Das "oops-wrong-planet-syndrom"
Ausgabe
„Ich stehe auf einer Slackline, die an zwei Berggipfeln befestigt ist. An beiden Gipfeln stehen Menschen, die mir zurufen. Sie wollen mir helfen und ermutigen mich, auf sie zuzugehen. Ich habe mein Kind im Arm und habe einfach nicht mehr die Kraft, irgendwohin zu gehen. Meine einzige Möglichkeit ist es, das Kind in den Abgrund fallen zu lassen und zu gehen. Ich bin seine Mutter. Es wird Zeit, dass die Leute zu mir kommen.“
Dieses Bild verfolgt. Es macht neugierig auf ein besonderes Schicksal. Dieses Bild spricht sich Susanne Huber (Name von der Redaktion geändert) bei der Therapeutin ihres Sohnes Thomas von der Seele. Sie ist die Mutter eines Asperger-Autisten. Sie hält durch. Für ihren Sohn, für ihre Familie. Und schafft dabei einen unmöglichen Spagat.
An einem sonnigen Tag treffen wir uns mit Susanne Huber im Sozialraum des St. Pöltner Ambulatoriums Sonnenschein. Dort ist sie schon gut bekannt, genauso wie ihr 15-jähriger Sohn Thomas. Susanne Huber ist eine sportliche Frau, Anfang vierzig mit strahlenden grünen Augen und einer besonderen Hingabe. Am Beginn des Gesprächs ist sie eher unruhig, man merkt, sie hat eigentlich andere Aufgaben zu erledigen. Doch dann fällt ihr das Reden leicht, so als ob es erleichternd ist, sich anzuvertrauen.
Eigentlich ist es ja ein Thema, bei dem die meisten Menschen gerne weg schauen. „Bei meinem Sohn würden Sie nicht weg schauen“, lacht die Mutter, „der ist nämlich sehr gutaussehend.“ Der mütterliche Stolz zeigt sich in ihren Augen.
Beginnen wir beim Anfang. Als Thomas geboren wurde, waren Susanne Huber schon einige Dinge etwas suspekt. Sie hatte ja einen direkten Vergleich. Ihre Tochter Lisa ist 16 Monate davor auf die Welt gekommen. Doch im Gegensatz zu Lisa war Thomas viel kleiner, leichter und zerbrechlicher. Im Krankenhaus hat man das so hingenommen und die nunmehr zweifache Mutter nach kurzer Zeit nachhause gehen lassen. Thomas wollte sich allerdings nicht so entwickeln, wie jeder Elternteil gehofft hatte. Er hat rund um die Uhr geschlafen, kaum einen Laut von sich gegeben und so gut wie nichts zu sich genommen. Beim Stillen ist er immer wieder eingeschlafen und mit knapp einem halben Jahr hat er ganz aufgehört, Nahrung aufzunehmen. Beim Kinderarzt wurde die Familie Huber stets vertröstet. Das wird schon wieder. Jedes Kind ist anders. Nachdem Thomas stark abgenommen hatte und sich ständig erbrach, konnten auch die Ärzte den Zustand nicht mehr ignorieren. Aufwendige und langwierige Untersuchungen ergaben eine Anomalie am Mageneingang, die es verhinderte, dass die Nahrung im Magen bleibt. Das würde sich legen, wenn Thomas zu stehen und gehen beginnt. Doch Thomas war zu schwach, um zu stehen und zu gehen. Susanne Huber behilft sich mit einem Kinderwagen, dessen Liegefläche man schräg stellen kann. So ging es schließlich, und Thomas konnte endlich mit 14 Monaten sitzen. Weitere Meilensteine waren der erste Schritt mit eineinhalb Jahren und das freie Gehen mit zwei Jahren. Doch der kleine Bub bleibt auffällig. Als Mutter bleibt Susanne Huber natürlich dran, doch die Ärzte helfen nur zurückhaltend weiter. „Das war schon äußerst schwierig für mich. Ich habe den Thomas vor mir und kenne seine Schwachstellen, aber niemand wollte mir glauben.“ beschreibt Susanne Huber die verzweifelte Situation. Mit sechs Jahren ist Thomas schulunreif und wird erst ein Jahr später eingeschult. Seine schlechten sozialen Fähigkeiten lassen ihn unerzogen erscheinen, und deshalb kommt er in eine Integrationsklasse in der Grillparzer Volksschule. Dann endlich kurz vor den Ferien in der vierten Klasse Volksschule kommt die Diagnose: Thomas ist ein Asperger-Autist. Dass die Diagnose so lange gedauert hat, liegt daran, dass Thomas sehr gut gefördert wurde und viele Symptome bei ihm nicht so massiv erkennbar waren wie angenommen. Schon in den 1940er Jahren haben Hans Asperger in Österreich und Leo Kanner in den USA herausgefunden, dass es solche Menschen gibt. Dann gerieten diese Erkenntnisse in Vergessenheit, bis Lorna Wing in Großbritannen in den 1980er Jahren wieder daran erinnerte, dass Asperger Autisten existieren und stets falsch diagnostiziert und behandelt werden. Bis sich dies allerdings nach Österreich durchsprach, dauerte es bis rund 2000. Da Thomas älter ist, kam man erst sehr spät auf die Idee, ihn darauf zu testen.
Das Asperger Syndrom ist eine Form des hochfunktionellen Autismus. Als Hauptmerkmal besteht beim Asperger-Syndrom die soziale Kontaktstörung. Menschen mit dem Asperger Syndrom wirken in ihrem Umfeld vielleicht eigenbrötlerisch, manchmal auch eigenartig, zumeist jedoch normal. Daher fallen sie oft durch den sogenannten Rost und bekommen nicht die Unterstützung, die sie benötigen. Diagnostisch sind sie nicht geistig behindert, sondern normal intelligent. Sie können allerdings die sozialen Zeichen, die unser Inneres nach außen tragen – also Gesten, Gesichtsausdruck, Tonfall – schlechter „lesen“. Das macht sie zu Menschen mit besonderen Bedürfnissen. Dass Menschen mit autistischen Störungen oft teilnahmslos wirken, liegt nicht an ihrer Unfähigkeit zu Mitgefühl, denn sobald sie wissen, was andere denken und fühlen, können sie das auch nachempfinden. Man muss es ihnen nur sagen. Und genau das macht Susanne Huber. Sie sagt Thomas, dass er beim Kauen den Mund zumachen soll, an der Straße stehen bleiben muss, dass andere auch sprechen dürfen, dass man fragt, wenn man etwas haben möchte, usw. Alle Dinge, die für andere 15-jährige normal sind, an die muss er ständig erinnert werden, weil er sich selbst nicht reflektieren kann. „Deshalb habe ich zuhause überall Zettel hingeklebt, was zu tun ist und wie mit etwas umzugehen ist. Zuhause ist auch ein Rückzugsort, an dem es leise sein soll. Und ich bin es leid, den ganzen Tag zu reden“, beschreibt sie ihren Alltag. Da Thomas Schmerzen nicht gut empfinden kann und selbst keine Anzeichen einer Grippe erkennt, muss die Mutter zehnmal so aufmerksam sein. So wird Susanne Huber schnell verschrien als „hysterische Glucke“.
Freunde und Familie ziehen sich zurück. Die Familie Huber lebt isoliert. Auch Tochter Lisa fühlt sich mit ihrer Situation allein. Sie ist hochbegabt, extrem sozial und sehr musikalisch. Lisa ist eine der wenigen Bezugspersonen für ihren Bruder. Doch wenn es hart auf hart kommt, wurde sie schon mal zur Oma „evakuiert“. „Lisa verarbeitet ihre Erfahrungen in ihrer Musik. Lisa macht das ganz toll. Leider bin ich nicht immer ausreichend Mutter für sie“, erzählt Susanne Huber stolz und traurig zugleich.
Aus ihrer isolierten Stellung heraus entscheidet sich Susanne Huber ihren Beruf als Sekretärin nicht wieder aufzunehmen und sich mit der Krankheit ihres Sohnes zu beschäftigen. Sie besucht Kurse und viele Seminare und merkt, dass sie Thomas sehr viel beibringen kann. „Irgendwann habe ich dann nicht mehr gewusst, ob ich mit meinem Sohn kuschle oder mit meinem Patienten. Das war der Moment, in dem ich alle Therapien an Spezialisten abgegeben habe und nur mehr Mutter sein wollte“, erinnert sie sich an die Zeit. Thomas braucht Logopäden, um sich ausdrücken zu lernen, Physiotherapeuten, um sich bewegen zu lernen und Psychotherapeuten, um mit seinen Aggressionen umgehen zu lernen. Es gibt für das Asperger Syndrom keine Heilung, aber die Behandlungen machen es besser. Im Ambulatorium Sonnenschein finden die Hubers eine gute Anlaufstelle. Allerdings gab es Budgetkürzungen und Thomas darf immer nur eine Therapie besuchen, obwohl alle drei notwendig sind. So muss die Familie Huber Prioritäten setzen und das ist momentan die Therapie, damit Thomas nicht zu prügeln beginnt.
Der Alltag der Familie ist etwas anders, als in anderen Familien. Vater Huber kümmert sich um den Lebensunterhalt der vierköpfigen Familie und ist nicht viel zuhause. „Mein Mann geht arbeiten, um unser Leben zu ermöglichen. Ich gehe arbeiten, um auch einmal rauszukommen. Aber da ich oft spontan weg muss, habe ich bereits drei Mal meinen Job verloren“ beschreibt Susanne Huber die Lage. Sie hat völlig umgesattelt und ist jetzt Bewegungstrainerin für Kinder, und als solche weithin bekannt. Das macht ihr Spaß, aber ihre Priorität ist Thomas. „Ich habe meinen Sohn nie als Last empfunden. Er ist meine Lebensaufgabe.“ so die Mutter. Sie lächelt, als sie das erzählt. Man muss ihr einfach sagen, wie stark sie wirkt und wie strahlend sie rüberkommt. Die 43-Jährige strahlt weiter und antwortet: „Ich weiß nicht, wo ich meine Kraft hernehme, aber es geht mir nicht gut. Ich habe nur keine Zeit, mich darum zu kümmern, wie es mir geht. Ich muss funktionieren.“
Und das tut sie. Als Mutter, als Therapeutin, als Ehefrau und als Frau. Eine schier unmögliche Aufgabe. Aber sie schafft es. Sie schafft es nur nicht, noch eine Freundin zu sein. Spontan mit Bekannten sich zu treffen, ist unmöglich. Eigenen Hobbies, wie dem Reiten nachzugehen, ist nicht drinnen. Daher auch die Isolation der Familie Huber. Ihr Leben dreht sich um Thomas. Wenn er nicht will, dann geht eben nichts. Dann wird am Eisbären-Gehege in Schönbrunn umgedreht und der Heimweg angetreten, dann gibt es keinen Besuch oder ein anderes Essen. Sonst kann der Sohn nicht damit umgehen. Die Familie Huber fährt alle zwei Jahre für drei bis vier Tage auf Urlaub. „Dann müssen mein Mann und ich vorher hinfahren, alles dort fotografieren und Thomas die Bilder zwei bis drei Monate vorher vorlegen, damit er sich an die Situation gewöhnt. Wenn er dann einen Tag vorher sagt, wir fahren nicht, dann bleiben wir daheim.“ So sieht es aus im Hause Huber. Denn für Asperger Autisten ist die tägliche Routine sehr wichtig. Unvorhergesehenes wirft sie aus der Bahn.
Jetzt ist Thomas 15 Jahre alt. Er schließt im Juni die Hauptschule ab. Wie es weitergehen soll, ist ungewiss. Thomas hat ein positives Zeugnis, ist normal intelligent und ist an Technik besonders an Autos interessiert. Das ist für Asperger Autisten nicht ungewöhnlich. Die meisten haben ein bestimmtes Spezialgebiet. Manche sind auch Universitätsprofessoren, Ärzte. Sie sind verheiratet und leben im Erwachsenenalter relativ normal, wenn sie ihren geregelten Tagesablauf haben. Doch viele können ihre sogenannte Inselbegabung nicht in einen von unserer Gesellschaft verwertbaren Beruf umwandeln. Daher wird das Syndrom auch oft als „Oops-Wrong-Planet-Syndrom“ bezeichnet. Dies beschreibt sehr gut das Gefühl Betroffener, irrtümlich auf einem fremden Planeten gestrandet zu sein, dessen Regeln und Bewohner man nicht versteht. Thomas kennt keine Ironie, keine Falschheit und keine Lügen. Das sind Wesenszüge, die er nicht erfassen kann. Er kann sie auch selbst nicht erzeugen. Er weiß aber, dass er gehänselt wird und dass er weniger Möglichkeiten als seine Schulkameraden erhält. Er fällt sozusagen durch den Rost.
Thomas weiß ab Herbst nicht, auf welche Schule er gehen kann. Er ist zu intelligent für die „Behinderten-Programme“, aber hat spezielle Bedürfnisse, vor denen die meisten Schulen zurück schrecken. Im konkret Fall niederösterreichische Schulen. „Das ist momentan unsere Priorität Nummer eins. Ich kann mich nicht darum kümmern, was aus Thomass Therapien wird, wenn er 18 ist und der Staat nicht mehr mitfinanziert. Oder ob Thomas jemals den Schritt in ein eigenständiges Leben macht. Darauf kann ich nur hoffen. Für mich gilt: Ein Problem nach dem anderen. Und das Wichtigste ist momentan, eine Schule für Thomas zu finden.“ erklärt Susanne Huber. Das ist auch der Grund für ihre Offenheit. „Ich möchte, dass so viele Menschen wie möglich über das Asperger Syndrom Bescheid wissen. Denn je mehr Aufklärung besteht, desto eher werden die Autisten und mein Sohn verstanden und nicht mehr ausgegrenzt und als unerzogen missverstanden.“
Infos zum Thema:
Der von der Psychologin Mag. Johanna Kienzl gegründete Verein „Nomaden“ gibt ambulante Unterstützung für Menschen mit tiefgreifenden Entwicklungsstörungen wie Asperger Autisten. Eine Selbsthilfegruppe trifft sich einmal im Monat. Weitere Informationen im Internet: www.nomaden.at.
An einem sonnigen Tag treffen wir uns mit Susanne Huber im Sozialraum des St. Pöltner Ambulatoriums Sonnenschein. Dort ist sie schon gut bekannt, genauso wie ihr 15-jähriger Sohn Thomas. Susanne Huber ist eine sportliche Frau, Anfang vierzig mit strahlenden grünen Augen und einer besonderen Hingabe. Am Beginn des Gesprächs ist sie eher unruhig, man merkt, sie hat eigentlich andere Aufgaben zu erledigen. Doch dann fällt ihr das Reden leicht, so als ob es erleichternd ist, sich anzuvertrauen.
Eigentlich ist es ja ein Thema, bei dem die meisten Menschen gerne weg schauen. „Bei meinem Sohn würden Sie nicht weg schauen“, lacht die Mutter, „der ist nämlich sehr gutaussehend.“ Der mütterliche Stolz zeigt sich in ihren Augen.
Beginnen wir beim Anfang. Als Thomas geboren wurde, waren Susanne Huber schon einige Dinge etwas suspekt. Sie hatte ja einen direkten Vergleich. Ihre Tochter Lisa ist 16 Monate davor auf die Welt gekommen. Doch im Gegensatz zu Lisa war Thomas viel kleiner, leichter und zerbrechlicher. Im Krankenhaus hat man das so hingenommen und die nunmehr zweifache Mutter nach kurzer Zeit nachhause gehen lassen. Thomas wollte sich allerdings nicht so entwickeln, wie jeder Elternteil gehofft hatte. Er hat rund um die Uhr geschlafen, kaum einen Laut von sich gegeben und so gut wie nichts zu sich genommen. Beim Stillen ist er immer wieder eingeschlafen und mit knapp einem halben Jahr hat er ganz aufgehört, Nahrung aufzunehmen. Beim Kinderarzt wurde die Familie Huber stets vertröstet. Das wird schon wieder. Jedes Kind ist anders. Nachdem Thomas stark abgenommen hatte und sich ständig erbrach, konnten auch die Ärzte den Zustand nicht mehr ignorieren. Aufwendige und langwierige Untersuchungen ergaben eine Anomalie am Mageneingang, die es verhinderte, dass die Nahrung im Magen bleibt. Das würde sich legen, wenn Thomas zu stehen und gehen beginnt. Doch Thomas war zu schwach, um zu stehen und zu gehen. Susanne Huber behilft sich mit einem Kinderwagen, dessen Liegefläche man schräg stellen kann. So ging es schließlich, und Thomas konnte endlich mit 14 Monaten sitzen. Weitere Meilensteine waren der erste Schritt mit eineinhalb Jahren und das freie Gehen mit zwei Jahren. Doch der kleine Bub bleibt auffällig. Als Mutter bleibt Susanne Huber natürlich dran, doch die Ärzte helfen nur zurückhaltend weiter. „Das war schon äußerst schwierig für mich. Ich habe den Thomas vor mir und kenne seine Schwachstellen, aber niemand wollte mir glauben.“ beschreibt Susanne Huber die verzweifelte Situation. Mit sechs Jahren ist Thomas schulunreif und wird erst ein Jahr später eingeschult. Seine schlechten sozialen Fähigkeiten lassen ihn unerzogen erscheinen, und deshalb kommt er in eine Integrationsklasse in der Grillparzer Volksschule. Dann endlich kurz vor den Ferien in der vierten Klasse Volksschule kommt die Diagnose: Thomas ist ein Asperger-Autist. Dass die Diagnose so lange gedauert hat, liegt daran, dass Thomas sehr gut gefördert wurde und viele Symptome bei ihm nicht so massiv erkennbar waren wie angenommen. Schon in den 1940er Jahren haben Hans Asperger in Österreich und Leo Kanner in den USA herausgefunden, dass es solche Menschen gibt. Dann gerieten diese Erkenntnisse in Vergessenheit, bis Lorna Wing in Großbritannen in den 1980er Jahren wieder daran erinnerte, dass Asperger Autisten existieren und stets falsch diagnostiziert und behandelt werden. Bis sich dies allerdings nach Österreich durchsprach, dauerte es bis rund 2000. Da Thomas älter ist, kam man erst sehr spät auf die Idee, ihn darauf zu testen.
Das Asperger Syndrom ist eine Form des hochfunktionellen Autismus. Als Hauptmerkmal besteht beim Asperger-Syndrom die soziale Kontaktstörung. Menschen mit dem Asperger Syndrom wirken in ihrem Umfeld vielleicht eigenbrötlerisch, manchmal auch eigenartig, zumeist jedoch normal. Daher fallen sie oft durch den sogenannten Rost und bekommen nicht die Unterstützung, die sie benötigen. Diagnostisch sind sie nicht geistig behindert, sondern normal intelligent. Sie können allerdings die sozialen Zeichen, die unser Inneres nach außen tragen – also Gesten, Gesichtsausdruck, Tonfall – schlechter „lesen“. Das macht sie zu Menschen mit besonderen Bedürfnissen. Dass Menschen mit autistischen Störungen oft teilnahmslos wirken, liegt nicht an ihrer Unfähigkeit zu Mitgefühl, denn sobald sie wissen, was andere denken und fühlen, können sie das auch nachempfinden. Man muss es ihnen nur sagen. Und genau das macht Susanne Huber. Sie sagt Thomas, dass er beim Kauen den Mund zumachen soll, an der Straße stehen bleiben muss, dass andere auch sprechen dürfen, dass man fragt, wenn man etwas haben möchte, usw. Alle Dinge, die für andere 15-jährige normal sind, an die muss er ständig erinnert werden, weil er sich selbst nicht reflektieren kann. „Deshalb habe ich zuhause überall Zettel hingeklebt, was zu tun ist und wie mit etwas umzugehen ist. Zuhause ist auch ein Rückzugsort, an dem es leise sein soll. Und ich bin es leid, den ganzen Tag zu reden“, beschreibt sie ihren Alltag. Da Thomas Schmerzen nicht gut empfinden kann und selbst keine Anzeichen einer Grippe erkennt, muss die Mutter zehnmal so aufmerksam sein. So wird Susanne Huber schnell verschrien als „hysterische Glucke“.
Freunde und Familie ziehen sich zurück. Die Familie Huber lebt isoliert. Auch Tochter Lisa fühlt sich mit ihrer Situation allein. Sie ist hochbegabt, extrem sozial und sehr musikalisch. Lisa ist eine der wenigen Bezugspersonen für ihren Bruder. Doch wenn es hart auf hart kommt, wurde sie schon mal zur Oma „evakuiert“. „Lisa verarbeitet ihre Erfahrungen in ihrer Musik. Lisa macht das ganz toll. Leider bin ich nicht immer ausreichend Mutter für sie“, erzählt Susanne Huber stolz und traurig zugleich.
Aus ihrer isolierten Stellung heraus entscheidet sich Susanne Huber ihren Beruf als Sekretärin nicht wieder aufzunehmen und sich mit der Krankheit ihres Sohnes zu beschäftigen. Sie besucht Kurse und viele Seminare und merkt, dass sie Thomas sehr viel beibringen kann. „Irgendwann habe ich dann nicht mehr gewusst, ob ich mit meinem Sohn kuschle oder mit meinem Patienten. Das war der Moment, in dem ich alle Therapien an Spezialisten abgegeben habe und nur mehr Mutter sein wollte“, erinnert sie sich an die Zeit. Thomas braucht Logopäden, um sich ausdrücken zu lernen, Physiotherapeuten, um sich bewegen zu lernen und Psychotherapeuten, um mit seinen Aggressionen umgehen zu lernen. Es gibt für das Asperger Syndrom keine Heilung, aber die Behandlungen machen es besser. Im Ambulatorium Sonnenschein finden die Hubers eine gute Anlaufstelle. Allerdings gab es Budgetkürzungen und Thomas darf immer nur eine Therapie besuchen, obwohl alle drei notwendig sind. So muss die Familie Huber Prioritäten setzen und das ist momentan die Therapie, damit Thomas nicht zu prügeln beginnt.
Der Alltag der Familie ist etwas anders, als in anderen Familien. Vater Huber kümmert sich um den Lebensunterhalt der vierköpfigen Familie und ist nicht viel zuhause. „Mein Mann geht arbeiten, um unser Leben zu ermöglichen. Ich gehe arbeiten, um auch einmal rauszukommen. Aber da ich oft spontan weg muss, habe ich bereits drei Mal meinen Job verloren“ beschreibt Susanne Huber die Lage. Sie hat völlig umgesattelt und ist jetzt Bewegungstrainerin für Kinder, und als solche weithin bekannt. Das macht ihr Spaß, aber ihre Priorität ist Thomas. „Ich habe meinen Sohn nie als Last empfunden. Er ist meine Lebensaufgabe.“ so die Mutter. Sie lächelt, als sie das erzählt. Man muss ihr einfach sagen, wie stark sie wirkt und wie strahlend sie rüberkommt. Die 43-Jährige strahlt weiter und antwortet: „Ich weiß nicht, wo ich meine Kraft hernehme, aber es geht mir nicht gut. Ich habe nur keine Zeit, mich darum zu kümmern, wie es mir geht. Ich muss funktionieren.“
Und das tut sie. Als Mutter, als Therapeutin, als Ehefrau und als Frau. Eine schier unmögliche Aufgabe. Aber sie schafft es. Sie schafft es nur nicht, noch eine Freundin zu sein. Spontan mit Bekannten sich zu treffen, ist unmöglich. Eigenen Hobbies, wie dem Reiten nachzugehen, ist nicht drinnen. Daher auch die Isolation der Familie Huber. Ihr Leben dreht sich um Thomas. Wenn er nicht will, dann geht eben nichts. Dann wird am Eisbären-Gehege in Schönbrunn umgedreht und der Heimweg angetreten, dann gibt es keinen Besuch oder ein anderes Essen. Sonst kann der Sohn nicht damit umgehen. Die Familie Huber fährt alle zwei Jahre für drei bis vier Tage auf Urlaub. „Dann müssen mein Mann und ich vorher hinfahren, alles dort fotografieren und Thomas die Bilder zwei bis drei Monate vorher vorlegen, damit er sich an die Situation gewöhnt. Wenn er dann einen Tag vorher sagt, wir fahren nicht, dann bleiben wir daheim.“ So sieht es aus im Hause Huber. Denn für Asperger Autisten ist die tägliche Routine sehr wichtig. Unvorhergesehenes wirft sie aus der Bahn.
Jetzt ist Thomas 15 Jahre alt. Er schließt im Juni die Hauptschule ab. Wie es weitergehen soll, ist ungewiss. Thomas hat ein positives Zeugnis, ist normal intelligent und ist an Technik besonders an Autos interessiert. Das ist für Asperger Autisten nicht ungewöhnlich. Die meisten haben ein bestimmtes Spezialgebiet. Manche sind auch Universitätsprofessoren, Ärzte. Sie sind verheiratet und leben im Erwachsenenalter relativ normal, wenn sie ihren geregelten Tagesablauf haben. Doch viele können ihre sogenannte Inselbegabung nicht in einen von unserer Gesellschaft verwertbaren Beruf umwandeln. Daher wird das Syndrom auch oft als „Oops-Wrong-Planet-Syndrom“ bezeichnet. Dies beschreibt sehr gut das Gefühl Betroffener, irrtümlich auf einem fremden Planeten gestrandet zu sein, dessen Regeln und Bewohner man nicht versteht. Thomas kennt keine Ironie, keine Falschheit und keine Lügen. Das sind Wesenszüge, die er nicht erfassen kann. Er kann sie auch selbst nicht erzeugen. Er weiß aber, dass er gehänselt wird und dass er weniger Möglichkeiten als seine Schulkameraden erhält. Er fällt sozusagen durch den Rost.
Thomas weiß ab Herbst nicht, auf welche Schule er gehen kann. Er ist zu intelligent für die „Behinderten-Programme“, aber hat spezielle Bedürfnisse, vor denen die meisten Schulen zurück schrecken. Im konkret Fall niederösterreichische Schulen. „Das ist momentan unsere Priorität Nummer eins. Ich kann mich nicht darum kümmern, was aus Thomass Therapien wird, wenn er 18 ist und der Staat nicht mehr mitfinanziert. Oder ob Thomas jemals den Schritt in ein eigenständiges Leben macht. Darauf kann ich nur hoffen. Für mich gilt: Ein Problem nach dem anderen. Und das Wichtigste ist momentan, eine Schule für Thomas zu finden.“ erklärt Susanne Huber. Das ist auch der Grund für ihre Offenheit. „Ich möchte, dass so viele Menschen wie möglich über das Asperger Syndrom Bescheid wissen. Denn je mehr Aufklärung besteht, desto eher werden die Autisten und mein Sohn verstanden und nicht mehr ausgegrenzt und als unerzogen missverstanden.“
Infos zum Thema:
Der von der Psychologin Mag. Johanna Kienzl gegründete Verein „Nomaden“ gibt ambulante Unterstützung für Menschen mit tiefgreifenden Entwicklungsstörungen wie Asperger Autisten. Eine Selbsthilfegruppe trifft sich einmal im Monat. Weitere Informationen im Internet: www.nomaden.at.