 454 Familienbegleitungen und 155 kurzfristige Unterstützungen“, weiß Sabine Holzinger-Grath, die von Beginn an dabei war und das Netzwerk mitaufgebaut hat. Das Team, das im Raum Krems, Tulln, St. Pölten, Korneuburg, Hollabrunn und im Mostviertel rund um Amstetten und Scheibbs agiert, ist stetig im Wachsen, zurzeit gehören zehn Familienbegleiterinnen und drei Netzwerkmanagerinnen dazu. „Die Netzwerkmanagerinnen vernetzen und stellen unser Angebot bei den Netzwerkpartnern vor.“
Es müssen nicht immer die großen Katastrophen sein. „Es können auch nur Unsicherheiten sein, die man bei und nach einer Schwangerschaft erlebt. Fragen etwa, wie verändert sich das Leben mit dem Baby, stehen da oft im Fokus. Auch die Gewohnheiten verändern sich mit einem Säugling, oder wenn die Mama unter einer postpartalen Depression zu leiden beginnt.“ Schließlich ist das Idealbild der glücklichen Familie allgegenwärtig im gesellschaftlichen Narrativ, der Druck von außen auf die Familien sehr groß, viele sind diesem nicht mehr gewachsen. 
Gerade seit den Zeiten der Pandemie ist ein vermehrtes Auftreten von psychischen Problemen zu sehen. „In diesen Zeiten sind die Belas­tungen, die auf Schwangere und die Familien einwirken, gestiegen. Speziell im Bereich der Vorbereitungen zur Geburt. Die Treffs mit Babygruppen haben nicht stattgefunden, die Geburten in den Spitälern waren schwierig, die Väter durften teilweise nicht dabei sein, wenn, dann wurden sie nur ganz kurzfristig davor angerufen. Viele Säuglinge wurden nach der Geburt gleich von der Mutter getrennt, weil etwa die Mama positiv war und so weiter. Das hinterlässt Spuren. Die Großfamilie hat auch ausgesetzt, es hat wenig bis keinen Kontakt gegeben. Durch diese Faktoren haben sich die psychischen Belastungen verstärkt, postpartale Depressionen und Depressionen überhaupt haben in der Pandemie zugenommen.“
Verhaltensauffälligkeiten von Kindern, oft ausgelöst durch soziale Medien, Behinderungen, Essstörungen, Pseudo-Autismus, Schreibabys, Fütterungsstörungen und Frühgeburten sind ebenfalls große Themen, die von den Familienbegleiterinnen bearbeitet werden müssen, ebenso wie Alkohol- und Drogensucht bei Müttern. „Wenn Mütter rauchen oder schwere Drogen in der Schwangerschaft nehmen, schauen wir, dass sie in speziellen Krankenhäusern entbinden“, so die Sozialarbeiterin, die auch eine Gefahr in der vermehrten Smartphone-Nutzung erkennt. „Bei Besuchen in den Familien sehen wir vermehrt, dass schon drei Monate alte Babys vor den Flatscreens sitzen. Wir klären dann, was dahintersteckt, vielleicht eine Überforderung der Mutter. Wir versuchen diese Dinge im persönlichen Gespräch zu erläutern, geben Tipps. Oder dass sich das Handy in vielen Familien als Konkurrent für die Babys um die Aufmerksamkeit von Mama und Papa erweist. Ganz wenige in den problemgeplagten Familien lesen etwa am Abend Geschichten vor.“ Auch die Interaktion und folglich die Bindung zwischen Mama/Bezugsperson und Baby wird durch das Smartphone erheblich gestört. 
Im Durchschnitt dauert eine Familienbegleitung ein halbes Jahr. „Ich habe eine Familie, die begleite ich schon fünf Jahre, die Familie hat schon drei Kinder.“ 
Regelmäßige Teambesprechung, Mediation, Fortbildungen, permanente Evaluation der Arbeit der Familienbegleiterinnen und ein Abschlussgespräch, sorgen für die Qualität der Unterstützung. „Wenn die Familie ihr Leben selbstständig meistern kann, dann ist unsere Arbeit erfolgreich zu Ende gebracht“, freut sich Sabine Holzinger-Grath, die sich manchmal denkt, „dass einige schon sehr viel Pech haben, da ist die Chancengerechtigkeit nicht gegeben.“ Um das auszugleichen, daran arbeiten die Familienbegleiterinnen vom „Netzwerk Familie“.

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Information, Unterstützung und Begleitung von Familien mit Kindern von 0 bis 3 Jahren: 
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