Stalingrad
Ausgabe
„Warum ich diese (handschriftlich) 127 Seiten geschrieben habe: Weil ich jener glücklichen Generation, die keinen Krieg miterleben mußte, vor Augen führen möchte, wie sinnlos es ist, einen Krieg zu führen, denn es gibt letztlich keinen Sieger und keinen Verlierer. Es gibt nur Blut und Tränen, hüben und drüben, Schmerzen und unsägliches Leid, hüben und drüben, verbrannte Erde und bitterste Not, hüben und drüben. Wenn du mich nach dem Rezept fragst, wie man das vermeiden könne? Es wären zwei Worte: Liebe und Glaube!“
Mit diesen Worten beginnt und endet eines der ernüchterndsten und in seiner Klarheit erschütterndsten Bücher, die ich jemals gelesen habe: Franz Schweigers Kriegserinnerungen „Stalingrad. Meine ‚feld‘-grauen Jahre“, die der heute 88jährige Eschenauer 1992 im Alter von 70 Jahren, also fast 50 Jahre nach dem Krieg, niederschrieb. Was Schweiger in seiner „Vorstellung auf vielleicht 30 handschriftliche Seiten angelegt hatte“, mutierte zu einem genauen, über 80 Schreibmaschineseiten starken Auf-, Abarbeiten der Kriegsjahre, in welchem der Kriegsteilnehmer in nüchternem Berichtton seine Erlebnisse von damals unpathetisch wiedergibt. Erlebnisse, die – ein Wort, das mehrmals in unserem Gespräch fallen wird – einfach nur „schreckbar waren.“
Später hat Franz Schweiger noch weitere Bücher verfasst. Eine Familienchronik, eine Jagdchronik und – unter dem Titel „Was ich noch sagen wollte“ – eine Autobiographie, welche sein restliches, mittlerweile fast neun Jahrzehnte währendes Leben umfasst. „Die Kriegsjahre habe ich darin ausgelassen, weil ich sie ja schon eigens verarbeitet hatte.“ Das entbehrt keiner gewissen Symbolik. Die Kriegsjahre waren in ihrer Schrecklichkeit und Monströsität so singulär, in ihrer Fülle so überwältigend, dass sie einer eigenen Aufarbeitung bedurften.
Auch der Umfang der beiden Erinnerungsbücher bringt die Singularität der Kriegsjahre zum Ausdruck: Die gut sechs Jahre umfassenden Kriegserinnerungen Schweigers umfassen soviele Seiten wie die restlichen fast 80 Jahre zusammengenommen.
Was hat sie eigentlich bewogen, Ihre Kriegserinnerungen niederzulegen?
Im Hinterkopf hatte ich schon länger vorgehabt, meine Erinnerungen aufzuschreiben, vor allem um meinen Enkeln zu erzählen, wie das damals gewesen ist, was ihr Großvater erlebt hat. Außerdem hatte ich schon immer eine gewisse Neigung zum Schreiben. Das Schwierige war die erste und die letzte Seite, dazwischen ist es herausgeflossen. Für mich war das letztlich wie eine Befreiung. Ich habe mir so viel von der Seele geschrieben, und es ist doch so: Wenn man sich öffnet, wenn man darüber spricht oder schreibt, dann wird es leichter. Ich wollte auch festhalten, wie unsinnig Krieg ist. Immer diese eine Frage: Warum? Warum? Warum?
Über Stalingrad haben nur wenige Soldaten geschrieben. Die meisten verfielen eher, wie es schien, in Schweigen, waren ob der erlebten Greuel im wahrsten Sinne des Wortes sprachlos. Andererseits wurde die Schlacht um Stalingrad zum Mythos stilisiert, zu einer Art Archetypus der schrecklichen Schlacht an sich und fand so auch künstlerische Stilisierung.
Es sollten nur Menschen darüber Zeugnis ablegen, die es erlebt haben. Stalingrad, den Krieg kann keiner begreifen, der nicht dort war. Der Schriftsteller Heinz Konsalik etwa, der nie in Stalingrad gewesen ist, hat einmal einen Roman geschrieben namens ‚Der Arzt von Stalingrad‘, und er hat das mit einer romantischen Liebesgeschichte verwoben. Das ist wie eine Verhöhnung der Soldaten, die dort gekämpft haben.
Nach Schätzungen sind mindestens 700.000 Soldaten gefallen! War das Überleben Glück? Zufall? Ein Wunder?
Ich habe Mitte der 70’er Jahre recherchiert, wer von meiner urpsrünglichen Einheit überlebt hat. Es waren sieben weitere Kameraden, von ursprünglich 27!
Ein Wunder im Krieg war sicher, dass eine Granate wenige Meter vor mir zum Liegen kam und nicht explodierte. Zuvor waren alle zu kurz geflogen und detoniert, just jene, die weit genug geflogen kam, war ein Blindgänger!
Als Glück erwies sich auch die Rettung meines Kameraden Hans Riegler. Zu dritt hatten wir uns geschworen, dass wir uns nie im Stich lassen. Als er im Gefecht verwundet wurde, habe ich ihn, am Rücken tragend, zum Verbandsplatz hinter der Linie gebracht. In der Zwischenzeit wurde die Front völlig überrannt. Das hat mir wohl das Leben gerettet.
Sie sprechen mehrmals im Buch auch vom „Unwahrscheinlichen“.
Da gab es mehrere Momente. Dazu gehörte etwa, dass ich während meiner ersten Frontzeit Cheffahrer wurde. Nachdem der Fahrer des Oberstleutnants den Tod fand, wurde ich sein Nachfolger, weil ich der einzige in meiner Kompanie mit einem Zivilführerschein war! Damit musste ich für lange Zeit nicht mehr radfahren oder marschieren, und hatte sozusagen ein festes Dach über dem Kopf. Das wog die negativen Seiten, dass ich etwa rund um die Uhr auf Abruf bereit sein musste und daher in Schuhen und Uniform schlief, auf.
Auch dem Einschluss in den Kessel sind Sie haarscharf, indirekt ebenfalls aufgrund Ihrer Fahrertätigkeit, entronnen?
Tatsächlich stellte es sich im Nachhinein als Glück heraus, dass wir Fahrer beauftragt wurden, die Fahrzeuge zur Reparatur nach Kalatsch hinter die Front zu bringen. Dort weilten wir fast einen Monat. Unser Kommandant hatte es zum Glück nicht sonderlich eilig, zurück an die Front zu kommen. Einen Tag vor der Rückfahrt wurde Kalatsch angegriffen. Die Russen waren durchgebrochen. Wir wurden von den Jägern zu den Gejagten. Bald darauf schloss sich der Kessel um Stalingrad. Zu unserer Einheit in Stalingrad konnten wir nie wieder durchdringen – was sich im Nachhinein als Glück herausstellte.
Der Tod ist ein steter Kriegsbegleiter, Sie schildern zahlreiche Augenblicke, wo Sie dem Tod um ein Haar entronnen sind. Zugleich galt dieser aber auch als eine Art letzter „Verbündeter“.
Es gab Situationen, da haben wir auf das Ende gewartet. Es war schreckbar. Wir waren völlig hilflos. Hatten nichts mehr zum Beißen, keine Munition mehr. Alles schien hoffnungslos. In meiner Manteltasche hatte ich – wie die meisten meiner Kameraden – immer eine Eierhandgranate mit dabei. Mir war klar, wenn ich einmal hier verwundet werde und nicht mehr wegkomme, dann lege ich sie mir unter den Kopf und spreng mich in die Luft. In die Hände der Russen zu fallen war keine Option.
Diesen Extremsituationen völliger Verzweiflung stehen als Pendant wenige Momente unbeschreiblichen Glück gegenüber, wenn man sich gerettet fühlte.
Wie zuvor besprochen, waren wir absolut am Ende. Unter Dauerbeschuss. Dann tauchten Panzer auf. Wir dachten, jetzt ist es endgültig aus. Doch als diese schwenkten, erblickten wir das Balkenkreuz der deutschen Wehrmacht. Wir waren gerettet. Das sind Sekunden, die vergisst man in 100 Jahren nicht mehr. Dann haben wir mit der Panzerdivision eine Zigarette geraucht. Ich war nie ein starker Raucher, aber in diesem Moment war es einfach herrlich.
Gab es im Laufe der Frontjahre – in Ihrem Buch klingt das bisweilen durch – eigentlich Wut auf jene, die ihnen das sozusagen eingebrockt hatten? Sie glorifizieren den Krieg ja niemals.
In meinen Augen ist der einzige gerechtfertigte Grund, zur Waffe zu greifen, jener, seine Heimat zu verteidigen. Dafür kann man auch sein Leben lassen. Aber nicht für andere, die einen in einen wahnsinnigen Krieg irgendwo hinführen. Wir kämpften 3.000 Kilometer von zuhause entfernt – im Vaterland des Feindes.
Wir einfachen Soldaten empfanden Wut. Bis hinunter zum Unteroffizier haben wir alle Oberen gehasst. Natürlich muss es welche geben, die Order geben, koordinieren – aber einen Offizier haben wir selten bei uns im Schützengraben gesehen. Die haben nur Befehle gegeben, waren in festen Bunkern weit hinter der Front in Sicherheit, und bekamen Ritterkreuz und Diamantenschwert.
Sie relativieren den Begriff „Heldentum“ in Ihrem Buch, gerade auch die Auszeichnungen. Wer war ein Held aus Ihrer Sicht?
Ein Held ist einer, der sein eigenes Leben fast wegschmeißt für die anderen. Das waren etwa jene, die Haftladungen an Panzer anbrachten. Ich war sicher kein Held. Ich habe mich nie zu einer Mission freiwillig gemeldet. Das ist meistens nicht gut ausgegangen. Wenn ich allerdings einen Befehl hatte, dann habe ich ihn ausgeführt.
Und dass man fürs Töten ausgezeichnet wird, das war mir immer zuwider. Jemanden im Krieg zu töten, das hat nichts mit Mut zu tun. Dafür hat man keine Auszeichnung verdient – da geht es rein ums eigene Überleben. Ich hab später auch nie meine Auszeichnungen getragen. Als einzige das Silberne Verwundungszeichen bei Treffen des Kameradschaftsbundes.
Wie ist man damit fertig geworden, dass man töten musste, um zu überleben. Sie schildern selbst einige Erlebnisse.
Ich hab das einmal Aug in Auge erlebt. Ich sehe noch heute das Bild des Russen, wie seine braune Pelzmütze hinterm Schnee auftaucht, mit dem Sowjetstern darauf, wie er sein Gewehr in Anschlag bringt. Ich war eine Sekunde schneller. Nachher hab ich ihn nicht mehr gesehen. Wahrscheinlich ist er nach hinten gestürzt. Er könnte auch geflüchtet sein... aber das ist unwahrscheinlich. Das werde ich mein Leben lang nicht mehr loswerden. Davon träume ich heute noch! Auch er war ein normaler Bürger, hatte wahrscheinlich Kinder, Familie. Aber man wägt nicht ab in diesem Moment. Du hast keine Zeit. Die Frage ist nur: er oder ich. Wer ist schneller. Da ist der Überlebenstrieb stärker.
Gab es nachher Ressentiments gegen die „Feinde“?
Nein. Jeder Mensch ist ein Mensch – egal ob Österreicher, Russe oder Schwede. Sie haben ihre Heimat verteidigt.
Es klingt vielleicht dumm – aber lernt man durch den Krieg etwas über sich selbst?
Eines hat der Krieg jedenfalls gezeigt: Der Mensch hält viel mehr aus, als man glaubt. Man erträgt die Schmerzen leichter.
Für uns Nachgeborene schier unvorstellbar ist die Vorstellung, dass sich Soldaten eine Verwundung regelrecht wünschten.
Als Soldat an der Front hatte man immer die Hoffnung auf einen sogenannten „Heimatschuss“, dass man also verwundet wird und so von der Front wegkommt, zurück in die Heimat. Einen Bauchschuss hingegen hat man gefürchtet, er bedeutete ein Todesurteil. Dass man völlig unversehrt aus dem Krieg zurückkommt, dieser Illusion gab sich keiner von uns hin.
Sie selbst haben verschiedenste Verletzungen davon getragen. Beeinträchtigten diese Ihr späteres Leben?
Eigentlich nicht. Die drei Zehen, die mir abgefroren sind, habe ich eigentlich vergessen. Und die Knieverletzung, wodurch das eine Bein kürzer als das andere ist, kann ebenfalls mit orthopädischen Schuhen gut ausgeglichen werden.
Welche Rolle spielte die Post? Sie berichten von der 1. Post, die sie bekamen, welch unglaubliches Gefühl das war – „der schönste Tag“ schreiben sie da!
Briefe waren extrem wichtig. Sie waren ein Stück Heimat. Einmal habe ich zwei gleichzeitig bekommen. Die habe ich dann nicht auf einmal gelesen, sondern einzeln hintereinander, jeden Tag einen. Ein andermal bekamen wir ein Paket. Darin waren selbstgestrickte Socken und Handschuhe eines Mädchens, das ein paar Zeilen dazugeschrieben hat. „Lieber Soldat! Ich heiße Maria, bin 12 Jahre und hoffe, dir damit Freude zu bereiten. Bleibe gesund und viele Grüße von der Heimat, Maria!“ Das war so berührend, dass mir die Tränen gekommen sind. In solchen Momenten war man für einen Moment ganz daheim. Und auch der Mond war für mich wie eine Brücke in die Heimat. Da dachte ich mir, jetzt schauen auch meine Liebsten zuhause gerade hinauf und denken an mich.
Sie schreiben weiters, dass im Krieg zuletzt im übertragenen Sinne nur mehr der Glaube bleibt und dass das ‚Vater Unser‘ für Sie besondere Bedeutung bekam.
Ja. „Gib uns unser täglich Brot“ – das war einfach so! Ein Stück Brot war ein Heiligtum! Wir haben oft Hunger gelitten. Viele sind an Erschöpfung gestorben. Deshalb bin ich später fast zornig geworden, wenn ich gesehen hab, wenn ein Enkerl von einem Brot abgebissen und es anschließend achtlos weggelegt hat. Wenn man das mitgemacht hat, den Hunger erlebt hat, dann sieht man die Dinge natürlich anders.
Auch „Herr dein Wille geschehe“ war einfach so. Man war ja in gewisser Weise völlig ausgeliefert, und in der Gefangenschaft war das noch schlimmer, da warst du völlig von anderen abhängig. Schon beim Marsch ins Lager sind viele, die älteren, zusammengebrochen und haben gesagt: Lasst mich liegen. Ich kann nicht mehr. Das waren zu 90% Todeskandidaten. Das war schreckbar – und man konnte nichts dagegen tun.
Sie erzählen auch von einem Weihnachtsfest an der Front, dass abgebrochene Zweige im Bunker ein wenig Heimat vermitteln sollten - und von einem Schwur.
Ich habe mir damals geschworen, wenn ich Weihnachten jemals wieder zuhause bei meinen Lieben feiern sollte, dann werde ich an diesem Tag zu mittags immer nur Kartoffelsuppe essen. Das mache ich bis heute so. Bis 18 Uhr halte ich einen Fasttag und esse mittags nur die Kartoffelsuppe mit Schwammerln. Danach gehe ich zu Fuß in die Nachmittagsmette nach Eschenau.
Bei allem Wahnsinn der Kriegserfahrung, kann man dem im Nachhinein dennoch irgendeine Bedeutung zuschreiben?!
Es gibt zwei, drei positive Aspekte, die ich erlebte.
Das eine war die Kameradschaft auf Leben und Tod. Das kann man mit nichts vergleichen. Das gibt es nur im Krieg. Und diese Kameradschaft verband dich auch mit jenen, die du nur beim Patrouillenwechsel getroffen hast.
Das zweite Glück waren meine Erfrierungen und dass der Arzt, der den Platz im Lazarett zuhause – das war in der Grillparzer Volksschule – zuwies, mein Hausarzt war. Dadurch wurde ich nicht im Feldlazarett operiert, wo man mir wohl den Fuß bis zur Ferse amputiert hätte, sondern konnte nachhause. Der Arzt amputierte nicht, sondern ließ die gefrorenen Zehenteile einfach abfallen. So blieb der Fuß großteils erhalten.
Nach dem Lazarettaufenthalt kam ich nach Zipf, wo in den Stollen Anlagen für den Betrieb der V1 und V2 Raketen entwickelt wurden – das war alles streng geheim. Wir durften uns nicht weiter als 10 km von dort entfernen und mussten absolutes Stillschweigen bewahren. Dort war in der Nähe ein Bauernhof, wo ich meine spätere Frau Paula kennenlernte. Der Funke ist sofort übergesprungen. Ohne Krieg hätte ich sie nie kennengelernt, und nun sind wir schon seit 61 Jahren verheiratet!
Sind Sie eigentlich jemals wieder zurückgekehrt nach dem Krieg?
Nach Stalingrad? Nein, niemals. Ich will es nicht mehr sehen!
Infos zum Thema:
DAS BUCH
Franz Schweiger: „Stalingrad. Meine „feld“-grauen Jahre.“
Eigenverlag 1992
Erhältlich im Gasthof Pils,
A-3153 Eschenau, Rotheau 6.
Telefon 02762/68613
Später hat Franz Schweiger noch weitere Bücher verfasst. Eine Familienchronik, eine Jagdchronik und – unter dem Titel „Was ich noch sagen wollte“ – eine Autobiographie, welche sein restliches, mittlerweile fast neun Jahrzehnte währendes Leben umfasst. „Die Kriegsjahre habe ich darin ausgelassen, weil ich sie ja schon eigens verarbeitet hatte.“ Das entbehrt keiner gewissen Symbolik. Die Kriegsjahre waren in ihrer Schrecklichkeit und Monströsität so singulär, in ihrer Fülle so überwältigend, dass sie einer eigenen Aufarbeitung bedurften.
Auch der Umfang der beiden Erinnerungsbücher bringt die Singularität der Kriegsjahre zum Ausdruck: Die gut sechs Jahre umfassenden Kriegserinnerungen Schweigers umfassen soviele Seiten wie die restlichen fast 80 Jahre zusammengenommen.
Was hat sie eigentlich bewogen, Ihre Kriegserinnerungen niederzulegen?
Im Hinterkopf hatte ich schon länger vorgehabt, meine Erinnerungen aufzuschreiben, vor allem um meinen Enkeln zu erzählen, wie das damals gewesen ist, was ihr Großvater erlebt hat. Außerdem hatte ich schon immer eine gewisse Neigung zum Schreiben. Das Schwierige war die erste und die letzte Seite, dazwischen ist es herausgeflossen. Für mich war das letztlich wie eine Befreiung. Ich habe mir so viel von der Seele geschrieben, und es ist doch so: Wenn man sich öffnet, wenn man darüber spricht oder schreibt, dann wird es leichter. Ich wollte auch festhalten, wie unsinnig Krieg ist. Immer diese eine Frage: Warum? Warum? Warum?
Über Stalingrad haben nur wenige Soldaten geschrieben. Die meisten verfielen eher, wie es schien, in Schweigen, waren ob der erlebten Greuel im wahrsten Sinne des Wortes sprachlos. Andererseits wurde die Schlacht um Stalingrad zum Mythos stilisiert, zu einer Art Archetypus der schrecklichen Schlacht an sich und fand so auch künstlerische Stilisierung.
Es sollten nur Menschen darüber Zeugnis ablegen, die es erlebt haben. Stalingrad, den Krieg kann keiner begreifen, der nicht dort war. Der Schriftsteller Heinz Konsalik etwa, der nie in Stalingrad gewesen ist, hat einmal einen Roman geschrieben namens ‚Der Arzt von Stalingrad‘, und er hat das mit einer romantischen Liebesgeschichte verwoben. Das ist wie eine Verhöhnung der Soldaten, die dort gekämpft haben.
Nach Schätzungen sind mindestens 700.000 Soldaten gefallen! War das Überleben Glück? Zufall? Ein Wunder?
Ich habe Mitte der 70’er Jahre recherchiert, wer von meiner urpsrünglichen Einheit überlebt hat. Es waren sieben weitere Kameraden, von ursprünglich 27!
Ein Wunder im Krieg war sicher, dass eine Granate wenige Meter vor mir zum Liegen kam und nicht explodierte. Zuvor waren alle zu kurz geflogen und detoniert, just jene, die weit genug geflogen kam, war ein Blindgänger!
Als Glück erwies sich auch die Rettung meines Kameraden Hans Riegler. Zu dritt hatten wir uns geschworen, dass wir uns nie im Stich lassen. Als er im Gefecht verwundet wurde, habe ich ihn, am Rücken tragend, zum Verbandsplatz hinter der Linie gebracht. In der Zwischenzeit wurde die Front völlig überrannt. Das hat mir wohl das Leben gerettet.
Sie sprechen mehrmals im Buch auch vom „Unwahrscheinlichen“.
Da gab es mehrere Momente. Dazu gehörte etwa, dass ich während meiner ersten Frontzeit Cheffahrer wurde. Nachdem der Fahrer des Oberstleutnants den Tod fand, wurde ich sein Nachfolger, weil ich der einzige in meiner Kompanie mit einem Zivilführerschein war! Damit musste ich für lange Zeit nicht mehr radfahren oder marschieren, und hatte sozusagen ein festes Dach über dem Kopf. Das wog die negativen Seiten, dass ich etwa rund um die Uhr auf Abruf bereit sein musste und daher in Schuhen und Uniform schlief, auf.
Auch dem Einschluss in den Kessel sind Sie haarscharf, indirekt ebenfalls aufgrund Ihrer Fahrertätigkeit, entronnen?
Tatsächlich stellte es sich im Nachhinein als Glück heraus, dass wir Fahrer beauftragt wurden, die Fahrzeuge zur Reparatur nach Kalatsch hinter die Front zu bringen. Dort weilten wir fast einen Monat. Unser Kommandant hatte es zum Glück nicht sonderlich eilig, zurück an die Front zu kommen. Einen Tag vor der Rückfahrt wurde Kalatsch angegriffen. Die Russen waren durchgebrochen. Wir wurden von den Jägern zu den Gejagten. Bald darauf schloss sich der Kessel um Stalingrad. Zu unserer Einheit in Stalingrad konnten wir nie wieder durchdringen – was sich im Nachhinein als Glück herausstellte.
Der Tod ist ein steter Kriegsbegleiter, Sie schildern zahlreiche Augenblicke, wo Sie dem Tod um ein Haar entronnen sind. Zugleich galt dieser aber auch als eine Art letzter „Verbündeter“.
Es gab Situationen, da haben wir auf das Ende gewartet. Es war schreckbar. Wir waren völlig hilflos. Hatten nichts mehr zum Beißen, keine Munition mehr. Alles schien hoffnungslos. In meiner Manteltasche hatte ich – wie die meisten meiner Kameraden – immer eine Eierhandgranate mit dabei. Mir war klar, wenn ich einmal hier verwundet werde und nicht mehr wegkomme, dann lege ich sie mir unter den Kopf und spreng mich in die Luft. In die Hände der Russen zu fallen war keine Option.
Diesen Extremsituationen völliger Verzweiflung stehen als Pendant wenige Momente unbeschreiblichen Glück gegenüber, wenn man sich gerettet fühlte.
Wie zuvor besprochen, waren wir absolut am Ende. Unter Dauerbeschuss. Dann tauchten Panzer auf. Wir dachten, jetzt ist es endgültig aus. Doch als diese schwenkten, erblickten wir das Balkenkreuz der deutschen Wehrmacht. Wir waren gerettet. Das sind Sekunden, die vergisst man in 100 Jahren nicht mehr. Dann haben wir mit der Panzerdivision eine Zigarette geraucht. Ich war nie ein starker Raucher, aber in diesem Moment war es einfach herrlich.
Gab es im Laufe der Frontjahre – in Ihrem Buch klingt das bisweilen durch – eigentlich Wut auf jene, die ihnen das sozusagen eingebrockt hatten? Sie glorifizieren den Krieg ja niemals.
In meinen Augen ist der einzige gerechtfertigte Grund, zur Waffe zu greifen, jener, seine Heimat zu verteidigen. Dafür kann man auch sein Leben lassen. Aber nicht für andere, die einen in einen wahnsinnigen Krieg irgendwo hinführen. Wir kämpften 3.000 Kilometer von zuhause entfernt – im Vaterland des Feindes.
Wir einfachen Soldaten empfanden Wut. Bis hinunter zum Unteroffizier haben wir alle Oberen gehasst. Natürlich muss es welche geben, die Order geben, koordinieren – aber einen Offizier haben wir selten bei uns im Schützengraben gesehen. Die haben nur Befehle gegeben, waren in festen Bunkern weit hinter der Front in Sicherheit, und bekamen Ritterkreuz und Diamantenschwert.
Sie relativieren den Begriff „Heldentum“ in Ihrem Buch, gerade auch die Auszeichnungen. Wer war ein Held aus Ihrer Sicht?
Ein Held ist einer, der sein eigenes Leben fast wegschmeißt für die anderen. Das waren etwa jene, die Haftladungen an Panzer anbrachten. Ich war sicher kein Held. Ich habe mich nie zu einer Mission freiwillig gemeldet. Das ist meistens nicht gut ausgegangen. Wenn ich allerdings einen Befehl hatte, dann habe ich ihn ausgeführt.
Und dass man fürs Töten ausgezeichnet wird, das war mir immer zuwider. Jemanden im Krieg zu töten, das hat nichts mit Mut zu tun. Dafür hat man keine Auszeichnung verdient – da geht es rein ums eigene Überleben. Ich hab später auch nie meine Auszeichnungen getragen. Als einzige das Silberne Verwundungszeichen bei Treffen des Kameradschaftsbundes.
Wie ist man damit fertig geworden, dass man töten musste, um zu überleben. Sie schildern selbst einige Erlebnisse.
Ich hab das einmal Aug in Auge erlebt. Ich sehe noch heute das Bild des Russen, wie seine braune Pelzmütze hinterm Schnee auftaucht, mit dem Sowjetstern darauf, wie er sein Gewehr in Anschlag bringt. Ich war eine Sekunde schneller. Nachher hab ich ihn nicht mehr gesehen. Wahrscheinlich ist er nach hinten gestürzt. Er könnte auch geflüchtet sein... aber das ist unwahrscheinlich. Das werde ich mein Leben lang nicht mehr loswerden. Davon träume ich heute noch! Auch er war ein normaler Bürger, hatte wahrscheinlich Kinder, Familie. Aber man wägt nicht ab in diesem Moment. Du hast keine Zeit. Die Frage ist nur: er oder ich. Wer ist schneller. Da ist der Überlebenstrieb stärker.
Gab es nachher Ressentiments gegen die „Feinde“?
Nein. Jeder Mensch ist ein Mensch – egal ob Österreicher, Russe oder Schwede. Sie haben ihre Heimat verteidigt.
Es klingt vielleicht dumm – aber lernt man durch den Krieg etwas über sich selbst?
Eines hat der Krieg jedenfalls gezeigt: Der Mensch hält viel mehr aus, als man glaubt. Man erträgt die Schmerzen leichter.
Für uns Nachgeborene schier unvorstellbar ist die Vorstellung, dass sich Soldaten eine Verwundung regelrecht wünschten.
Als Soldat an der Front hatte man immer die Hoffnung auf einen sogenannten „Heimatschuss“, dass man also verwundet wird und so von der Front wegkommt, zurück in die Heimat. Einen Bauchschuss hingegen hat man gefürchtet, er bedeutete ein Todesurteil. Dass man völlig unversehrt aus dem Krieg zurückkommt, dieser Illusion gab sich keiner von uns hin.
Sie selbst haben verschiedenste Verletzungen davon getragen. Beeinträchtigten diese Ihr späteres Leben?
Eigentlich nicht. Die drei Zehen, die mir abgefroren sind, habe ich eigentlich vergessen. Und die Knieverletzung, wodurch das eine Bein kürzer als das andere ist, kann ebenfalls mit orthopädischen Schuhen gut ausgeglichen werden.
Welche Rolle spielte die Post? Sie berichten von der 1. Post, die sie bekamen, welch unglaubliches Gefühl das war – „der schönste Tag“ schreiben sie da!
Briefe waren extrem wichtig. Sie waren ein Stück Heimat. Einmal habe ich zwei gleichzeitig bekommen. Die habe ich dann nicht auf einmal gelesen, sondern einzeln hintereinander, jeden Tag einen. Ein andermal bekamen wir ein Paket. Darin waren selbstgestrickte Socken und Handschuhe eines Mädchens, das ein paar Zeilen dazugeschrieben hat. „Lieber Soldat! Ich heiße Maria, bin 12 Jahre und hoffe, dir damit Freude zu bereiten. Bleibe gesund und viele Grüße von der Heimat, Maria!“ Das war so berührend, dass mir die Tränen gekommen sind. In solchen Momenten war man für einen Moment ganz daheim. Und auch der Mond war für mich wie eine Brücke in die Heimat. Da dachte ich mir, jetzt schauen auch meine Liebsten zuhause gerade hinauf und denken an mich.
Sie schreiben weiters, dass im Krieg zuletzt im übertragenen Sinne nur mehr der Glaube bleibt und dass das ‚Vater Unser‘ für Sie besondere Bedeutung bekam.
Ja. „Gib uns unser täglich Brot“ – das war einfach so! Ein Stück Brot war ein Heiligtum! Wir haben oft Hunger gelitten. Viele sind an Erschöpfung gestorben. Deshalb bin ich später fast zornig geworden, wenn ich gesehen hab, wenn ein Enkerl von einem Brot abgebissen und es anschließend achtlos weggelegt hat. Wenn man das mitgemacht hat, den Hunger erlebt hat, dann sieht man die Dinge natürlich anders.
Auch „Herr dein Wille geschehe“ war einfach so. Man war ja in gewisser Weise völlig ausgeliefert, und in der Gefangenschaft war das noch schlimmer, da warst du völlig von anderen abhängig. Schon beim Marsch ins Lager sind viele, die älteren, zusammengebrochen und haben gesagt: Lasst mich liegen. Ich kann nicht mehr. Das waren zu 90% Todeskandidaten. Das war schreckbar – und man konnte nichts dagegen tun.
Sie erzählen auch von einem Weihnachtsfest an der Front, dass abgebrochene Zweige im Bunker ein wenig Heimat vermitteln sollten - und von einem Schwur.
Ich habe mir damals geschworen, wenn ich Weihnachten jemals wieder zuhause bei meinen Lieben feiern sollte, dann werde ich an diesem Tag zu mittags immer nur Kartoffelsuppe essen. Das mache ich bis heute so. Bis 18 Uhr halte ich einen Fasttag und esse mittags nur die Kartoffelsuppe mit Schwammerln. Danach gehe ich zu Fuß in die Nachmittagsmette nach Eschenau.
Bei allem Wahnsinn der Kriegserfahrung, kann man dem im Nachhinein dennoch irgendeine Bedeutung zuschreiben?!
Es gibt zwei, drei positive Aspekte, die ich erlebte.
Das eine war die Kameradschaft auf Leben und Tod. Das kann man mit nichts vergleichen. Das gibt es nur im Krieg. Und diese Kameradschaft verband dich auch mit jenen, die du nur beim Patrouillenwechsel getroffen hast.
Das zweite Glück waren meine Erfrierungen und dass der Arzt, der den Platz im Lazarett zuhause – das war in der Grillparzer Volksschule – zuwies, mein Hausarzt war. Dadurch wurde ich nicht im Feldlazarett operiert, wo man mir wohl den Fuß bis zur Ferse amputiert hätte, sondern konnte nachhause. Der Arzt amputierte nicht, sondern ließ die gefrorenen Zehenteile einfach abfallen. So blieb der Fuß großteils erhalten.
Nach dem Lazarettaufenthalt kam ich nach Zipf, wo in den Stollen Anlagen für den Betrieb der V1 und V2 Raketen entwickelt wurden – das war alles streng geheim. Wir durften uns nicht weiter als 10 km von dort entfernen und mussten absolutes Stillschweigen bewahren. Dort war in der Nähe ein Bauernhof, wo ich meine spätere Frau Paula kennenlernte. Der Funke ist sofort übergesprungen. Ohne Krieg hätte ich sie nie kennengelernt, und nun sind wir schon seit 61 Jahren verheiratet!
Sind Sie eigentlich jemals wieder zurückgekehrt nach dem Krieg?
Nach Stalingrad? Nein, niemals. Ich will es nicht mehr sehen!
Infos zum Thema:
DAS BUCH
Franz Schweiger: „Stalingrad. Meine „feld“-grauen Jahre.“
Eigenverlag 1992
Erhältlich im Gasthof Pils,
A-3153 Eschenau, Rotheau 6.
Telefon 02762/68613