Der Berg ruft
Ausgabe
Okay, ich gebs ja zu. Die Überschrift scheint auf den ersten Blick hin wohl ein bisschen platt für eine Story über einen Bergsteiger. Sehr originell, werden Sie sich denken. Und doch, nachdem uns Peter Kalteis in seinen Erzählungen mit auf die Berge entführt hat, ertappt man sich plötzlich selbst bei einer unerklärlichen (für mich als Laien natürlich romantisch-verklärten) Sehnsucht nach eisigen Höhen und unendlichen Gipfelwelten. Der Berg ruft, und wenn man zuhört, versteht man ihn sogar ein bisschen – selbst hier unten im Tal!
Berge üben, das kann man drehen und wenden wie man möchte, eine mystische Anziehungskraft aus, in den meisten Fällen selbst auf die überzeugtesten Flachlandratten. Fast alle sind wir früher (oder tun es noch heute in eine warme Kuscheldecke gehüllt an verschlunzten Samstagnachmittagen) vor den alten Louis Trenker Filmen gesessen, gebannt mitfiebernd und bisweilen derart gefangen, dass einem schon mal ein „Louis, pass auf, a Lawine!“ herausrutschen konnte. (In diesem Sinne erhält auch Gerlinde Kaltenbrunners Orange-Werbespot „Ich bin alle“ Glaubwürdigkeit. Tatsächlich bangen wir mit den Helden der Berge auf ihrem beschwerlichen Weg durch Sturm und Eis mit). Andere wiederum verschlingen am Strand von Caorole oder Mallorca Bücher mit für diese Sommerdomizile scheinbar widersprüchlichen Titeln á la „In eisige Höhen“, „Sturm am Manaslu“, „Nordwand“, oder sie vertiefen sich in Biografien über große Pioniere wie Sir Edmund Hillary, Heinrich Harrer oder Reinhold Messner.
Zumeist empfinden wir bei alledem eine emotionale Melange aus Bewunderung bei gleichzeitiger Verwunderung. Da bleibt immer die, bisweilen von einem ungläubigen Kopfschütteln begleitete Frage „Warum tut man sich das an als Mensch, nimmt all die Gefahren, all die Strapazen auf sich?! Das sind doch Freaks!“ Mit Peter Kalteis fragten wir einen von ihnen, und gelangten im Zuge des Gesprächs zu einer bemerkenswerten Erkenntnis: Die vermeintlichen Freaks sind vielleicht normaler als die meisten von uns.
Eine alte Karteikarte
Wir treffen Kalteis an einem zum Bergsteigen durchaus schlüssigen Ort. Weinburg! Quasi sein weltliches Basislager, wo er nicht nur Bürgermeister der über 1300 Bürger zählenden Gemeinde ist, sondern auch Geschäftsführer der Kletterhalle. Tritt man dort in sein Büro, weiß man sofort, was es gespielt hat: Großflächige Bergpanoramen an den Wänden, Seile, Berghammerl etc. Reminiszenzen an den steten Sehnsuchtsort im Herzen. Fehlte nur noch, dass der Yeti bei der Tür hereinspaziert.
„Einer, der Kalteis heißt, muss ja eigentlich Bergsteiger werden“, hat eine Freundin im Vorfeld gewitzelt. Nomen est omen also? War ihm das Bergsteigen etwa schon in die Wiege gelegt, denn so ein Name muss ja von irgendwo her kommen? Naja, das ist dann wohl doch ein bisschen weit hergeholt, aber tatsächlich packt Kalteis schon im zarten Kindesalter die Sehnsucht nach luftigen Höhen. So machte er unlängst bei der Renovierung der Gemeindebibliothek eine bemerkenswerte Entdeckung. „Ich hab meine alte Karteikarte gefunden, als ich 10 Jahre alt war. Schon damals habe ich mir vor allem Bergabenteuer-Romane ausgeborgt.“ Ein bewusster Akt war das nicht, aber jetzt reflektierend erinnert er sich, „dass ich schon als Kind, wenn ich die Gipfel gesehen habe, eigentlich immer dort hinauf wollte“, was die Eltern freilich nicht erlaubten.
Erst der ältere Bruder, ein Kletterer, schafft einen ersten Zugang. „Er war im Alpenverein, der hat mich hin und wieder mitgenommen zum Klettern.“ Auch kleinere Bergtouren stehen an, die sich im Laufe der Jahre steigern. Zum 40’er erfüllt der große dem kleineren Bruder einen langgehegten Wunsch. Er schenkt ihm eine gemeinsame Großglocknerbesteigung! Mehr ist aber nicht drinnen, obwohl es sich Kalteis sehnlichst wünscht. Zu sehr engen die Realitäten des Lebens ein, zumindest empfindet er es so und gibt diesem Druck nach. „Als die Kinder kamen, hab ich zum Klettern aufgehört. Und es war auch eine finanzielle Frage. Bergexpeditionen sind teuer. Wir haben damals Haus gebaut, uns bemüht, den Kindern eine gute Ausbildung zukommen zu lassen, damit sie studieren können – das war nicht leicht für einen kleinen Beamten wie mich.“ Nicht dass man ihn falsch versteht – seine erwachsenen Töchter sind heute sein ganzer Stolz. Detailliertest schwärmt er über ihren Werdegang. Aber dennoch scheinen die unerfüllten Träume an seiner Seele, an seinem Körper, an seinem Ego zu nagen. Heute ist Kalteis überzeugt, dass diese Selbstbeschränkung mit Grund für den Ausbruch seiner Leukämieerkrankung vor sieben Jahren war, „weil ich vorher alles ausschließlich dem Beruf, der Familie untergeordnet hab – und das war nicht gut!“ Es ist der größte Kampf seines bisherigen Lebens, einer auf Leben und Tod, „das war eine große Herausforderung für die ganze Familie. Aber wir haben es gemeinsam bewältigt.“ Es ist aber auch ein Kampf, der ihm Lehren, Einsichten mit auf den Weg gibt. Etwa jene grundlegende, dass man das, was in einem steckt, ausleben soll, weil es einen sonst von innen her zu zerfressen droht. Kalteis beginnt danach, wenn man so formulieren möchte, mit dem „Intensivbergsteigen“. Zunächst stehen die europäischen Gipfel an – Ortler, Monte Rosa, Matterhorn. Dann folgt die Königsklasse. Im Sommer 2006 steht er am Gipfel des 8.035 m hohen Gasherbrum II. Damals meint er gegenüber der Kronenzeitung „Ein Sieg über den Berg. Ein Sieg über den Tod. Das Leben hat mich wieder!“ Für die Angehörigen von Extrembergsteigern wiederum, und so auch seine Familie, ist die Leidenschaft ihrer Lieblinge eine Herausforderung in einem anderen Sinne. „Natürlich bin ich überzeugt, dass sie sich Sorgen machen um mich. Aber ebenso bin ich überzeugt, dass sie Vertrauen in mich haben und wissen, dass ich kein unnötiges Risiko eingehe. Die Kinder sagen: ‚Papa, mach es, das gehört zu dir.’ Und es ist doch so. Wenn du ein Ablaufdatum hast, dann erwischt es dich ohnedies – egal wo.“ Mit diesen Worten kommen wir dem, was für manch Bergsteiger seine Leidenschaft vor allem bedeutet, einen gehörigen Schritt näher: Leben!
Leben und Tod
Leben, das vor dem Kontrast eines stets möglichen, stets präsenten Todes – allein in Österreich verunglückten im letzten Jahr 70 Personen beim Wandern und Bergsteigen – umso unmittelbarer, umso intensiver empfunden wird? Vielleicht, wenngleich Kalteis einräumt, „dass die Gefahr im Grunde genommen ausgeblendet wird. Man sagt nicht, dass man sicher nicht zurückkommt. Ich sag eher so“, dabei zieht ein Grinsen in seinem Gesicht auf: „Solang ich in den Bergen bin, kann ich von keinem Auto überfahren werden!“ Das nennt man höhere Bergsteiger-Physik, Spezialgebiet Relativitäts-Theorie. Faktum ist jedenfalls, dass kein Bergsteiger lebensmüde ist – lebenshungrig trifft es wohl eher. Daher geht man die Sache, wenn man es vernünftig anlegt (was freilich nicht alle tun), sehr behutsam an.
Das beginnt schon – als conditio sine qua non– mit der dementsprechenden Fitness, die man sich über einen Zeitraum von gut einem Jahr antrainiert: „Ich bereite mich intensiv konditionell vor, gehe laufen, radfahren, unternehme Schitouren – mit dem schweren Rucksack versteht sich! Das mache ich gleich in unserer Region, z. B. auf die Hinteralm. Das klingt vielleicht harmlos, aber man kann die Hinteralm an einem Vormittag auch dreimal gehen, dann kommst du auch auf die Höhenmeter!“
Am Berg selbst geht man nicht minder vorsichtig vor, wobei vor allem die richtige Selbsteinschätzung ein Schlüssel über Erfolg und Misserfolg, in extremis auch über Leben und Tod sein kann. „Man geht sozusagen mit kalkuliertem Risiko. Ich weiß ganz genau, was ich tue. Ich weiß ganz genau, was ich mir zutrauen kann. Ich schaue mir die Berge genau an.“ Freilich, die bleiben trotzdem immer die große unbekannte Variable in der Rechnung. Ein Restrisiko bleibt immer bestehen. Da ist das Wetter, das umschlagen kann, Lawinen, die abgehen, Gletscherspalten, die sich auftun etc., etc. Am Berg endet die vermeintliche Allmacht des Menschen, die Natur entzieht sich der totalen Kontrolle, was bisweilen ein mulmiges Gefühl hinterlässt. „Ich habs nicht gern, wenn ich nicht selbst entscheiden kann. Ob ich in eine Eiswand einsteige, ist meine Entscheidung. Ob ich noch eine weitere Nacht im Camp bleibe, ist meine Entscheidung. Aber wenn ich keinen Einfluss mehr habe, die Entscheidung sozusagen der Berg trifft – das mag ich gar nicht!“
Es ist aber eine Entscheidung, die man zur Kenntnis nehmen muss, wenn man weise ist. So brachen die Bergsteiger heuer etwa die Besteigung des 7.010 Meter hohen Khan Tengri aufgrund der Wetterkapriolen ab, „wobei das größte Problem die Lawinengefahr war!“
Und welche Rolle spielt die Kälte, zwingt einen diese auch in die Knie? Da winkt Kalteis ab. „Die Kälte ist kein Thema heutzutage. Die Ausrüstung ist das Thema!“ Wie um das Gesagte zu untermauern, nimmt er einen Schuh vom Regal, der auf den Ersteindruck irgendwie an Raumfahrer-Böcke erinnert – und so falsch ist der Vergleich gar nicht. Tatsächlich ist das Schuhwerk aus mehreren Schichten Astronautenfolie aufgebaut. „Erfrierungen sind damit kaum möglich“, so Kalteis. Heute braucht man pro Schuh am Berg gerade einmal läppische fünf Minuten zum Anziehen „die Pioniere hingegen benötigten für ihre Lederschuhe pro Schuh eine halbe Stunde! Danach wurde ihnen oft schwindelig und übel, weil durch die gebückte Haltung der Bauch auf die Leber gedrückt hat.“ Kalteis schüttelt bewundernd den Kopf: „Es ist einfach unglaublich, was die damals geleistet haben.“ Der technologische Fortschritt, auch in Sachen Bekleidung, hat das Bergsteigen extrem erleichtert. Daunenjacken und Daunenhosen gewährleisten heute quasi Voll-Wärmeschutz. Am sensibelsten sind noch die Hände, „aber da trägt man bis zu fünf Paar Handschuhe übereinander. Beginnend mit Seidenhandschuhen, die wie eine zweite Haut sind.“ Der Grund ist klar. In der extremen Kälte könnte man mit bloßen Händen am Eis picken bleiben. Dabei muss man auch diesbezüglich mit einem Klischee aufräumen. Am Berg herrschen nicht durchgehend tiefpolare Temperaturen. „Am Gasherbrum etwa sind wir auf 5.000 Meter Höhe bei rund 20 Grad in kurzen Hosen und im kurzen Leiberl in der Sonne gesessen. Sobald aber die Sonne hinterm Grat verschwand, sank die Temperatur innerhalb von fünf Minuten auf minus 10 Grad ab.“ Selbst auf 8.000 Metern Höhe kann die Temperatur im Sonnenschein noch bis auf 0 Grad klettern, während sie in der Nacht auf bis zu minus 30, minus 40 Grad abfällt. Mit der richtigen Ausrüstung kein Problem.
„Prinzipiell“, so Kalteis, „ist das Bergsteigen um vieles sicherer geworden gegenüber früher. Da gab es einen enormen technologischen Fortschritt in allen Belangen. Seilrisse etwa gibt es heute praktisch nicht mehr. Umgekehrt verleitet das aber Leute auf Berge zu steigen, die dort eigentlich nichts zu suchen haben“ Damit spielt Kalteis auf das Phänomen Massentourismus an. Schüttelt man hierzulande schon den Kopf, wenn einem auf der Pasterze des Großglockners Leute in Sandalen entgegenkommen, so macht dieses Phänomen überspitzt formuliert selbst vor dem Dach der Welt nicht halt – mit dementsprechenden Folgen. „Den Everest kannst weglassen. Da ist mittlerweile die Mafia, es regiert nur mehr das Geld, das ist Massentourismus pur. Und die Blitzer haben keine Ahnung. Z. B. haben unlängst welche das Lager ausgeräumt – damit bringen sie die nächsten aber in Lebensgefahr! Die Situation dort ist einfach indiskutabel, daher werde ich sicher nicht den Everest besteigen, auch wenn es weh tut“, schüttelt Kalteis angeekelt den Kopf, und verweist noch auf ein zweites, negatives Phänomen, was am Everest evident wird. „Die Everest-Expeditionen sind zumeist bunt zusammengewürfelt. Die Teilnehmer zahlen viel Geld und stehen dann am Standpunkt, dafür krieg ich den Gipfel! Da geht’s nur ums Ego, denen sind andere egal.“
Vertrauensbasis
Kalteis hingegen hält Kameradschaft, Teamwork für essentiell wichtig und auch für wertvollen Bestandteil des Gesamterlebnisses. Schon zuhause, wenn man ein Team aufstellt, sucht man sich deshalb die Leute im Idealfall bewusst danach aus, ob man kompatibel ist. Ein Akt ohne Garantie freilich. „Zuhause plauderst du halt gemütlich bei ein, zwei Bier, wenn du gesellig auf der Hütte zusammensitzt. Richtig kennen lernst du jemanden aber erst am Berg, in Extremsituation“, oder wenn du stundenlang in einem kleinen Zelt zusammengepfercht bist. Dann entsteht eine Intimität, die entweder zum Lagerkoller führt, oder zu tiefer Verbundenheit. „Da reden Männer über intime Sachen, über die sie hier nie ein Wort verlieren würden! Du bist einfach viel offener!“ Zum anderen entpuppt sich erst am Berg, wie zuverlässig jemand wirklich ist „Wenn man weiter raufkommt, fragt man sich schon: ‚Wird der auf mich schauen, wenn ich zurückbleibe?‘“ Im Fall des Khan Tengri Expeditionsteams war das überhaupt kein Thema „Wir sind immer in Sichtweite voneinander gegangen, um im Fall der Fälle reagieren zu können.“ Es bestand ein ungeschriebenes Gesetz zwischen den vier Männern: „Wir planen gemeinsam, wir finanzieren gemeinsam, wir besteigen den Berg gemeinsam und wir kommen auch wieder gemeinsam herunter.“ So war es auch. „Für mich ist Vertrauen einfach ein Schlüsselbegriff. Das ist wie zuhause, wenn du unterwegs bist in deinem Freundeskreis – da fühlst du dich auch gut aufgehoben. So muss es auch am Berg sein! Das waren alles klasse Burschen, großartige Alpinisten, zu denen hatte ich dieses Vertrauen“, betont er, um dann nachdenklich hinzuzufügen. „Aber ich hatte es diesmal nicht zum Berg. Der Khan Tengri hat schön ausgeschaut, aber er hat mit Eis und Lawinen auf dich geschossen. Da ist es schwer, eine Vertrauensbasis aufzubauen!“ Später wird er noch im Hinblick auf die Entscheidung, den Gipfelsturm abzubrechen, hinzufügen „das ist uns nicht schwer gefallen, weil uns der Berg einfach nicht mochte.“
Ein Berg, der einen nicht mag?! Gar feindselig gesinnt ist? Was auf den ersten Eindruck hin paradox klingt, ist doch eine Erfahrung, die vielen Bergsteigern gemein ist. Der Berg ist nicht nur mehr Materie aus Stein, Fels, Eis, Schnee (bzw. auch Vegetation und Fauna, wenn man sich in niedrigeren Breiten bewegt), sondern er erscheint geradezu belebt, mutiert zum beseelten Gegenüber. Ist dir wohlgesonnen, oder ist es nicht.
15 Schritte-10 Schritte-5 Schritte
Letztlich ist er die allerletzte Instanz, die über Erfolg und Misserfolg einer Expedition entscheidet, wobei – und diesen Spielraum, diese Option lässt er zumeist seinen Herausforderern offen – auch ein aus Vernunftgründen abgebrochener Gipfelsturm ein Erfolg ist. Manche ziehen diese Option aber nicht und verspielen damit ihren Kredit. Zu sehr lockt der Gipfel, vor allem wenn das Ziel zum Greifen nahe scheint. Gerlinde Kaltenbrunner etwa führte unlängst aus, welch extremer Willensakt ein Abbruch knapp vorm Ziel ist, welch ungemeine Anziehungskraft der vermeintlich nahe Gipfel ausübt. Für jene, die dieser trotz davonlaufender Zeit, trotz offensichtlicher Gefahren nicht widerstehen können, kann dies tödlich enden. Auch im Fall des erst im Juli verunglückten Vizebürgermeisters von Traunkirchen Wolfgang Kölblinger am 8.125 Meter hohen Nanga Parabat (der als einer der gefährlichsten Berge der Welt gilt – jeder fünfte Bergsteiger kommt nicht zurück ins Basislager) hält dies Kalteis für wahrscheinlich. „Er war angeblich schon beim Aufstieg Stunden zurück und wollte trotzdem noch hinauf.“ Kölblinger hat damit ein ungeschriebenes 8.000’er Gesetz der Bergsteiger missachtet, das besagt, dass man bis 15 Uhr den Gipfel erreicht haben sollte. Geht sich das nicht aus, soll man umkehren. Zwar dürfte Kölblinger gegen 18 Uhr am Gipfel angekommen sein, aber beim Abstieg ist er dann, wie seine Kameraden rekonstruierten, abgestürzt. „Es gibt einen alten Spruch: Solange du oben bist, gehörst du dem Berg. Erst wenn du wieder untern bist, gehört der Berg dir!“ Dabei räumt Kalteis ein, dass er selbst bislang zum Glück noch nie in eine derartige Situation gekommen ist. „Diesmal etwa am Khan Tengri war eindeutig, dass wir abbrechen!“ Nachsatz: „Aber so knapp unterm Gipfel würde ich mir wohl auch schwer tun, umzukehren. Aber man muss eben extrem aufpassen. Es geht ja nicht nur um den Aufstieg, sondern auch darum, dass du wieder rechtzeitig runter ins Lager kommst. Außerdem werden die Anstrengung immer schwerer. Irgendwann bist du am Limit.“ Und das klarerweise, je höher du kommst, je dünner die Luft wird, denn Kalteis wie seine Kollegen verzichten auf Sauerstoffgeräte (führen diese allerdings im Erste Hilfe Kasten für Notfälle mit).
Wenn die Kräfte sukzessive nachlassen, helfen sich die Bergsteiger übrigens mit einem psychologischen Trick weiter. “Wichtig ist, dass du deinen Rhythmus findest. Anfangs bist du ja voller Enthusiasmus, denkst dir, das schaff ich noch. Aber allmählich hast du mit dem Atem zu kämpfen. Dann ist das Ziel nicht mehr der Gipfel oder das Lager, sondern es reduziert sich auf die nächsten 15 Schritte. Du gehst also 15 Schritte, dann verschnaufst du fünf Minuten, dann die nächsten 15 Schritte – immer so weiter. Und Irgendwann sind es nur mehr zehn Schritte, zuletzt sogar nur mehr fünf!“
Der Weg ist das Ziel
Und irgendwann... erreichst du dann doch dein Ziel, stehst oben am Gipfel, am höchsten Punkt. Das muss doch ein unbeschreibliches Glücksgefühl sein? Diesbezüglich räumt Kalteis mit einem falschen Klischeebild auf, von wegen man reißt die Hände in die Höhe, tanzt ums Gipfelkreuz und schreit dem Berg ein enthusiastisches „Geschafft!“ entgegen. „Du bist am Gipfel so zach, so am Semmerl, dass du da sicher nicht ausflippst. Das ist keine eruptive Emotion! Vielleicht wird dir das erst klarer, wenn du dann wieder unten bist im Lager. Aber ehrlich gesagt“, fügt er hinzu, „ich warte bis heute auf diese Eruption!“ Letztlich gehe es nämlich gar nicht so sehr um den Gipfelsieg an sich, als vielmehr um das Gesamterlebnis. „Dass ich daheim erzählen kann, ich war am Gipfel oben, das ist mir eigentlich egal! Natürlich sind 8.035 Meter, wie am Gasherbrum, eine unglaubliche Leistung. Aber das geht kaum konform mit den Erlebnissen, die du schon am Weg hast. Wenn etwa auf einmal die 6.000‘er und 7.000‘er Gipfel auftauchen. Ein Berg in der Sonne komplett in Rot erstrahlt. Das ist einfach herrlich! Und du weißt, dass die Altvorderen auch den gleichen Weg gegangen sind wie du, dass sie das Gleiche gesehen haben!“
Irgendwie, so scheint es, dürfte sich beim Bergsteigen die Tür zum Universum einen Spalt öffnen, oder sie geht sogar ganz auf, und man tritt hindurch und fühlt sich mit einem Schlag befreit. Das ist es, was man vielleicht als Grenzerfahrung bezeichnen könnte, wobei Bergsteiger die Grenze eben überschreiten. Bergsteigen, so vermeint man aus Kalteis Ausführungen herauszuhören, bekommt in diesem Sinne einen meditativen, fast religiösen Charakter. Da oben im Eis und Schnee ist der Bergsteiger in vielen Momenten völlig auf sich, in sich zurückgeworfen. Stille greift um sich „Was du hörst, ist dein eigener Atem, sind deine eigenen Schritte, ist das Knirschen des Schnees. Du bist für die Vorgänge rund um dich viel sensibler.“
Und für dich selbst. Dabei ist man zwar allein, aber nicht einsam, sondern fühlt sich geradezu eingebettet in ein Ganzes. Das mag der Schlüssel zum mystischen Aspekt des Bergsteigens sein, den wohl nur jene begreifen, die schon oben waren inmitten der unendlichen Weite sich ausbreitender Berggipfel. „Eigentlich bist du froh, dass keiner da ist! Und du bist von menschlichen Problemen so weit weg. In den Bergen bist du Gott am nächsten. Ja, du kommunizierst mit Gott, empfindest Dankbarkeit, spürst die Weite, spürst die Höhe – es ist, als ob deine Seele wandert!“
Und sie wandert auf friedlichen Pfaden, die einen erfüllen, einen vollenden. „Das Gefühl ist schwer zu beschreiben. Das ist vielleicht vergleichbar, wie wenn du dich in eine duftende Blumenwiese legst. Da fühlst du dich auch völlig frei. Allerdings ist es zeitlich begrenzter als am Berg. Oder wenn du am Meer bist und auf einem Felsen sitzt, hinausschaust und dem Meeresrauschen lauscht– es gibt keinen schöneren Klang!“ Immer ist es also die Natur in ihrer gesamten herrlichen Gewalt und Ursprünglichkeit, die in Sachen Universalität zur Mittlerin, zur Brücke wird. „Natur ist wichtig. Natur ist heilig! Man muss nur die Augen öffnen, um ihre Wunder zu erleben und zu erkennen.“ Freilich, in den Bergen kommt dieser Verschmelzung des Ichs mit dem Universum eine entscheidende weitere Dimension hinzu, die quasi noch weiter hineinführt, das Erlebnis noch weiter vertieft: Der eigene Wille, die Aktivität, die Überwindung. „Am Berg muss ich mir diese unglaublichen Erlebnisse sozusagen verdienen! Du musst etwa um 4 Uhr aufstehen, weil wenn du es nicht tust, wirst du das Rot der Berge in der aufgehenden Morgensonne nicht erleben. Und du musst hinaufgehen, weil sonst wirst du den Firngrat im Mondschein nicht sehen. Das sind so nachhaltige Erlebnisse, für die musst du etwas tun, dafür musst du etwas leisten.“ Und sie sind so nachhaltig – möchte man hinzufügen – eben gerade WEIL du etwas dafür tun musst. Denn durch die eigene Aktion wirst du selbst Teil des Ereignisses, löst es quasi mit aus. Wenn du sozusagen nicht aus Eigenantrieb rechtzeitig da bist, dann geht das Ereignis an dir vorbei, dann hat es eigentlich nie stattgefunden. Während die Blumenwiese da ist und du dich einfach hineinlegst, musst du zum roten Berg aufbrechen, musst Entbehrungen auf dich nehmen, um das Schauspiel zu erleben. In diesem Sinne kann man beim Bergsteigen von einem Sieg, einer Eroberung sprechen. Aber in Wahrheit eroberst du nie den Berg, sondern nur dich selbst. Du entreißt dir selbst diese Stücke vom Paradies.
Verrückte
Freilich gibt es auch eine „Kehrseite“. Wer über einen so langen Zeitraum über der Grenze war, wer ganz oben am Gipfel stand und den losgelösten Überblick gewonnen hat, der tut sich mit den engen Tälern und eingeschränkten Sichtweisen der Niederungen schwer. So sehr, dass der Weg dorthin zurück schwer fällt. „Ich brauche in der Regel ein Monat lang, um mich nach der Rückkehr wieder zurechtzufinden. Das ist nicht einfach. Alles was ‚problembehaftet‘ ist, war am Berg ja ausgeblendet. Wenn du dann zurückkommst, fehlt dir die Aggressivität für den Alltag. Du bist entwöhnt für die Probleme hier, bist überrascht, dass Phänomene wie Neid, Bosheit und dergleichen überhaupt existieren. Du kannst nicht mehr so relaxed sein. Ich tu mir in dieser Zeit extrem schwer, mich so zu behaupten und so durchzusetzen wie vorher.“ Kalteis beschreibt damit ein generelles Phänomen. Wenn der Bergsteiger zurückkommt – und so bezeichnen sie sich oft selbst im Spaß – dann ist er tatsächlich „verrückt“, wie gemeinhin viele Leute mit einem Schuss Anerkennung von den „Freaks“ behaupten. Aber es ist keine Verrücktheit im Sinne von normal oder anormal, sondern im Sinne eines ver-rückten Blickwinkels. Sie sehen die Dinge mit einem Mal anders. „Natürlich gibt es Leute, die sagen, das ist verrückt, was ich tue, nicht normal. Aber für mich ist umgekehrt nicht normal, wenn jemand jeden Tag im Wirtshaus sitzt und sich eine Wampe ansauft, so dass er sich nicht einmal mehr rühren kann. Oder ich habe Freunde in meinem Alter, die würden daran scheitern, mit dem Rad von Weinburg nach Hofstetten zu fahren. Das ist nicht normal!“
Für Kalteis wäre eine derartige Lebensweise undenkbar. Der Körper ist für ihn als Bergsteiger der Schlüssel, die Eintrittskarte, wenn man so möchte. Man muss darauf aufpassen. „Ich weiß, dass mir noch so viele solcher wunderschönen Erlebnisse, mir noch weitere Berge offenstehen, weil ich meinen Körper fit halte. Darauf freue ich mich!“ Dann fügt er nachdenklich hinzu. „Bergsteigen, das ist ein so intensives, ein so lebensbejahendes Gefühl!“
Und so offenbart sich zuletzt die Botschaft der Berge, wenn sie rufen – eine Botschaft, die universal ist und auch in den Niederungen verstanden und gelebt werden kann: Carpe diem! Nutze den Tag! Liebe das Leben! „Man geht nicht auf den Berg, um zu überleben. Man geht auf den Berg um zu leben, zu erleben! Und wenn ich etwas aus meiner Krankheit gelernt habe, dann dies: Man soll intensiv leben. Bewusst. Profan gesprochen heißt das: Nur keine Zeit verscheißen!“ Dem ist nichts hinzuzufügen.
Infos zum Thema:
KHAN TENGRI 2009 (7.010 Meter)
Ursprünglich will das Expeditionsteam heuer den 8201 Meter hohen Cho Oyu besteigen, „aber aufgrund der labilen politischen Situation in der Region war uns das zu gefährlich.“ So wird es schließlich der Khan Tengri in Kirgisien „weil er als einer der acht schönsten Berge der Welt gilt!“ Was die Bergsteiger vor allem reizt, ist die Aussicht auf ein möglichst ursprüngliches Wandererlebnis, „so wie es die Altvorderen erlebt haben. Die waren allein damals, es war noch nichts da – das war ein ganz anderes Bergsteigen.“ Eines, das „russisches Wandern“ noch am ehesten zu vermitteln imstande ist. „Kirgisien etwa ist schwer erreichbar, daher gibt es dort noch nicht viele Bergsteiger. Es gibt dort auch keine Sherpas. Du zahst alles selbst mit auf den Berg.“
Ist es bei der Ankunft „noch strahlend schön“, schlägt das Wetter nach vier Tagen um. Als besondere Herausforderung machen die Bergsteiger einen langen Eiskanal aus „ein enges Tal, wo das Eis überhängt. Das wirkte sehr bedrückend. Da mussten wir beim Auf- und Abstieg durch.“
Nach Rücksprache mit Wettergott Dr. Charly Gabl in Innsbruck „den kennt jeder Bergsteiger auf der ganzen Welt – er trifft die exaktesten Vorhersagen“ versuchen die Bergsteiger den Aufstieg, wenngleich Gabl schlechtes Wetter prophezeit. „Aber man denkt sich, wenn man schon da ist... Und schlechtes Wetter allein ist ja nicht das Problem – da ziehst du dich einfach wärmer an. Dort war das große Problem die hohe Lawinengefahr! Wir sind dann eingestiegen, mit 30kg schweren Rucksäcken, zu dritt, weil unser Expeditionsleiter krank geworden ist.“ Die Bergsteiger durchqueren den Eiskanal, erreichen das 2‘er Lager. „Dann wollten wir etwas kochen – und sind draufgekommen, dass die Sturmzünder, das Kochgeschirr etc. der zurückgelassene Kamerad hat.“ Der erste Versuch wird abgebrochen, auch aufgrund der hohen Lawinengefahr. Nach vier Tagen probieren es die Bergsteiger erneut, brechen um 1 Uhr früh auf. „Am Weg sind uns Ukrainer entgegengekommen, die hatten drei Sturmnächte am Berg hinter sich.“ Kein gutes Omen. Diesmal dringt die Gruppe bis auf 5.300 m vor „aber dann spielte wieder das Wetter nicht mit, wieder war die Lawinengefahr zu hoch.“ Der Aufstieg wird abgebrochen. Der Gipfelsturm des Khan Tengri ist gescheitert.
GASHERBRUM II 2006 (8.035 Meter)
Ganz anders läuft das Bergsteigen in Zentralasien ab. Alles wird über eine Agentur auf Schiene gebracht. „Die klärt im Vorfeld alles ab, besorgt die Visa, klärt die Anreise ab, stellt ein Basislager- und Küchenteam auf, besorgt Sherpas etc.“ Auch für die Verpflegung im Basislager sorgt die Agentur „Da bekommst du lokale Küche. Ab dem Hochlager ist dann jeder selbst für seine Verpflegung verantwortlich.“ Während Gerlinde Kaltenbrunner etwa auf Babynahrung schwört, „hab ich u. a. viel Knödel gegessen, da war ich gleich der Knödelpeter. Prinzipiell isst du Fertignahrung, auch viel Suppen, damit du Flüssigkeit und Salze zu dir nimmst !“
Nach dem Anmarsch ins Basislager beginnt die Phase der Akklimatisierung. „Dann gibt’s mal ein, zwei Tage, wo du dich zurücknimmst. Du beschäftigst dich mit dem Berg, siehst dein Material durch etc.“ Der Körper muss sich akklimatisieren. „Du misst die Sauerstoffsättigung im Blut. Ab 90% bist du bereit. Aber das merkst du ohnedies, denn vorher hast du das Gefühl von Erstickungsanfällen, Beklemmungsgefühle etc.“
Dann marschiert man zum 1’er Lager. Mit Hochträgern oder nicht, das entscheidet die Expedition selbst. „Dort bringst du Verpflegung hin, Gas, baust das Zelt auf, erkundest wieder die Gegend, beobachtest den Berg, dann gehst du zurück ins Basislager. Beim 2. Mal schläfst du vielleicht schon oben, dann gehst du wieder zurück, isst und trinkst – das ist sehr wichtig.“ Dann bist du für den weiteren Aufstieg bereit.
Als Kalteis 2006 am Gasherbrum ist, läuft nicht alles so glatt. „Wir sind auf 5.500 m aufgestiegen, da ist es mir sehr gut gegangen.“ Als die anderen aber zu höheren Sphären aufbrechen, wird Kalteis krank. „Das hat mir aber eigentlich gar nichts ausgemacht. Ich war schon so happy, so beeindruckt, dass ich eigentlich gar nicht mehr weiter wollte.“
Allerdings möchte das ein Freund ein paar Tage später. Aus Kameradschaftsgründen bittet man Kalteis, Sachen mit ins nächste Höhenlager zu schleppen. In weiterer Folge ist es ein Zelt, das ins wieder nächsthöhere Lager soll – so hantelt er sich sukzessive dem Gipfel entgegen, bis er am 31. Juli 2006 am Gipfel steht. (www.peterkalteis.webstorm.at)
Zumeist empfinden wir bei alledem eine emotionale Melange aus Bewunderung bei gleichzeitiger Verwunderung. Da bleibt immer die, bisweilen von einem ungläubigen Kopfschütteln begleitete Frage „Warum tut man sich das an als Mensch, nimmt all die Gefahren, all die Strapazen auf sich?! Das sind doch Freaks!“ Mit Peter Kalteis fragten wir einen von ihnen, und gelangten im Zuge des Gesprächs zu einer bemerkenswerten Erkenntnis: Die vermeintlichen Freaks sind vielleicht normaler als die meisten von uns.
Eine alte Karteikarte
Wir treffen Kalteis an einem zum Bergsteigen durchaus schlüssigen Ort. Weinburg! Quasi sein weltliches Basislager, wo er nicht nur Bürgermeister der über 1300 Bürger zählenden Gemeinde ist, sondern auch Geschäftsführer der Kletterhalle. Tritt man dort in sein Büro, weiß man sofort, was es gespielt hat: Großflächige Bergpanoramen an den Wänden, Seile, Berghammerl etc. Reminiszenzen an den steten Sehnsuchtsort im Herzen. Fehlte nur noch, dass der Yeti bei der Tür hereinspaziert.
„Einer, der Kalteis heißt, muss ja eigentlich Bergsteiger werden“, hat eine Freundin im Vorfeld gewitzelt. Nomen est omen also? War ihm das Bergsteigen etwa schon in die Wiege gelegt, denn so ein Name muss ja von irgendwo her kommen? Naja, das ist dann wohl doch ein bisschen weit hergeholt, aber tatsächlich packt Kalteis schon im zarten Kindesalter die Sehnsucht nach luftigen Höhen. So machte er unlängst bei der Renovierung der Gemeindebibliothek eine bemerkenswerte Entdeckung. „Ich hab meine alte Karteikarte gefunden, als ich 10 Jahre alt war. Schon damals habe ich mir vor allem Bergabenteuer-Romane ausgeborgt.“ Ein bewusster Akt war das nicht, aber jetzt reflektierend erinnert er sich, „dass ich schon als Kind, wenn ich die Gipfel gesehen habe, eigentlich immer dort hinauf wollte“, was die Eltern freilich nicht erlaubten.
Erst der ältere Bruder, ein Kletterer, schafft einen ersten Zugang. „Er war im Alpenverein, der hat mich hin und wieder mitgenommen zum Klettern.“ Auch kleinere Bergtouren stehen an, die sich im Laufe der Jahre steigern. Zum 40’er erfüllt der große dem kleineren Bruder einen langgehegten Wunsch. Er schenkt ihm eine gemeinsame Großglocknerbesteigung! Mehr ist aber nicht drinnen, obwohl es sich Kalteis sehnlichst wünscht. Zu sehr engen die Realitäten des Lebens ein, zumindest empfindet er es so und gibt diesem Druck nach. „Als die Kinder kamen, hab ich zum Klettern aufgehört. Und es war auch eine finanzielle Frage. Bergexpeditionen sind teuer. Wir haben damals Haus gebaut, uns bemüht, den Kindern eine gute Ausbildung zukommen zu lassen, damit sie studieren können – das war nicht leicht für einen kleinen Beamten wie mich.“ Nicht dass man ihn falsch versteht – seine erwachsenen Töchter sind heute sein ganzer Stolz. Detailliertest schwärmt er über ihren Werdegang. Aber dennoch scheinen die unerfüllten Träume an seiner Seele, an seinem Körper, an seinem Ego zu nagen. Heute ist Kalteis überzeugt, dass diese Selbstbeschränkung mit Grund für den Ausbruch seiner Leukämieerkrankung vor sieben Jahren war, „weil ich vorher alles ausschließlich dem Beruf, der Familie untergeordnet hab – und das war nicht gut!“ Es ist der größte Kampf seines bisherigen Lebens, einer auf Leben und Tod, „das war eine große Herausforderung für die ganze Familie. Aber wir haben es gemeinsam bewältigt.“ Es ist aber auch ein Kampf, der ihm Lehren, Einsichten mit auf den Weg gibt. Etwa jene grundlegende, dass man das, was in einem steckt, ausleben soll, weil es einen sonst von innen her zu zerfressen droht. Kalteis beginnt danach, wenn man so formulieren möchte, mit dem „Intensivbergsteigen“. Zunächst stehen die europäischen Gipfel an – Ortler, Monte Rosa, Matterhorn. Dann folgt die Königsklasse. Im Sommer 2006 steht er am Gipfel des 8.035 m hohen Gasherbrum II. Damals meint er gegenüber der Kronenzeitung „Ein Sieg über den Berg. Ein Sieg über den Tod. Das Leben hat mich wieder!“ Für die Angehörigen von Extrembergsteigern wiederum, und so auch seine Familie, ist die Leidenschaft ihrer Lieblinge eine Herausforderung in einem anderen Sinne. „Natürlich bin ich überzeugt, dass sie sich Sorgen machen um mich. Aber ebenso bin ich überzeugt, dass sie Vertrauen in mich haben und wissen, dass ich kein unnötiges Risiko eingehe. Die Kinder sagen: ‚Papa, mach es, das gehört zu dir.’ Und es ist doch so. Wenn du ein Ablaufdatum hast, dann erwischt es dich ohnedies – egal wo.“ Mit diesen Worten kommen wir dem, was für manch Bergsteiger seine Leidenschaft vor allem bedeutet, einen gehörigen Schritt näher: Leben!
Leben und Tod
Leben, das vor dem Kontrast eines stets möglichen, stets präsenten Todes – allein in Österreich verunglückten im letzten Jahr 70 Personen beim Wandern und Bergsteigen – umso unmittelbarer, umso intensiver empfunden wird? Vielleicht, wenngleich Kalteis einräumt, „dass die Gefahr im Grunde genommen ausgeblendet wird. Man sagt nicht, dass man sicher nicht zurückkommt. Ich sag eher so“, dabei zieht ein Grinsen in seinem Gesicht auf: „Solang ich in den Bergen bin, kann ich von keinem Auto überfahren werden!“ Das nennt man höhere Bergsteiger-Physik, Spezialgebiet Relativitäts-Theorie. Faktum ist jedenfalls, dass kein Bergsteiger lebensmüde ist – lebenshungrig trifft es wohl eher. Daher geht man die Sache, wenn man es vernünftig anlegt (was freilich nicht alle tun), sehr behutsam an.
Das beginnt schon – als conditio sine qua non– mit der dementsprechenden Fitness, die man sich über einen Zeitraum von gut einem Jahr antrainiert: „Ich bereite mich intensiv konditionell vor, gehe laufen, radfahren, unternehme Schitouren – mit dem schweren Rucksack versteht sich! Das mache ich gleich in unserer Region, z. B. auf die Hinteralm. Das klingt vielleicht harmlos, aber man kann die Hinteralm an einem Vormittag auch dreimal gehen, dann kommst du auch auf die Höhenmeter!“
Am Berg selbst geht man nicht minder vorsichtig vor, wobei vor allem die richtige Selbsteinschätzung ein Schlüssel über Erfolg und Misserfolg, in extremis auch über Leben und Tod sein kann. „Man geht sozusagen mit kalkuliertem Risiko. Ich weiß ganz genau, was ich tue. Ich weiß ganz genau, was ich mir zutrauen kann. Ich schaue mir die Berge genau an.“ Freilich, die bleiben trotzdem immer die große unbekannte Variable in der Rechnung. Ein Restrisiko bleibt immer bestehen. Da ist das Wetter, das umschlagen kann, Lawinen, die abgehen, Gletscherspalten, die sich auftun etc., etc. Am Berg endet die vermeintliche Allmacht des Menschen, die Natur entzieht sich der totalen Kontrolle, was bisweilen ein mulmiges Gefühl hinterlässt. „Ich habs nicht gern, wenn ich nicht selbst entscheiden kann. Ob ich in eine Eiswand einsteige, ist meine Entscheidung. Ob ich noch eine weitere Nacht im Camp bleibe, ist meine Entscheidung. Aber wenn ich keinen Einfluss mehr habe, die Entscheidung sozusagen der Berg trifft – das mag ich gar nicht!“
Es ist aber eine Entscheidung, die man zur Kenntnis nehmen muss, wenn man weise ist. So brachen die Bergsteiger heuer etwa die Besteigung des 7.010 Meter hohen Khan Tengri aufgrund der Wetterkapriolen ab, „wobei das größte Problem die Lawinengefahr war!“
Und welche Rolle spielt die Kälte, zwingt einen diese auch in die Knie? Da winkt Kalteis ab. „Die Kälte ist kein Thema heutzutage. Die Ausrüstung ist das Thema!“ Wie um das Gesagte zu untermauern, nimmt er einen Schuh vom Regal, der auf den Ersteindruck irgendwie an Raumfahrer-Böcke erinnert – und so falsch ist der Vergleich gar nicht. Tatsächlich ist das Schuhwerk aus mehreren Schichten Astronautenfolie aufgebaut. „Erfrierungen sind damit kaum möglich“, so Kalteis. Heute braucht man pro Schuh am Berg gerade einmal läppische fünf Minuten zum Anziehen „die Pioniere hingegen benötigten für ihre Lederschuhe pro Schuh eine halbe Stunde! Danach wurde ihnen oft schwindelig und übel, weil durch die gebückte Haltung der Bauch auf die Leber gedrückt hat.“ Kalteis schüttelt bewundernd den Kopf: „Es ist einfach unglaublich, was die damals geleistet haben.“ Der technologische Fortschritt, auch in Sachen Bekleidung, hat das Bergsteigen extrem erleichtert. Daunenjacken und Daunenhosen gewährleisten heute quasi Voll-Wärmeschutz. Am sensibelsten sind noch die Hände, „aber da trägt man bis zu fünf Paar Handschuhe übereinander. Beginnend mit Seidenhandschuhen, die wie eine zweite Haut sind.“ Der Grund ist klar. In der extremen Kälte könnte man mit bloßen Händen am Eis picken bleiben. Dabei muss man auch diesbezüglich mit einem Klischee aufräumen. Am Berg herrschen nicht durchgehend tiefpolare Temperaturen. „Am Gasherbrum etwa sind wir auf 5.000 Meter Höhe bei rund 20 Grad in kurzen Hosen und im kurzen Leiberl in der Sonne gesessen. Sobald aber die Sonne hinterm Grat verschwand, sank die Temperatur innerhalb von fünf Minuten auf minus 10 Grad ab.“ Selbst auf 8.000 Metern Höhe kann die Temperatur im Sonnenschein noch bis auf 0 Grad klettern, während sie in der Nacht auf bis zu minus 30, minus 40 Grad abfällt. Mit der richtigen Ausrüstung kein Problem.
„Prinzipiell“, so Kalteis, „ist das Bergsteigen um vieles sicherer geworden gegenüber früher. Da gab es einen enormen technologischen Fortschritt in allen Belangen. Seilrisse etwa gibt es heute praktisch nicht mehr. Umgekehrt verleitet das aber Leute auf Berge zu steigen, die dort eigentlich nichts zu suchen haben“ Damit spielt Kalteis auf das Phänomen Massentourismus an. Schüttelt man hierzulande schon den Kopf, wenn einem auf der Pasterze des Großglockners Leute in Sandalen entgegenkommen, so macht dieses Phänomen überspitzt formuliert selbst vor dem Dach der Welt nicht halt – mit dementsprechenden Folgen. „Den Everest kannst weglassen. Da ist mittlerweile die Mafia, es regiert nur mehr das Geld, das ist Massentourismus pur. Und die Blitzer haben keine Ahnung. Z. B. haben unlängst welche das Lager ausgeräumt – damit bringen sie die nächsten aber in Lebensgefahr! Die Situation dort ist einfach indiskutabel, daher werde ich sicher nicht den Everest besteigen, auch wenn es weh tut“, schüttelt Kalteis angeekelt den Kopf, und verweist noch auf ein zweites, negatives Phänomen, was am Everest evident wird. „Die Everest-Expeditionen sind zumeist bunt zusammengewürfelt. Die Teilnehmer zahlen viel Geld und stehen dann am Standpunkt, dafür krieg ich den Gipfel! Da geht’s nur ums Ego, denen sind andere egal.“
Vertrauensbasis
Kalteis hingegen hält Kameradschaft, Teamwork für essentiell wichtig und auch für wertvollen Bestandteil des Gesamterlebnisses. Schon zuhause, wenn man ein Team aufstellt, sucht man sich deshalb die Leute im Idealfall bewusst danach aus, ob man kompatibel ist. Ein Akt ohne Garantie freilich. „Zuhause plauderst du halt gemütlich bei ein, zwei Bier, wenn du gesellig auf der Hütte zusammensitzt. Richtig kennen lernst du jemanden aber erst am Berg, in Extremsituation“, oder wenn du stundenlang in einem kleinen Zelt zusammengepfercht bist. Dann entsteht eine Intimität, die entweder zum Lagerkoller führt, oder zu tiefer Verbundenheit. „Da reden Männer über intime Sachen, über die sie hier nie ein Wort verlieren würden! Du bist einfach viel offener!“ Zum anderen entpuppt sich erst am Berg, wie zuverlässig jemand wirklich ist „Wenn man weiter raufkommt, fragt man sich schon: ‚Wird der auf mich schauen, wenn ich zurückbleibe?‘“ Im Fall des Khan Tengri Expeditionsteams war das überhaupt kein Thema „Wir sind immer in Sichtweite voneinander gegangen, um im Fall der Fälle reagieren zu können.“ Es bestand ein ungeschriebenes Gesetz zwischen den vier Männern: „Wir planen gemeinsam, wir finanzieren gemeinsam, wir besteigen den Berg gemeinsam und wir kommen auch wieder gemeinsam herunter.“ So war es auch. „Für mich ist Vertrauen einfach ein Schlüsselbegriff. Das ist wie zuhause, wenn du unterwegs bist in deinem Freundeskreis – da fühlst du dich auch gut aufgehoben. So muss es auch am Berg sein! Das waren alles klasse Burschen, großartige Alpinisten, zu denen hatte ich dieses Vertrauen“, betont er, um dann nachdenklich hinzuzufügen. „Aber ich hatte es diesmal nicht zum Berg. Der Khan Tengri hat schön ausgeschaut, aber er hat mit Eis und Lawinen auf dich geschossen. Da ist es schwer, eine Vertrauensbasis aufzubauen!“ Später wird er noch im Hinblick auf die Entscheidung, den Gipfelsturm abzubrechen, hinzufügen „das ist uns nicht schwer gefallen, weil uns der Berg einfach nicht mochte.“
Ein Berg, der einen nicht mag?! Gar feindselig gesinnt ist? Was auf den ersten Eindruck hin paradox klingt, ist doch eine Erfahrung, die vielen Bergsteigern gemein ist. Der Berg ist nicht nur mehr Materie aus Stein, Fels, Eis, Schnee (bzw. auch Vegetation und Fauna, wenn man sich in niedrigeren Breiten bewegt), sondern er erscheint geradezu belebt, mutiert zum beseelten Gegenüber. Ist dir wohlgesonnen, oder ist es nicht.
15 Schritte-10 Schritte-5 Schritte
Letztlich ist er die allerletzte Instanz, die über Erfolg und Misserfolg einer Expedition entscheidet, wobei – und diesen Spielraum, diese Option lässt er zumeist seinen Herausforderern offen – auch ein aus Vernunftgründen abgebrochener Gipfelsturm ein Erfolg ist. Manche ziehen diese Option aber nicht und verspielen damit ihren Kredit. Zu sehr lockt der Gipfel, vor allem wenn das Ziel zum Greifen nahe scheint. Gerlinde Kaltenbrunner etwa führte unlängst aus, welch extremer Willensakt ein Abbruch knapp vorm Ziel ist, welch ungemeine Anziehungskraft der vermeintlich nahe Gipfel ausübt. Für jene, die dieser trotz davonlaufender Zeit, trotz offensichtlicher Gefahren nicht widerstehen können, kann dies tödlich enden. Auch im Fall des erst im Juli verunglückten Vizebürgermeisters von Traunkirchen Wolfgang Kölblinger am 8.125 Meter hohen Nanga Parabat (der als einer der gefährlichsten Berge der Welt gilt – jeder fünfte Bergsteiger kommt nicht zurück ins Basislager) hält dies Kalteis für wahrscheinlich. „Er war angeblich schon beim Aufstieg Stunden zurück und wollte trotzdem noch hinauf.“ Kölblinger hat damit ein ungeschriebenes 8.000’er Gesetz der Bergsteiger missachtet, das besagt, dass man bis 15 Uhr den Gipfel erreicht haben sollte. Geht sich das nicht aus, soll man umkehren. Zwar dürfte Kölblinger gegen 18 Uhr am Gipfel angekommen sein, aber beim Abstieg ist er dann, wie seine Kameraden rekonstruierten, abgestürzt. „Es gibt einen alten Spruch: Solange du oben bist, gehörst du dem Berg. Erst wenn du wieder untern bist, gehört der Berg dir!“ Dabei räumt Kalteis ein, dass er selbst bislang zum Glück noch nie in eine derartige Situation gekommen ist. „Diesmal etwa am Khan Tengri war eindeutig, dass wir abbrechen!“ Nachsatz: „Aber so knapp unterm Gipfel würde ich mir wohl auch schwer tun, umzukehren. Aber man muss eben extrem aufpassen. Es geht ja nicht nur um den Aufstieg, sondern auch darum, dass du wieder rechtzeitig runter ins Lager kommst. Außerdem werden die Anstrengung immer schwerer. Irgendwann bist du am Limit.“ Und das klarerweise, je höher du kommst, je dünner die Luft wird, denn Kalteis wie seine Kollegen verzichten auf Sauerstoffgeräte (führen diese allerdings im Erste Hilfe Kasten für Notfälle mit).
Wenn die Kräfte sukzessive nachlassen, helfen sich die Bergsteiger übrigens mit einem psychologischen Trick weiter. “Wichtig ist, dass du deinen Rhythmus findest. Anfangs bist du ja voller Enthusiasmus, denkst dir, das schaff ich noch. Aber allmählich hast du mit dem Atem zu kämpfen. Dann ist das Ziel nicht mehr der Gipfel oder das Lager, sondern es reduziert sich auf die nächsten 15 Schritte. Du gehst also 15 Schritte, dann verschnaufst du fünf Minuten, dann die nächsten 15 Schritte – immer so weiter. Und Irgendwann sind es nur mehr zehn Schritte, zuletzt sogar nur mehr fünf!“
Der Weg ist das Ziel
Und irgendwann... erreichst du dann doch dein Ziel, stehst oben am Gipfel, am höchsten Punkt. Das muss doch ein unbeschreibliches Glücksgefühl sein? Diesbezüglich räumt Kalteis mit einem falschen Klischeebild auf, von wegen man reißt die Hände in die Höhe, tanzt ums Gipfelkreuz und schreit dem Berg ein enthusiastisches „Geschafft!“ entgegen. „Du bist am Gipfel so zach, so am Semmerl, dass du da sicher nicht ausflippst. Das ist keine eruptive Emotion! Vielleicht wird dir das erst klarer, wenn du dann wieder unten bist im Lager. Aber ehrlich gesagt“, fügt er hinzu, „ich warte bis heute auf diese Eruption!“ Letztlich gehe es nämlich gar nicht so sehr um den Gipfelsieg an sich, als vielmehr um das Gesamterlebnis. „Dass ich daheim erzählen kann, ich war am Gipfel oben, das ist mir eigentlich egal! Natürlich sind 8.035 Meter, wie am Gasherbrum, eine unglaubliche Leistung. Aber das geht kaum konform mit den Erlebnissen, die du schon am Weg hast. Wenn etwa auf einmal die 6.000‘er und 7.000‘er Gipfel auftauchen. Ein Berg in der Sonne komplett in Rot erstrahlt. Das ist einfach herrlich! Und du weißt, dass die Altvorderen auch den gleichen Weg gegangen sind wie du, dass sie das Gleiche gesehen haben!“
Irgendwie, so scheint es, dürfte sich beim Bergsteigen die Tür zum Universum einen Spalt öffnen, oder sie geht sogar ganz auf, und man tritt hindurch und fühlt sich mit einem Schlag befreit. Das ist es, was man vielleicht als Grenzerfahrung bezeichnen könnte, wobei Bergsteiger die Grenze eben überschreiten. Bergsteigen, so vermeint man aus Kalteis Ausführungen herauszuhören, bekommt in diesem Sinne einen meditativen, fast religiösen Charakter. Da oben im Eis und Schnee ist der Bergsteiger in vielen Momenten völlig auf sich, in sich zurückgeworfen. Stille greift um sich „Was du hörst, ist dein eigener Atem, sind deine eigenen Schritte, ist das Knirschen des Schnees. Du bist für die Vorgänge rund um dich viel sensibler.“
Und für dich selbst. Dabei ist man zwar allein, aber nicht einsam, sondern fühlt sich geradezu eingebettet in ein Ganzes. Das mag der Schlüssel zum mystischen Aspekt des Bergsteigens sein, den wohl nur jene begreifen, die schon oben waren inmitten der unendlichen Weite sich ausbreitender Berggipfel. „Eigentlich bist du froh, dass keiner da ist! Und du bist von menschlichen Problemen so weit weg. In den Bergen bist du Gott am nächsten. Ja, du kommunizierst mit Gott, empfindest Dankbarkeit, spürst die Weite, spürst die Höhe – es ist, als ob deine Seele wandert!“
Und sie wandert auf friedlichen Pfaden, die einen erfüllen, einen vollenden. „Das Gefühl ist schwer zu beschreiben. Das ist vielleicht vergleichbar, wie wenn du dich in eine duftende Blumenwiese legst. Da fühlst du dich auch völlig frei. Allerdings ist es zeitlich begrenzter als am Berg. Oder wenn du am Meer bist und auf einem Felsen sitzt, hinausschaust und dem Meeresrauschen lauscht– es gibt keinen schöneren Klang!“ Immer ist es also die Natur in ihrer gesamten herrlichen Gewalt und Ursprünglichkeit, die in Sachen Universalität zur Mittlerin, zur Brücke wird. „Natur ist wichtig. Natur ist heilig! Man muss nur die Augen öffnen, um ihre Wunder zu erleben und zu erkennen.“ Freilich, in den Bergen kommt dieser Verschmelzung des Ichs mit dem Universum eine entscheidende weitere Dimension hinzu, die quasi noch weiter hineinführt, das Erlebnis noch weiter vertieft: Der eigene Wille, die Aktivität, die Überwindung. „Am Berg muss ich mir diese unglaublichen Erlebnisse sozusagen verdienen! Du musst etwa um 4 Uhr aufstehen, weil wenn du es nicht tust, wirst du das Rot der Berge in der aufgehenden Morgensonne nicht erleben. Und du musst hinaufgehen, weil sonst wirst du den Firngrat im Mondschein nicht sehen. Das sind so nachhaltige Erlebnisse, für die musst du etwas tun, dafür musst du etwas leisten.“ Und sie sind so nachhaltig – möchte man hinzufügen – eben gerade WEIL du etwas dafür tun musst. Denn durch die eigene Aktion wirst du selbst Teil des Ereignisses, löst es quasi mit aus. Wenn du sozusagen nicht aus Eigenantrieb rechtzeitig da bist, dann geht das Ereignis an dir vorbei, dann hat es eigentlich nie stattgefunden. Während die Blumenwiese da ist und du dich einfach hineinlegst, musst du zum roten Berg aufbrechen, musst Entbehrungen auf dich nehmen, um das Schauspiel zu erleben. In diesem Sinne kann man beim Bergsteigen von einem Sieg, einer Eroberung sprechen. Aber in Wahrheit eroberst du nie den Berg, sondern nur dich selbst. Du entreißt dir selbst diese Stücke vom Paradies.
Verrückte
Freilich gibt es auch eine „Kehrseite“. Wer über einen so langen Zeitraum über der Grenze war, wer ganz oben am Gipfel stand und den losgelösten Überblick gewonnen hat, der tut sich mit den engen Tälern und eingeschränkten Sichtweisen der Niederungen schwer. So sehr, dass der Weg dorthin zurück schwer fällt. „Ich brauche in der Regel ein Monat lang, um mich nach der Rückkehr wieder zurechtzufinden. Das ist nicht einfach. Alles was ‚problembehaftet‘ ist, war am Berg ja ausgeblendet. Wenn du dann zurückkommst, fehlt dir die Aggressivität für den Alltag. Du bist entwöhnt für die Probleme hier, bist überrascht, dass Phänomene wie Neid, Bosheit und dergleichen überhaupt existieren. Du kannst nicht mehr so relaxed sein. Ich tu mir in dieser Zeit extrem schwer, mich so zu behaupten und so durchzusetzen wie vorher.“ Kalteis beschreibt damit ein generelles Phänomen. Wenn der Bergsteiger zurückkommt – und so bezeichnen sie sich oft selbst im Spaß – dann ist er tatsächlich „verrückt“, wie gemeinhin viele Leute mit einem Schuss Anerkennung von den „Freaks“ behaupten. Aber es ist keine Verrücktheit im Sinne von normal oder anormal, sondern im Sinne eines ver-rückten Blickwinkels. Sie sehen die Dinge mit einem Mal anders. „Natürlich gibt es Leute, die sagen, das ist verrückt, was ich tue, nicht normal. Aber für mich ist umgekehrt nicht normal, wenn jemand jeden Tag im Wirtshaus sitzt und sich eine Wampe ansauft, so dass er sich nicht einmal mehr rühren kann. Oder ich habe Freunde in meinem Alter, die würden daran scheitern, mit dem Rad von Weinburg nach Hofstetten zu fahren. Das ist nicht normal!“
Für Kalteis wäre eine derartige Lebensweise undenkbar. Der Körper ist für ihn als Bergsteiger der Schlüssel, die Eintrittskarte, wenn man so möchte. Man muss darauf aufpassen. „Ich weiß, dass mir noch so viele solcher wunderschönen Erlebnisse, mir noch weitere Berge offenstehen, weil ich meinen Körper fit halte. Darauf freue ich mich!“ Dann fügt er nachdenklich hinzu. „Bergsteigen, das ist ein so intensives, ein so lebensbejahendes Gefühl!“
Und so offenbart sich zuletzt die Botschaft der Berge, wenn sie rufen – eine Botschaft, die universal ist und auch in den Niederungen verstanden und gelebt werden kann: Carpe diem! Nutze den Tag! Liebe das Leben! „Man geht nicht auf den Berg, um zu überleben. Man geht auf den Berg um zu leben, zu erleben! Und wenn ich etwas aus meiner Krankheit gelernt habe, dann dies: Man soll intensiv leben. Bewusst. Profan gesprochen heißt das: Nur keine Zeit verscheißen!“ Dem ist nichts hinzuzufügen.
Infos zum Thema:
KHAN TENGRI 2009 (7.010 Meter)
Ursprünglich will das Expeditionsteam heuer den 8201 Meter hohen Cho Oyu besteigen, „aber aufgrund der labilen politischen Situation in der Region war uns das zu gefährlich.“ So wird es schließlich der Khan Tengri in Kirgisien „weil er als einer der acht schönsten Berge der Welt gilt!“ Was die Bergsteiger vor allem reizt, ist die Aussicht auf ein möglichst ursprüngliches Wandererlebnis, „so wie es die Altvorderen erlebt haben. Die waren allein damals, es war noch nichts da – das war ein ganz anderes Bergsteigen.“ Eines, das „russisches Wandern“ noch am ehesten zu vermitteln imstande ist. „Kirgisien etwa ist schwer erreichbar, daher gibt es dort noch nicht viele Bergsteiger. Es gibt dort auch keine Sherpas. Du zahst alles selbst mit auf den Berg.“
Ist es bei der Ankunft „noch strahlend schön“, schlägt das Wetter nach vier Tagen um. Als besondere Herausforderung machen die Bergsteiger einen langen Eiskanal aus „ein enges Tal, wo das Eis überhängt. Das wirkte sehr bedrückend. Da mussten wir beim Auf- und Abstieg durch.“
Nach Rücksprache mit Wettergott Dr. Charly Gabl in Innsbruck „den kennt jeder Bergsteiger auf der ganzen Welt – er trifft die exaktesten Vorhersagen“ versuchen die Bergsteiger den Aufstieg, wenngleich Gabl schlechtes Wetter prophezeit. „Aber man denkt sich, wenn man schon da ist... Und schlechtes Wetter allein ist ja nicht das Problem – da ziehst du dich einfach wärmer an. Dort war das große Problem die hohe Lawinengefahr! Wir sind dann eingestiegen, mit 30kg schweren Rucksäcken, zu dritt, weil unser Expeditionsleiter krank geworden ist.“ Die Bergsteiger durchqueren den Eiskanal, erreichen das 2‘er Lager. „Dann wollten wir etwas kochen – und sind draufgekommen, dass die Sturmzünder, das Kochgeschirr etc. der zurückgelassene Kamerad hat.“ Der erste Versuch wird abgebrochen, auch aufgrund der hohen Lawinengefahr. Nach vier Tagen probieren es die Bergsteiger erneut, brechen um 1 Uhr früh auf. „Am Weg sind uns Ukrainer entgegengekommen, die hatten drei Sturmnächte am Berg hinter sich.“ Kein gutes Omen. Diesmal dringt die Gruppe bis auf 5.300 m vor „aber dann spielte wieder das Wetter nicht mit, wieder war die Lawinengefahr zu hoch.“ Der Aufstieg wird abgebrochen. Der Gipfelsturm des Khan Tengri ist gescheitert.
GASHERBRUM II 2006 (8.035 Meter)
Ganz anders läuft das Bergsteigen in Zentralasien ab. Alles wird über eine Agentur auf Schiene gebracht. „Die klärt im Vorfeld alles ab, besorgt die Visa, klärt die Anreise ab, stellt ein Basislager- und Küchenteam auf, besorgt Sherpas etc.“ Auch für die Verpflegung im Basislager sorgt die Agentur „Da bekommst du lokale Küche. Ab dem Hochlager ist dann jeder selbst für seine Verpflegung verantwortlich.“ Während Gerlinde Kaltenbrunner etwa auf Babynahrung schwört, „hab ich u. a. viel Knödel gegessen, da war ich gleich der Knödelpeter. Prinzipiell isst du Fertignahrung, auch viel Suppen, damit du Flüssigkeit und Salze zu dir nimmst !“
Nach dem Anmarsch ins Basislager beginnt die Phase der Akklimatisierung. „Dann gibt’s mal ein, zwei Tage, wo du dich zurücknimmst. Du beschäftigst dich mit dem Berg, siehst dein Material durch etc.“ Der Körper muss sich akklimatisieren. „Du misst die Sauerstoffsättigung im Blut. Ab 90% bist du bereit. Aber das merkst du ohnedies, denn vorher hast du das Gefühl von Erstickungsanfällen, Beklemmungsgefühle etc.“
Dann marschiert man zum 1’er Lager. Mit Hochträgern oder nicht, das entscheidet die Expedition selbst. „Dort bringst du Verpflegung hin, Gas, baust das Zelt auf, erkundest wieder die Gegend, beobachtest den Berg, dann gehst du zurück ins Basislager. Beim 2. Mal schläfst du vielleicht schon oben, dann gehst du wieder zurück, isst und trinkst – das ist sehr wichtig.“ Dann bist du für den weiteren Aufstieg bereit.
Als Kalteis 2006 am Gasherbrum ist, läuft nicht alles so glatt. „Wir sind auf 5.500 m aufgestiegen, da ist es mir sehr gut gegangen.“ Als die anderen aber zu höheren Sphären aufbrechen, wird Kalteis krank. „Das hat mir aber eigentlich gar nichts ausgemacht. Ich war schon so happy, so beeindruckt, dass ich eigentlich gar nicht mehr weiter wollte.“
Allerdings möchte das ein Freund ein paar Tage später. Aus Kameradschaftsgründen bittet man Kalteis, Sachen mit ins nächste Höhenlager zu schleppen. In weiterer Folge ist es ein Zelt, das ins wieder nächsthöhere Lager soll – so hantelt er sich sukzessive dem Gipfel entgegen, bis er am 31. Juli 2006 am Gipfel steht. (www.peterkalteis.webstorm.at)