MFG - Ein Gauklerleben
Ein Gauklerleben


MFG - Das Magazin
St. Pöltens gute Seite

Ein Gauklerleben

Ausgabe 06/2008

„Nach Würmling?“, wiederholt der Eingeborene mit beeindruckender Rapsfeldkulisse und Schloss Goldegg im Hintergrund meine Frage. „Da müssen Sie bis zur Kreuzung zurück und dann rechts abbiegen. Nach ca. 200m sind sie beim Thanheiser!“ Kurze Verblüffung, weil zu wem wir wollen, hab ich eigentlich gar nicht verraten. Aber Würmling und Thanheiser gehören offensichtlich zusammen.

Als wir am Gelände einfahren ist es, als würden wir in eine andere Welt eintauchen: Ein  über 1000 Jahre alter Ritterturm aus groben Steinen, ein langgezogener Wohntrakt, alte Schupfen, die ebensolchen Traktoren Herberge bieten, ein grober Holzzaun, durch den kurz ein paar Schafe neugierig hervorlugen, bevor sie sich wieder ihrem Lebensinhalt – Grasvernichtung – zuwenden. Obstbäume in weißer Blütenpracht, ein großer Teich über dessen Zufluss eine Holzbrücke führt, Enten, die vergnügt herumwatscheln und sich schnatternd offensichtlich den neuesten Klatsch aus Entenhausen berichten, Männer im blauen Schlossergewand bei der Arbeit. Ja, es ist herrlich kitschig, so „schlimm“, dass sogar mir Stadtpflänzchen kurz der Gedanke vom Leben am Land gar nicht mehr so abwegig erscheint.
Im Hintergrund, erhöht überm Teich, trohnt ein Glaspavillon, wohin wir uns zum Gespräch zurückziehen. „Der ist aus dem Film ‚Jedermanns Fest’“, verrät Thanheiser, dabei ist unser Gastgeber – wie das edle „Requisit“ – alles andere denn ein Jedermann. Im Gegenteil. Ein Individualist, ein Einziger, ein Original, auch – mit diesem beruhigenden und hoffnungsreichen Gefühl werde ich wieder von dannen ziehen – ein Vorbild und der Beleg dafür, dass Alter keine Kategorie darstellt. Der alte Knabe – und dieser Ausdruck ist nicht abwertend gemeint, sondern als Verbeugung vor seinem junggebliebenen Wesen –  strahlt eine Gegenwärtigkeit aus, die einen Anfang oder ein Ende schwer ausmachen lässt. Thanheiser ist einfach.

Gersthof
Wir versuchen es trotzdem, diese Vita chronologisch anzugehen und landen im Geburtsjahr 1925. Gersthof, Wien, 18. Bezirk. Wie man sich die Stadt seiner Kindheit vorstellen kann? „Ohne Autos!“, die spontane Antwort. „Wenn ein Steyr 500 vorbeigefahren ist, sind wir auf die Straße gerannt und haben ihm nachgeschaut. Das war eine Sensation!“ Die Mutter betreibt einen kleinen Lebensmittelhandel „damit waren Schinkenbrote und Taschengeld gesichert!“, schmunzelt er, der Vater ist Direktor des Hotels Astoria im 1. Bezirk.  „Ich hab den Papa öfter im Hotel besucht, um mit dem Aufzug auf- und abzufahren, quasi von der Horizontale in die Vertikale.“ Thanheiser schon anno dazumal auf der Suche nach neuen Perspektiven? Ein Unkonventioneller?
Damals ist das Leben jedenfalls noch bürgerlich, der Bub wächst wohlbehütet im Vorstadthaus samt Riesengarten auf, wenngleich am historischen Firmamament schon die Blitze der schicksalhaften Historie und nahenden Katastrophe zucken, der keiner wird entrinnen können. „Die Arbeiteraufstände 1934 hab ich als kleiner Bub mitbekommen, ich hab die Schüsse gehört“, erinnert er sich. Aber das Gewitter zieht da draußen in Gersthof noch vorbei. Thanheiser besucht die Privatschule der Schulbrüder der Jesuiten, wobei ihm v.a. der „würzige Schulweg“, wie er es formuliert,  in Erinnerung geblieben ist. „Der führte nämlich bei einem Fleischhauer vorbei, wo wir uns immer eine Wurstsemmel mit zwei Blättern Krakauer gekauft haben. Das war unvergleichlich! Und wisst ihr wie viel das gekostet hat? 10 Groschen!“
Aber auch die Schule selbst bietet Anreize und stillt seinen Appetitt nach Wissen. „Ich hab gern mitgearbeitet, weil wenn man sehr fleißig war, hat man Fleißzettel bekommen! Die gabs in gelb, rot, blau und hat man gesammelt. Das war natürlich ein geniales Marketing damals, weil es uns angespornt hat“, erinnert er sich.
Ebenso spielt Musik schon früh eine Rolle und wird zu einer lebenslange Liebe. Im zarten Alter von sechs Jahren beginnt Thanheiser mit dem Geigenunterricht „Wahrscheinlich hab ich richtig gesungen und die Eltern glaubten deshalb, ich hätte Talent“, lächelt er und fügt dann schelmisch hinzu. „Ich bin jedenfalls froh, dass es Geige war und nicht Klavier – wie hätt ich das sonst zum Unterricht getragen?“
Nach der Volksschule wechselt Thanheiser aufs Gymnasium in der Schoppenhauerstraße. „Da wurde man plötzlich mit ‚Sie’ angesprochen, was mir sehr imponiert hat! Man war wer, und hat als 10 jähriger eine Krawatte getragen!“, schildert er den Unterschied zur heutigen Schulwelt. Hatte er damals eigentlich schon ein Vorstellung, was er einmal werden möchte? Thanheiser lacht: „Ja, und zwar nicht etwa Feuerwehrmann oder Rennfahrer wie die anderen, sondern Hautarzt!“ Hautarzt? Wie kommt man den darauf? „Nun, bei uns im Haus lebte einer, und von dem sagten die Leute immer, dass er so reich ist. Na, da hab ich mir gedacht, dann werd ich das eben auch, weil ich wollt ja auch reich werden!“ Nachdenklicher Nachsatz: „Aber es geht im Leben dann halt immer ganz anders, als man glaubt.“

Appollo muss in den Krieg ziehen
In extremis kommt ein Krieg „dazwischen“ und schmeißt alles um und durcheinander. Mit 16 Jahren wird Thanheiser zum Arbeitsdienst eingezogen, „da mussten wir graben und so Sachen halt. Aber das ist nicht so interessant, nicht anders, als bei jeder anderen Biografie dieser Zeit“, hält er sich mit Details zurück. 1943 muss er schließelich einrücken. „Ich bin in die Ukraine gekommen. Aber das ist eine Zeit, über die ich eigentlich nicht viele Worte verlieren möchte. Das war halt Militärdienst mit all seinen unangenehmen Nebeneffekten“, blockt er ab und wendet seinen Blick raus auf den Teich. „Aber ich hab das eigentlich sehr gut weggesteckt.“ Auch mit einer seiner ganz persönlichen Geheimwaffen – dem Humor. „Ich hab meiner Familie immer gesagt ‚Machts euch keine Sorgen um mich. Mir passiert nix! Eines Tages werd ich schön wie der Apollo vor der Tür stehen – was heißt – noch schöner als Apollo!’ Tja, und so war es dann auch.“
Apollo landet nach dem Krieg zunächst einmal im Hotel Astoria, „weil mein Vater gemeint hat, dass es da was zum Essen gibt!“ Zwischendurch vertreibt er sich die Zeit mit Musizieren. Als ihn eines Tages ein russischer Offizier hört, ist dieser so begeistert, dass er ihm spontan ein Akkordeon schenkt. „Da hab ich mir gedacht: Das ist ein Fingerzeig, und ich hab begonnen, öffentlich aufzutreten!“ Der Groschen ist, wie man so schön sagt, gefallen. Thanheiser goes public und entdeckt sich in gewisser Weise selbst. Spielte bei diesem Emanzipationsakt auch die Kriegserfahrung eine Rolle? „Mag schon sein, dass ich mich während der Militärzeit zu diesem Freigeist entwickelt hab. Der psychologische Hintergrund war einfach, dass ich genug vom Herummarschieren hatte, genug davon, herumkommandiert zu werden und zu tun, was andere von mir verlangen. Ich wollte auf eigenen Beinen stehen, meine eigenen Fehler machen. Das war meine Vorstellung von Freiheit.“

Der Tannheiser wird geboren
Eine Freiheit, die sich in einem Phänomen manifestiert, das späterhin gerne Popstars wie Madonna oder David Bowie zugeschrieben wird: Thanheiser erfindet sich immer wieder neu, um letztlich aber doch immer nur er selbst zu bleiben. Aufgrund dieser Phänomenologie mag der Leser auch Nachsicht üben, dass wir jetzt – Thanheisers dynamischen Leben folgend – die lineare Beschreibung seiner Biografie verlassen. Da läuft zuviel parallel, ineinander und übereinander, als dass man wagte, chronologisch vorzugehen. Thanheiser ist kein Vorher und kein Nachher, Thanheiser ist einfach, und er ist die Summe all dessen, was er erlebt hat – jetzt! Das spürt man, wenn man ihm gegenüber sitzt, dem alten Jungen mit seinen spitzbübischen Augen, dem weißen Haar, den grandiosen Falten seines Charakterkopfes, dem schelmischen Lächeln auf den Lippen .
Der erste öffentliche Auftritt als Musiker „war im Alserkeller“. Thanheiser gründet aber auch das erste Wiener Kindertheater, studiert Innenarchitektur und wird späterhin Häuser einrichten, verdingt sich als Bühnenbildner, ist Prokurist einer Import/Exportfirma oder tritt – eine weitere große, wichtige Konstante seines Lebens – als Schauspieler in Erscheinung. „Ich hab bei Karl Skoup Schauspielunterricht genommen. Bezahlt hab ich mit Kaffee und Zucker!“ In seiner ersten Rolle mimt er in der Revue „Orient Express“ einen Seemann, der Akkordeon spielt. Wirkungsstätte ist das legendäre, als Kommunistenbühne verunglimpfte Theater „Scala“. „Ein großartiges Haus für fast 2.000 Besucher. Leider hat es ein Stadtrat abreißen lassen. Irgendwie sind ja alle Theater, wo ich gespielt hab, abgerissen worden“, zuckt  er unschuldig die Achseln, als hätte er etwas mit der großen Theaterkrise in den 50’ern zu tun gehabt. Die eigentliche Erklärung fällt banaler aus. „Die Leute haben einfach allmählich wieder Geld gehabt, und es lieber für Konsumartikel ausgegeben als fürs Theater.“ Das Wirtschaftswunder fordert seine ersten Opfer.
Anfang der 50’er Jahre nimmt auch ein weiterer Wesenszug Thanheisers Gestalt an, der ihn bis heute auszeichnet: Gastfreundschaft! So wie heute Würmling mutiert damals sein Gersthofer Domizil zum Open House, wo sich die Wiener Szene ein Stell-Dich-Ein gibt. Kapazunder wie Helmut Qualtinger, Walter Müller, Peter Weck, Friedensreich Hundertwasser, Tommy Hörbiger, Friedrich Gulda usw. tummeln sich bei den Grillpartys im Garten herum. „Das waren immer so um die 60/70 Leute. Auch Amis waren dabei, das hatte diesen ganz eigenen Ami-Touch, der damals en vogue war. Viele sind mit der Vespa gekommen, es wurde musiziert, getanzt, und wir hatten immer schöne Mädchen von der Modeschule Hetzendorf zu Besuch - das war wohl auch der wahre Anreiz für viele“, zwinkert er. Über Nacht sei aber keiner geblieben „weil was hätt mir dann die schönste Frau genützt, wenn noch 60 Leute herumstehen?!“
Thanheiser macht aber auch bald die Innenstadt „unsicher“. Er gehört nicht nur zur Szene, er entwickelt sie selbst mit! Seine illustren Gesellschaften haben sich herumgesprochen, so dass die Besitzer der Domino-Bar, „ein sehr edles Lokal, wo aber keine Leut drin waren“ an ihn mit dem Auftrag herantreten, der Flaute eine Ende zu bereiten. „Silvester ’52 hab ich dorthin eingeladen, das Haus war bummvoll. In Folge ist es sehr gut gelaufen, ich hab ein Klavier reingestellt, es wurde musiziert.“ Als die Besitzer ob des Besucherandrangs beginnen, die Preise unverschämt in die Höhe zu treiben, zieht sich Thanheiser zurück. „Die wollten die Leut so richtig melken. Das hat mir nicht getaugt und so hab ich den Vertrag aufgelöst.“
Das ist aber nicht das Ende seiner „Wirtekarriere“. Ein neues Angebot flattert ins Haus. Diesmal wird er Chef des Jazzlokal „Studio 1“, heute bekannter unter dem Namen „Porgy & Bess“. „Eines Tages hieß es, da sei ein neuer Typ in Wien, von dem geflüstert wird, er sei ein toller Klavierspieler – das war der Joe Zawinul! Und dann war da ja noch mein Freund Friedrich Gulda.“ Thanheiser stellt ein Klavier ins Lokal und spannt die zwei zusammen. Eine Sensation! „Die zwei haben in Folge allabendlich für ein paar Bier musiziert!“ Dann verzieht er säuerlich das Gesicht. „Ich hab das leider mitzuschneiden vergessen – das ist eines der größten Versäumnisse meine Lebens!“
Klingt da etwa ein Schuss Wehmut durch? Da hellt sich Tahnheisers Miene wieder schnell auf und er schüttelt bestimmt den Kopf. „Nein, ich empfinde keine Wehmut. Bei nichts! Wehmut ist brotlose Kunst. Meine Einstellung war eher immer: So, das war es, was kommt als nächstes Interessantes daher?“ So verhält es sich auch im Fall seiner Jazzklubära. „Irgendwann hab ich gemerkt, dass mich dieses Leben zu sehr verschleißt. Da hab ich es reuelos von einem Tag auf den anderen beendet. Das war nicht mehr meine Gegenwart!“

Von der Karft der Imagination
Freiheit bedeutet, sich nicht zu binden und das zu beenden, was nicht mehr passt – vermeintlich ohne Rücksicht auf Verluste, auch die eigene „sichere Zukunft“. Bekam er es nie mit der Angst zu tun, plötzlich mit gar nichts da zu stehen. Thanheiser lächelt fast väterlich und erklärt seine Grundphilosophie. „Ich bin immer wunschlos gewesen, und das hilft mir, Zufälle zu erkennen. Und das wiederum setzt die Fähigkeit voraus, mit etwas unsentimental Schluss machen zu können –  tja, und dann wird man z.B. Prokurist einer Import/Exportfirma und verkauft bunte Knöpfe nach Afrika!“ Selbstredend, dass das kein beliebiges Beispiel, sondern Tatsache ist. „Es ist immer etwas dahergekommen. Ich hab etwa im Kaffeehaus einen Freund getroffen, der mich gefragt hat ‚Du, warum exportieren wir eigentlich nicht Frankfurter Würstel nach London, das gibt es dort nicht.’ Ich hab einen großen Fleischhacker gekannt, dem hab ich von der Idee erzählt und ihn um Muster gebeten, die wir hinschicken könnten. Der hat uns 20 kg Franktfurter gegeben. 10 kg sind bei unseren Feiern draufgegangen, die restlichen 10 haben wir hingeschickt – und das ist tatsächlich ein gutes Geschäft geworden. Ich hab 2 Schilling pro Würstel verdient, das war ein blitzschnelles Geschäft!“
Das mit den Zufällen erkennen, da bin ich noch nicht überzeugt. Musiker, Schauspieler, Geschäftsmann, Wirt, Ritterburgbesitzer, Bühnenbildner, das wird man ja nicht nur einfach so, da muss doch auch eine gehörige Portion Willensstärke dahinterstecken, das zu realisieren. Welcher Antrieb hält das perpetuum mobile Thanheiser ständig in Bewegung? „Vielleicht eine prinzipielle Freude am Gestalten“, überlegt Thanheiser und fügt dann überzeugt hinzu „und Vorstellungskraft! Ich hab mir zum Beispiel eine alte Ruine gekauft, und alle haben den Kopf geschüttelt. Da war kein Dach, keine Fenster etc. Aber ich kann mir vorstellen, dass etwas schön wird, und dann wird es auch so. Das war bei allen Projekten meines Lebens so. Wenn ich ein Kindertheater gründe, dann imaginiere ich das vorher sehr genau, und dann wird es auch Realität. Ich habe tatsächlich die Erfahrung gemacht, dass wenn ich mir etwas wünsche, es mir ganz fest vorstelle – dann tritt es auch ein. Seine Vorstellungskraft kann man trainieren. Man muss fokussieren können. Das ist wie mit einer Taschenlampe, wo man vorne dreht, bis der Lichtkegel scharf und konzentriert wird! Wenn einem das gelingt, dann wird die Vorstellungskraft zum Realisator!“

Leicht wie ein Engel
Thanheiser hat derart immens viel realisiert, das man nur staunen kann. Weil er aber auch immer wieder den Mut aufbrachte, Neues auszuprobieren und offensichtlich keine Angst vorm Versagen kannte.
„Es gehört sicher eine gewisse Nonchalance dazu, so durchs Leben zu stolpern, wie ich das gemacht habe. Es ist auch ein dauerndes auf die Schnauzefallen, dann aber wieder aufstehen, sich den Dreck abputzen und einfach weitergehen. Ich empfinde das nicht als so schlimm. Das ist meine Art zu leben! Wenn etwa morgen das Haus hier abbrennt – gut, dann such ich mir eben ein anderes altes Bauernhaus und renovier es. Oder ich stell mir einen Eisenbahnwaggon hin, was auch immer. Ich hab auch nie soviel gegrübelt übers Leben, sondern wichtig ist die Lust am Leben selbst, die Freude am Neuen, und wenn etwas passiert, dann zu fragen, was ist das Positive an dem Neuen, was kann ich lernen?“
Dieser Wesenszug des Sichnichtbindens an irgendetwas, des Sichhingebens in den Fluss der Welt erinnert sehr an buddhistische Philosophie. Ist er Buddhist? „Nein, es ist eher Fatalismus, der weiterhilft, so kann man nicht enttäuscht werden“, räumt er ein. Ist das so im Sinne „Es is eh ollas wurscht“ zu verstehen? „Naja, das ist nicht so elegant formuliert – es geht eher um die Wurscht! Aber dieser Fatalismus hilft, wenn man mit dem Leben so wie ich ein riskantes Arrangement getroffen hat. Es gibt so viele Dinge, wo man Verlust erfahren kann. Auch in Gefühlssachen. Aber psychologisch betrachtet war das immer meine Strategie.“ Eine Strategie, die bis zu einem gewissen Grade auch als Verdrängung bezeichnet werden könnte, weil man sich ja quasi vom Belastenden auch frei machen muss, um frei zu sein? „Verdrängen – ja, das gehört zum System. Aber es ist eher ein Entrümpeln. Es gibt Leute, die schleppen all die belastenden Dinge ihres Lebens wie die Schmutzwäsche in einem Rucksack mit sich herum, und kramen sie dann überall hervor. Ich erinnere mich an ein Klassentreffen. Bei der erstbesten Gelegenheit haben die ehemaligen Kollegen ihre Kriegsgeschichten erzählt. Ich find das aber ganz unwesentlich! Man muss sich entrümpeln können, das heißt, man soll im weitesten Sinne keinen Ballast mit sich durchs Leben schleppen. Engel können ja auch nur fliegen, weil sie so leicht sind. Ich hab alle schlimmen Erlebnisse aufgearbeitet und dann quasi weggepackt, abgestellt und zugesperrt. Sich dem sein Leben lang auszusetzen, kostet nur unnötig Substanz!“

Midlife-Crisis? Die Thanheiser-Saga
Eine große persönliche „Entrümpelungsaktion“ vollführt Thanheiser in seiner Lebensmitte. Mit 53 zieht er sich in ein Haus im Voralpengebiet, „das zwei alten Baronessen gehörte“ zurück, um sich „neu zu settln. Ich wollte Einkehr halten, Ruhe vor diesem Leben und vor mir selbst finden, ein Buch schreiben.“ Thanheiser sucht nach einigen prinzipiellen Antworten. „Das ist vielleicht jetzt schon zutiefst buddhistisch, aber ich hab Bilanz gezogen über mein sehr lebhaftes Leben. Ich hab ja so viel gemacht, aber ich hab mich gefragt: ‚Was kannst du eigentlich wirklich außergewöhnlich? Wo ist deine spezielle Befähigung?’ Diese Frage hab ich losgeschickt, in der Hoffnung, dass ich eine Antwort finde.“
Die Antwort – wie sollte es anders sein – lässt nicht lange auf sich warten und kommt wie immer scheinbar aus heiterem Himmel. „Zwei Tage später ist der Nachbarsbursch vor der Tür gestanden und hat gemeint ‚Herr Thanheiser der Film hat für Sie angerufen’, die hatten nämlich im Unterschied zu mir ein Telefon. Ich bin also mit und hab zurückgerufen. Das war eine Filmproduktionsfirma, und man hat mir gesagt, sie suchen so einen Nachkriegstypen, der auch Klavier spielen kann. Ich hab gefragt, was das denn für ein Filmprojekt sei – es war die  Alpensaga.“
Der Rest ist Geschichte. Die Alpensaga wird eine der erfolgreichsten Nachkriegsproduktionen des ORF, Thanheiser trägt seines dazu bei, wobei er nicht lange zur Teilnahme am Projekt überredet werden musste. „Die sind dann mit einer Kamera und vor allem einer bildhübschen Schauspielerin zu Probeaufnahmen gekommen – da hab ich mir gedacht, das ist was für mich!“, schmunzelt er spitzbübisch. Der Spätberufene, „weil ich quasi angefangen hab, wo andere schon wieder aufhören“ dreht in Folge 8-10 Filme pro Jahr, über 140 sind es bis dato geworden! Aktuell ist er in Götz Spielmanns Streifen „Revanche“ im Kino zu bewundern.
Auch als Theaterschauspieler steht Thanheiser wieder auf der Bühne und sorgt etwa am Schauspielhaus Bonn für Furore, als er gleich 16 Rollen allein spielt und auch die Musik zum Stück komponiert. Und wie ist ihm das „neue“ Leben bekommen, wie hat er den Rummel um seine Person empfunden? „Das Schauspielerdasein ist lustig. Man fliegt viel herum – Hamburg, Köln, Berlin – das hat so ein bisserl einen kosmopolitischen Touch. Man wohnt in schönen Hotels, bekommt dicke Aufträge, und im Supermarkt geht man ein bisserl aufrechter. Das hat schon was“, lächelt er. Dass er als „Spätberufener“ nicht mehr zum Megastar avanciert, stört ihn kein bisschen – und das ist nicht Koketterie, sondern Gelassenheit. „Dieses Joch ist an mir vorüber gegangen. Wer weiß, wie mich das verändert hätte? So hab ich das richtige Maß an Bescheidenheit behalten, denn ich kenn viele sogenannte Stars, deren Verhalten nicht wirklich nachahmenswert ist.“ Nachsatz: „Ist das überheblich, wenn ich das sage?“ Nein, nur ehrlich, ebenso wie die Feststellung „dass das ein sehr vergänglicher Ruhm ist!“
Dabei bleiben die ruhmvollen Anerkennungen gar nicht aus. Die größte „worauf ich sehr stolz bin“ ist die Auszeichnung mit dem Federico Fellini Preis. „Wenn dich der Fellini für den Preis erwählt, dann bekommst du schon eine Gänsehaut“, gesteht er, fügt dann aber hinzu: „Aber es hat mich nicht verändert. Es ist nicht so, dass ich danach mit einem Leiberl ‚Fellini-Preisträger’ herumgelaufen bin. Wobei“, unterbricht Thanheiser kurz, um mit einem breiten Grinsen fortzufahren „vielleicht sollt ich das noch machen?! Oder ich könnt mir ja ein Fellini-Preisträger-Stirnbad machen, oder es – wenn’s einmal so weit ist – aufs Rollwagerl schreiben, oder auf die Räder vom Rollstuhl. Das wär eine Idee!“, fantasiert er sich in sein Thanheiser-Fellinipreis-Werbekonzept hinein. Wär jedenfalls eine überlegenswerte Alternative zu den Neon-Krocha-Stirnbändern.

Mit Swing durchs (Sammler)Leben
Aber das beste Marketing ist noch immer Authentizität und Originalität. Thanheiser beherrscht das nicht, sondern er ist es. Ein wunderbarer Beleg dafür ist sein legendäres Bandprojekt „Café Schmalz“. „Das hat sich sozusagen selbst gegründet. Wir sind hier in Würmling mit Freunden zusammen gesessen, haben musiziert, da hat ein befreundeter Regisseur gemeint: ‚Des is wirklich a Café Schmalz, was ihr da spielts. Fürchterlich, aber reizvoll!’ Naja, und da hatten wir einen Namen und eine Band“, erinnert er sich und fügt dann augenzwinkernd hinzu. „Das war vor mittlerweile ca. 100 Jahren. Na gut, nicht soviel... aber 43 Jahre sinds schon. Das ist die älteste Swingband Niederösterreichs bittesehr!“ Und Thanheiser damit wahrscheinlich einer der ältesten Bandleader Österreichs – da braucht man gar nicht so ein Theater um den Buena Vista Social Club zu machen!
Auch eine andere Leidenschaft Thanheisers wird in Würmling an allen Ecken und Enden manifest: das Sammeln. Am Eingang zum Turm etwa prangt eine Tafel „Seniorenheim St. Johannis Stift“ „da hab ich nicht weit hin sozusagen“, flunkert er. Und auch sonst stößt man überall auf alte Schilder, etwa eines mit der irreführenden Adresse Viktor Adler Straße, oder eines, das vom bunten Schriftzug „Eisdiele“ geziert wird.
Dem aber nicht genug finden sich am ganzen Gelände weitere beeindruckende Kuriositäten. In mehreren mit Schindeln gedeckten Almhütten  (!) pennten dereinst etwa Künstler nach Happenings, und sogar ein alter Straßenbahnwaggon ist anno dazumal in Würmling gestanden und beherbergte verschiedene Ausstellungen. Mittlerweile hat Thanheiser das Teil dem Museum vermacht. Ein solches sucht er auch für sein offensichtlich liebstes Sammelobjekt (kein Wunder, er spielt es ja auch auf unvergleichliche Weise): Im gesamten Gebäude wimmelt es von Akkordeons – große, kleine, edle, skurrile: „Das Akkordeon ist eine österreichische Erfindung“, klärt er uns auf. „Ich hab ca. 200 Instrumente, dazu noch ca. 250 Exponate rund ums Thema. Das ist etwas Einzigartiges!“ Da kann man ihm nur beipflichten. Seit geraumer Zeit ist er auf der Suche nach geeigneten Räumlichkeiten, auch der Stadt St. Pölten hat er die Sammlung schon angeboten. Bislang konnte aber noch keine geeignete Heimstatt gefunden werden. Das Akkordeonmuseum ist Thanheiser jedenfalls ein Herzensanliegen. „Das würd ich noch gern abschließen“, meint er nachdenklich, und man ist über eine solche Aussage aus seinem Mund fast ein wenig überrascht, weil zum ersten Mal ein Hauch von Bilanzziehen, Lebensabend, Endlichkeit  durchschimmert. Wenn er sein Leben so bislang betrachtet, was empfindet er dann? „Trotz aller Buntheit meines Lebens ist da eine große Lebenszufriedenheit geblieben. Die Unpässlichkeiten sind letztlich an mir abgeprallt. Ich war immer unerschütterlich, hab mir immer gedacht, was soll mir schon passieren?“
Thanheiser hat sein Ding durchgezogen, ohne Zweifel. Und wie fährt man mit seiner Lebensphilosophie in Liebesdingen, das wollen wir natürlich auch noch wissen. „Gefühle entwickeln sich immer irgendwohin, manifestieren sich in dir oder gleiten aus einem wieder heraus. Ich war etwa – wie es sich gehört –  zweimal verheiratet!“, lacht er, und fügt dann hinzu. „Und, weil das Beste immer am Schluss kommt, habe ich jetzt eine wunderbare Seelengefährtin, und zwei prächtige Söhne – das sind sie wirklich!“
So klingt ein zufriedener Mensch, der das – was ihn am stärksten seit jeher ausgezeichnet hat – nach wie vor nicht verloren hat: Seine unbändige Neugierde und Lebensfreude, und so sind die Bilanzgedanken so schnell verraucht wie sie aufgelodert sind. „Ich glaube, es kommt noch irgendetwas. Da lauert noch etwas im Busch. Das spür ich, weil ich mein, das kann es ja nicht gewesen sein dieses Gauklerleben, oder?“, lacht er.
Nun, was jedenfalls kommt, ist ein Portrait von ihm im MFG, wobei mich Thanheiser beim Abschiednehmen ganz schön unter Druck setzt. „Also, wenn es gut wird, dann bekommst du einen Fleißzettel! Aber wenn es schlecht wird, dann hau ich es dir um die Ohren“, und dabei schaut ihm der Schalk aus den Augen, als wär er nicht 83 sondern 10! Ja definitiv: Da kommt noch was... ganz bestimmt!