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St. Pöltens gute Seite

Konterrevolution

Ausgabe 12/2011
Hält man sich die Macht der Konzerne vor Augen, die Apathie und Ohnmacht des größten Teils der Bevölkerung, die Unzulänglichkeit der führenden Politiker fast aller Länder, die Gefahr eines Atomkrieges, die ökologischen Belastungen, ganz zu schweigen von Phänomenen wie klimatischen Veränderungen [...] – haben wir dann überhaupt eine berechtigte Chance der Rettung?“
Diese Zeilen stammen nicht etwa aus einem Kommentar zur aktuellen Weltlage, sondern wurden bereits 1979 von Erich Fromm in seinem Buch „Haben oder Sein“ formuliert. In diesem zeichnet er das Bild einer rein auf das „Haben“ fokussierten westlichen Gesellschaft nach, in welcher der Mensch die Technik zur absoluten Religion erhoben hat, Egoismus, Selbstsucht und Habgier Grundwesenszüge darstellen, und der Mensch zur reinen, medial und politisch gelenkten Kaufmaschine verkommen ist.
Wenig verwunderlich, dass die Lektüre dieses Buches betroffen macht, führt sie uns doch vor Augen, dass wir uns in den letzten 30 Jahren vom geistigen Standpunkt aus betrachtet praktisch nicht weiterentwickelt haben – mit den aktuellen Auswirkungen. Dabei geht es längst nicht mehr „nur“ um Staatsschuldenkrise, Eurokrise, Wirtschaftskrise. Ebenso konstatieren wir eine Verteilungskrise, Ernährungskrise, Umweltkrise etc. Nicht, dass diese Probleme, siehe Fromm, nicht schon längst in der Luft lagen. Aber nun sind sie derart zwingend geworden, dass wir sie nicht länger verdrängen können. Die westliche Welt erfährt dadurch aktuell eine gesamtgesellschaftliche (Bewusstseins)Krise, die alle unsere Lebensbereiche durchdringt, unser gesamtes bisheriges Handeln, unseren Way Of Life in Frage stellt – und damit jenen jedes einzelnen.
Damit haben wir es aber auch mit einer Krise unserer selbst im Angesicht dieser Gesellschaft zu tun, weil der allgemeine Leistungsanspruch auf der einen Seite, und unsere eigene Befindlichkeit sowie Fähigkeit, diesem gerecht zu werden auf der anderen, zumehmend auseinanderklaffen. Sie lösen einen Zwiespalt in uns selbst aus, der nur mehr durch eine Überbeanspruchung des Individuums auf Kosten des Seins gemeistert wird. Dabei hinterfragen wir aber nicht, ob das System an sich die richtigen Ansprüche stellt, sondern ausschließlich, ob unsere eigene Person im Sinne des Systems „richtig“ funktioniert.
Was aktuell bemerkbar wird – und das ist ein gutes Zeichen zunehmenden (Selbst-)Bewusstseins – ist eine Hinterfragung dieses Grunddenkens. Visionär schreibt Fromm diesbezüglich: „Die neue Gesellschaft und der neue Mensch werden nur Wirklichkeit werden, wenn die alten Motivationen – Profit und Macht – durch neue ersetzt werden: Sein, Teilen, Verstehen; wenn der Marktcharakter durch den produktiven, liebesfähigen Charakter abgelöst wird und an die Stelle der kybernetischen Religion ein neuer, radikal-humanistischer Geist tritt.“
Ich höre schon jene Stimmen, die jetzt von „sozialromantischem Geschwätz“ reden – allein: Fromm war kein Sozialromaniker, sondern ein scharfer Analytiker mit Blick auf die menschliche Seele, deren Abgründe und Leiden er unter dem überbordenden Fokus auf das Haben erkannte.
In diesem Sinne brauchen wir im „Westen“ vielleicht keine Revolution der Straße, wie wir sie im arabischen Raum erlebten, sehr wohl aber eine des Geistes – ja, eine Konterrevolution, die das Haben wieder zugunsten des Seins zurückdrängt. Dies muss nicht unbedingt eine gänzlich neue Welt bringen, sehr wohl aber eine veränderte. Bewegungen wie „Occupy Wall Street“ fordern ja auch keine Abschaffung des Kapitalismus, sondern einen, wie es Wirtschaftsprofessor Karl Bachinger im Interview formulierte, „Kapitalismus mit menschlichem Antlitz“. Das sind nicht nur Chaoten, wie gerne behauptet wird, sondern Idealisten. Und Idealisten sind nicht zwangsläufig naive Träumer.
Bleibt die Frage, wie angehen? Durch Selbstverantwortung! Um mit Fromm zu sprechen: „Doch jenseits aller politischen Parteien gibt es nur zwei Lager: Die Engagierten und die Gleichgültigen.“ Es wird Zeit, dass wir uns auf die Seite der Engagierten schlagen. Dann haben wir, um in Fromms Diktion zu bleiben, noch „eine Chance auf Rettung.“