MFG - Kopallkaserne - Der Unort
Kopallkaserne - Der Unort


MFG - Das Magazin
St. Pöltens gute Seite

Kopallkaserne - Der Unort

Ausgabe 09/2012
Das per se Unerquickliche des Militärischen zeigt sich allein schon daran, dass auf dem Gelände der ehemaligen, seit einigen Jahren weitgehend sich selbst überlassenen Kopalkaserne im Süden St. Pöltens, auf einem Areal von 335.829 Quadratmeter, auf einer Fläche von über 60 Fußballfeldern ganze zwei Kirschenbäume wachsen. Sonst gibt es dort nur Bäume, Sträucher, Stauden und Büsche mit ungenießbaren Früchten, vor allem aber viel Gras, getränkt mit dem Schweiß von ganzen Rekrutengenerationen, angepflanzt von fünf verschiedenen Armeen in der Zeit von 1888 bis 2006. Wenn man auf den breiten kopfsteingepflasterten, panzertauglichen Lagerstraßen, auf den endlos scheinenden Betonpisten innerhalb des  Kasernenareals dahin marschiert und vielleicht auch noch den geschotterten, verschlammten sogenannten Panzerkorridor zum nahen, ehemaligen Truppenübungsplatz Völtendorf begeht, kommt man sich ein wenig wie eine Art von Expeditionsteilnehmer in einer verödeten Kolchose im tiefsten Inneren Kasachstans vor, wobei mir natürlich vollkommen unklar ist, wie ich mir diesen Teil Mittelasiens vorzustellen hätte. Wie die Kopalkaserne wahrscheinlich, nur mit anderer Vegetation. Die Öde einer aufgegebenen militärischen Anlage ist vielleicht nur die logische Fortsetzung der Ödnis des militärischen Lebens an sich. Ich marschiere an zukünftigen, quasi werdenden Ruinen vorbei. 33 Gebäude stehen auf dem seit 2006 ungenutzten Gelände leer. Hölzerne Panzergaragen der Deutschen Wehrmacht, Mannschafts- und Wirtschaftsgebäude des österreichischen Bundesheeres aus den Sechzigerjahren, Panzerwerkstätten aus den Siebzigerjahren und eine hochmoderne Simulationsschießanlage für Leopard-Kampfpanzer, die im Jahr 2001 errichtet wurde und fünf Jahre später schon wieder obsolet war.
Besonders verlassen sieht die militärische Hindernisbahn am westlichen Rand des Kasernenareals aus: Hüfthohe Grasstöcke schmiegen sich längst an den graubraunen, feinrissigen Beton der einzelnen Hindernisse, an denen wohl zigtausende Rekruten Wasser und Blut geschwitzt haben. An den Rändern der Betonpisten, der asphaltierten Vorplätze zu den Garagen und Werkstätten sammelt sich Feinstaub, Flugsand, lockerer Boden für die ersten Pionierpflanzen, holziges Kraut, Disteln, winzige Stauden. Größere und kleinere Grasbüschel beginnen über die riesigen Parkplätze zu wachsen, auf denen zuletzt die Wehrbuckel, die Rekruten des Panzerbataillons 10 ihre Autos abgestellt haben. Am 12. Juni 2006 exakt um 10 Uhr 15 begannen 37 Leopard-Kampfpanzer aus der Kaserne zu rollen, um nie wiederzukehren. Wenig später wurde das riesige Areal zum Verkauf ausgeschrieben. Es erwies sich aber lange Zeit als Ladenhüter, den keiner haben wollte. Was vor allem am Preis gelegen haben dürfte, denn die SIVBEG, die bundeseigene Strategische Immobilien Verwertungs-, Beratungs- und Entwicklungsgesellschaft mit beschränkter Haftung für den riesigen Unort seit 2006 erfolglos verlangt hatte: 17 Millionen und 790.000 Euro. Im September 2011 erwarb der kürzlich verstorbene St. Pöltner Immobilienentwickler Julius Eberhardt das ganze Areal um 12,9 Millionen Euro. „So ein Grundstück auszulassen, wär‘ eine Todsünde“, so der 75-jährige Eberhardt damals. Mittlerweile hat die XXX-Lutzgruppe das Areal gekauft. Konkrete Pläne sind noch ausständig, es könnte aber in Richtung Wohnbau und Gewerbe gehen, zudem steht auch die Errichtung eines XXXL-Zentrallagers im Raum. *** 1888 kaufte der k.u.k. Barras eine Reihe von landwirtschaftlichen Flächen im Süden St. Pöltens, in den heutigen St. Pöltner Katastralgemeinden Spratzern und Teufelhof und verwendete sie als Übungs- und Exerzierplatz für die lokale Garnison, die damals vor allem aus dem Niederösterreichischen Landwehr-Infanterieregiment Nr. 21 bestand, in den folgenden Jahren aber durch den Bau von vier neuen Kasernen und den Ausbau der alteingesessenen k. u. k. Militärunterrealschule stark aufgestockt wurde. Der Truppenübungsplatz wurde nach dem Ende des 1. Weltkrieges vom österreichischen Bundesheer der 1. Republik übernommen und weiter benützt. Mit dem Finis Austriae im März 1938 war die Deutsche Wehrmacht Herr des Areals, das durch Zupachtungen riesiger bäuerlicher Flächen bedeutend erweitert und sehr rasch zu einer Kaserne ausgebaut wurde, die den Namen „Lager Spratzern“ trug. 1938 wurde darin vor allem die Neuformierung diverser österreichischer Einheiten zu Wehrmachtstruppenteilen abgewickelt. In der Nacht vom 20. auf den 21. August 1939 rückten von hier bereits Truppen in ihre Bereitstellungsräume gegen Polen ab. „Die für den Ernstfall vorgesehenen Ausrüstungsgegenstände wurden ausgegeben: Gasmasken, Munition sowie die ‚eiserne Portion‘ für einen allenfalls eintretenden Verpflegungsnotfall. [...]. Die fünfte Schwadron des Schützenregimentes 10 marschierte um 0.30 Uhr aus dem Lager Spratzern, worüber ein Gefreiter nach dem Krieg berichtete: ‚Trotz der Mitternachtsstunde war die Bevölkerung von St. Pölten in kleineren Gruppen auf der Straßen erschienen, um sich von der ausziehenden Truppe zu verabschieden‘“, ist beim St. Pöltner Historiker Wolfgang Pfleger nachzulesen. Die Standortverwaltung St. Pölten der Wehrmacht pachtete auch umfangreiche Flächen hinzu, auf denen ein Panzerübungsgelände eingerichtet wurde, das bis zur heutigen Obergrafendorfer Straße reichte. Weitere Grundstücke wurden für einen Garnisonsübungsplatz im nahen Völtendorf angekauft bzw. gepachtet, Kaserne und Übungsplatz schließlich durch eine Panzerstraße verbunden. Während des Zweiten Weltkrieges wurden hier von der Panzerersatz- und Ausbildungsabteilung 33 sowie den Kraftfahrerersatz- und Ausbildungsabteilungen 17 und 45 Panzerbesatzungen, Kraft- und Kradfahrer ausgebildet und an die diversen Fronten geworfen. Die Kraftfahrersatzabteilung 45 stellte auch das Gros der Akteure der „Wehrmachtsbühne Spratzern“, die – jedenfalls bis Stalingrad – bei „Bunten Abenden“ in und außerhalb der Kaserne die Unterhaltung selbst im Krieg nicht zu kurz kommen ließ, für uns Nachgeborene eine Art skurriler Totentanz einer völlig durchmilitarisierten und durchpolitisierten Gesellschaft, in der Gewalt so gewöhnlich und alltäglich wie Kernseife war. Auch der jeweilige „Tag der Wehrmacht“ im Lager Spratzern erfreute sich bei der Bevölkerung offenbar großer Beliebtheit: „Nach Zeitzeugenberichten strömten Stadtbewohner und die Bevölkerung aus der Umgebung mit ihren Familien ins Lager Spratzern. Dabei wurden Anmarschwege von zehn Kilometern und mehr gerne in Kauf genommen. Das Veranstaltungsprogramm war vielfältig und sollte alle Altersstufen ansprechen. Am ‚Tag der Wehrmacht‘ 1943 durften Kinder auf Ponys reiten, Jugendliche in Heereskraftfahrzeugen oder auf Panzern mitfahren. Einige Kradfahrer zeigten ihre Fahrkünste. Ein Non-Stop-Kino und eine Fotoausstellung versuchten ‚Einblick in die Leistungen der Panzerwaffe‘ an der Front zu vermitteln. Jugendliche schossen mit Kleinkalibergewehren (Wehrsportmodell) auf Brustringscheiben. Erwachsene feuerten mit Maschinengewehren bzw. mit einer Panzerabwehrkanone (Pak) mit Übungsmunition auf verschiedene Ziele. Der Musikzug der St. Pöltner SA-Standarte 21 spielte und ein Café sorgte zusätzlich für Stimmung“, schildert Wolfgang Pfleger. *** Auf einem historischen Luftbild eines Aufklärers der 15. US Airforce vom 23. März 1945 sind im Lager Spratzern rund 80 bauliche Einzelobjekte zu erkennen. Die amerikanischen B-24 „Liberator“ und B-17 „Flying Fortress“ bombardierten an diesem Tag allerdings nicht die weitläufige Wehrmachtskaserne, sondern den nahen Verschubbahnhof St. Pölten-Spratzern. Trotzdem gab es im Lager Spratzern vier Tote und wohl das ein oder andere militärische Objekt weniger. Eine Nacht vor dem Einmarsch der Roten Armee in St. Pölten am 15. April 1945 wurden einige Holzbaracken des Lagers Spratzern von deutschen Soldaten angefackelt. Ansonsten fiel das Militärlager den Eroberern aber weitgehend unzerstört in die Hände, die das Areal unverzüglich als sogenanntes Deutsches Eigentum beschlagnahmten und darin bis 1955 ein Panzerregiment unterbrachten. „Insgesamt gelangten 512 Hektar mit einem Einheitswert von 914.200 Reichsmark (Stand 1940) unter sowjetische Verwaltung. Da weiters die mit der Standortverwaltung St. Pölten (sprich der Wehrmacht; M. W.) abgeschlossenen Verträge während der NS-Herrschaft manchmal nicht im Grundbuch eingetragen wurden, standen nach Kriegsende die ursprünglichen Eigentümer daher entweder als Pächter der Grundstücke oder überhaupt in einem ungeklärten Eigentumsverhältnis zum bewirtschafteten Ackerland. [...]. Bereits vor dem Einmarsch der Roten Armee in St. Pölten wurden wertvolle Aktenbestände vernichtet bzw. Richtung Westen transportiert und blieben verschollen. Erschwerend zur Klärung der Grundbesitzverhältnisse kam noch hinzu, dass im Kreisgerichtsgebäude von 1945 bis 1955 das Kommando des (sowjetischen; M. W.) 95. Gardeschützenbataillons untergebracht war“, ist bei Wolfgang Pfleger nachzulesen. *** Nachdem die übrig gebliebenen Baracken des Wehrmachtslagers Spratzern 1956/1957 als Durchgangslager für ungarische Flüchtlinge, ein noch gänzlich unerforschtes Kapitel der St. Pöltner Stadtgeschichte, gedient hatten, zog am 17. September 1957 eine Einheit des jungen österreichischen Bundesheeres, nämlich die Brigade-Artillerie-Abteilung 2 aus Baden, hier ein. In der Folge wurde das Lager zu einer (Panzer-)Kaserne ausgebaut. 1967 wurde diese „Kaserne Spratzern“ bzw. „Panzerkaserne Spratzern“ in Kopalkaserne umbenannt. Für die St. Pöltner war der Namengeber kein Begriff, man griff wohl zu diversen Lexika und konnte darin etwa Folgendes lesen: Karl Kopal wurde 1788 im mährischen Ort Schidrowitz bei Znaim geboren. Nach dem Besuch der Realschule in Nikolsburg trat er als einfacher Soldat in das Infanterieregiment 22 ein, mit dem er unter anderem 1805 an der Schlacht von Austerlitz teilnahm. Während der Napoleonischen Kriege stieg er bis zum Hauptmann auf. In den anschließenden Garnisonsjahren im heimatlichen Mähren und in Böhmen brachte er es bis 1835 zum Major des Infanterieregimentes 8. 1836 wurde er als Kommandant des Feldjägerbataillons 7 in Fiume genannt, ein Jahr später in den Freiherrenstand, also in den niedersten österreichischen Adelsrang, erhoben und durfte sich fortan Karl von Kopal nennen. 1841 war er bereits Oberstleutnant. 1846 finden wir ihn als Kommandant des Feldjägerbataillons 10. Kopals Einheit war beim Bürgerkrieg in Italien in schwere Gefechte verwickelt. Am 10. Juni 1848 wurde er bei der Eroberung von Vicenza schwer verwundet, wobei ihm ein Bein amputiert werden musste. Daran starb der Berufssoldat wenige Tage später. Noch in seinem Todesjahr 1848 wurde er posthum mit dem Maria-Theresien-Orden ausgezeichnet, was für seine Witwe mit einer gar nicht so kleinen und lebenslangen Pension und für seine Kinder mit der Erhebung in den Freiherrenstand verbunden war. Die Verleihung des Maria-Theresien-Ordens mussten von einer potentiell zu ehrenden k. u. k. Militärperson selbst beantragt, die eigenen Waffentaten ausführlich geschildert werden. Wer für den verstorbenen Karl von Kopal diese bürokratische Aufgabe erledigte, ist unbekannt. 1850 bildete sich in Znaim ein Bürgerkomitee zur Sammlung von Spendengeldern für ein Kopaldenkmal, das 1853 am neu benannten Kopalplatz vor dem sogenannten Kaisertor auch tatsächlich errichtet wurde. Auf einem fast vier Meter hohen Granitobelisken thronte eine aus italienischem Beute-Kanonenmetall gegossene Siegesgöttin. Die beim Denkmal-Bau nicht gänzlich ausgegebenen Spendengelder wurden für eine Kopal-Invaliden-Stiftung verwendet. Drei Invalide des 10. Jäger-Bataillons erhielten 120 bzw. 60 bzw. 30 Gulden jährlich. Der höchstdotierte Invalide musste allerdings in Znaim seinen Wohnsitz nehmen und das Kopaldenkmal sowie den umliegenden Platz regelmäßig säubern. Spätestens nach 1918 wurden diese Zahlungen eingestellt, der Kopal-Platz in Komensky-Platz umbenannt und vom Denkmal alle Inschriften, die an Kopal und die k. u. k. Monarchie erinnerten, entfernt.
Nach der Auflassung der St. Pöltner Kopalkaserne erinnert heute nur mehr die Kopalgasse in Wien an den altösterreichischen Berufssoldaten, der aus einfachen Verhältnissen stammend über vierzig Dienstjahre brauchte, um den Aufstieg vom einfachen Soldaten bis in höhere Kommando-und Offiziersränge zu schaffen, dafür aber letztlich mit seinem Leben bezahlen musste. 1978 wurde das Kopal-Grabmal auf dem Friedhof von Vicenza abgebrochen, der Leichnam exhumiert. Auf dem St. Pöltner Hauptfriedhof erhielt er eine neue Ruhestätte. Denkt man daran, dass das Areal der ehemaligen St. Pöltner Kopalkaserne in einigen Jahren höchstwahrscheinlich von diversen Fachmärkten, Fabrikhallen, Gewerbebetrieben, Wohn- und Geschäftshäusern bedeckt sein wird, hätte man den Freiherren eigentlich genauso gut in Oberitalien in seinem alten Grab ruhen lassen können.