Tod eines Vagabunden
Ausgabe
Fahrräder werden relativ häufig vergessen. Egal ob schnieke City-Bikes oder rostige Drahtesel. Der große Lagerraum des St. Pöltner Fundamtes, der sich in einer schon seit Jahren leerstehenden Holz- und Bastelwarenhandlung am Rande des Karmeliterhofes befindet, ist jedenfalls voll davon. Etwas verwundert bin ich allerdings, dort auch ein nagelneues, weißes Surfboard vorzufinden und eine große Pappkarton-Schachtel mit circa 150 Propagandavideos von Jörg Haider aus einem längst geschlagenen Wahlkampf. Der ärarische Lagerraum ist schlecht, das heißt gar nicht belüftet, und die Beleuchtung, eine einzige, in unregelmäßigen Abständen flackernde Neonröhre, verdient die Bezeichnung Lichtquelle gar nicht. Unter solchen Umständen bin ich auf den Meldezettel von Leopold Karner gestoßen, denn die Ansammlung von sperrigen Fundsachen, die im ehemaligen Lagerraum der Firma Holz-Wallner ihrer Rückgabe, Versteigerung oder Beseitigung harren, hat mich weit weniger interessiert als eine ganze Reihe von alten, gusseisernen Karteikästen, die dort ebenfalls gelagert werden.
Im März 2002 wurde das Meldewesen in Städten mit Bundespolizeibehörden vom Bund an die jeweiligen Kommunen übertragen. Die Stadt St. Pölten erbte nolens volens nicht nur diese neue Aufgabe, sondern auch das historische Meldearchiv der Bundespolizeidirektion St. Pölten. Mitüberstellt wurden auch die uralten, ausgeleierten Karteikästen. Dieses Archiv besteht meiner groben Schätzung nach aus circa 150.000 Meldezetteln, die aus dem Zeitraum der letzten Jahre des 19. Jahrhunderts bis in die sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts stammen – bis dato völlig unbearbeitetes Material, ein Objekt der Begierde für jeden (Lokal-)Historiker, aus meiner Sicht jedenfalls unendlich faszinierender als De Rosa-Rennräder, teure Surfbretter und politische Botschaften. Laut seinem Meldezettel wurde Leopold Karner am 21. März 1896 in Rossatzbach im Bezirks Krems geboren. Als seine „Heimatsgemeinde“ ist Krummnußbaum im Bezirk Melk angegeben. Als Beruf ist „H.A.“, also Hilfsarbeiter vermerkt. Als Staatsangehörigkeit ist Österreich, als Familienstand ledig und als Religion „r.k.“, also römisch-katholisch dokumentiert. Ab 11. Mai 1938 ist Leopold Karner in der Jean-Paul-Straße in St. Pölten gemeldet, die in Klammer hinzugefügte Kurzbezeichnung der Liegenschaft ist unleserlich. Unter der Rubrik „Zugezogen woher“ ist in akkurater Handschrift „Wanderschaft“ eingetragen. Mit Datum 21. Juli 1938 wird die Abmeldung nach „Dachau“ amtlich vermerkt. In einer Datenbank des Dokumentationsarchives findet sich noch die Eintragung: „Gestorben 10. Januar 1940 in Mauthausen.“ Der DÖW-Sachbearbeiter hat noch hinzugefügt: „Eingeliefert als „Arbeitsscheuer“ zur Zwangsarbeit. Zu dieser Zeit wurde im KZ Mauthausen noch „Vernichtung durch Arbeit“ betrieben – erst der für die Nazis ungünstige Kriegsverlauf erforderte den Einsatz von KZ-Häftlingen für produktive Zwecke und damit ihre bessere Versorgung.“ Das ist alles, was von Leopold Karner geblieben ist, das ist alles, was wir von Leopold Karner wissen. Es ist wohl kein Zufall, dass ein armseliger Tagelöhner und Vagabund, der von den Nazis durch mindestens zwei KZs geschleift worden ist, bis er zu Tode geschunden war, 1938 in der Jean-Paul-Straße Obdach gefunden hat. Diese erst 1933 geschaffene Stichstraße lag und liegt am nördlichen Ende der sogenannten Eisberg-Siedlung nördlich des Kaiserwaldes und westlich des Hauptbahnhofes. Die Siedlung – heute eine der besseren Wohnlagen der Landeshauptstadt mit vielen neuen Einfamilienhäusern wie aus dem Elk-Katalog – wurde in den dreißiger Jahren nicht zu Unrecht „Bretteldorf“ genannt und war ein weitgehend ‚wild‘, also konsenslos errichtetes Notwohnquartier von Arbeitslosen, Ausgesteuerten und Pauperisierten auf dem lehmig-sumpfigen Gelände einer aufgelassenen Ziegelei. Der alte Riedname der Gegend lautete Kaltenbrunn. Seit 1886 hatte hier eine große Ziegelbrennerei bestanden, die zahlreiche Ziegelteiche hinterlassen hatte. In den Wintern sägten St. Pöltner Gastwirte, aber auch Fleischhauer und Lebensmittelhändler große Eisplatten aus den zugefrorenen Teichen und ließen sie zur Kühlhaltung bis in den Sommer hinein in ihre tiefen Vorratskeller schaffen. Daher auch der Name Eisberg. Unter den Menschen des damaligen Bretteldorfes am Eisberg dürfte eine armselige Existenz wie Leopold Karner nicht weiter aufgefallen sein, jedenfalls bis ein damaliger NS-Beamter oder –Funktionär seinen Meldezettel mit dem Vermerk „Wanderschaft“ und sein Vorstrafenregister, den Sündenkatalog eines Vagabunden, der heute fein säuberlich getippt an den Meldezettel angeheftet ist, miteinander in Beziehung setzte und seine Deportation in das KZ Dachau veranlasste. Am 23. April 1914 wurde Leopold Karner vom Bezirksgericht Haugsdorf nach Paragraph 468 des Strafgesetzbuches, also wegen „Übertretung der boshaften Beschädigung fremden Eigentums“ zu vier Wochen Arrest verurteilt. Danach folgten bis in die Dreißiger Jahre gut zwei Dutzend Verurteilungen durch Gerichte in St. Pölten, Krems, Mank, Kufstein, Leonfelden, Hartberg und Graz. Karner wurde wegen diverser Diebstahlsdelikte, aber auch immer wieder nach dem sogenannten Vagabundengesetz von 1885 verurteilt, das unter anderem Folgendes unter Strafe stellte: „§ 1. Wer geschäfts- und arbeitslos herumzieht und nicht nachzuweisen vermag, dass er die Mittel zu seinem Unterhalte besitze oder redlich zu erwerben suche, ist als Landstreicher zu bestrafen. Die Strafe ist strenger Arrest von ein bis zu drei Monaten.“ Auch wegen eines weiteren heute längst nicht mehr unter Gefängnisstrafe stehenden ‚Verbrechens‘ wurde Leopold Karner nach diesem Gesetz angeklagt, verurteilt und eingesperrt: „§ 2. Wegen Bettelns ist zu bestrafen: 1. Wer an öffentlichen Orten oder von Haus zu Haus bettelt oder aus Arbeitsscheu die öffentliche Mildtätigkeit in Ansprech nimmt. Die Strafe ist strenger Arrest von acht Tagen bis zu drei Monaten.“ 1927 wurde Leopold Karner vom Bezirksgericht Graz nach Paragraph zwölf des Strafgesetzbuches, also wegen „Beleidigungen der öffentlichen Beamten, Diener, Wachen, Eisenbahnangestellten usw.“ zu vierzehn Tagen Arrest verurteilt. Keine Frage, dass Leopold Karner mit einer solchen Latte an Vorstrafen gerade in den wirtschaftlichen Krisenzeiten der Zwanziger und Dreißiger Jahre wohl nirgends in Österreich eine ordentliche Arbeitsstelle gefunden hat, wahrscheinlich auf mühselige und schlecht bezahlte Tagelöhnerjobs etwa als saisonaler Erntehelfer angewiesen war und sich daher niemals aus dem Vagabundenleben befreien konnte. Seine bittere Armut und vermutlich langjährige Obdachlosigkeit kosteten ihn schließlich sogar das Leben, der Verwaltungsmord an der armseligen Karnerschen Existenz wurde im KZ Mauthausen endgültig vollstreckt. Leopold Karner ist wohl kein beispielhaftes, kein edles und makelloses, kein heldenhaftes NS-Opfer, schon gar kein Widerstandskämpfer. Er taugt nicht für die Geschichtsbücher. Er ist kein Bild für die antifaschistische Auslage. Keine politische Richtung würde ihn für sich reklamieren wollen. Er ist Zeit seines Lebens öfters mit dem Strafgesetzbuch in Konflikt geraten. Aber wenn er gestohlen hat, so viel ist sicher, dann wohl doch nur, um sein armseliges Leben zu fristen, um nicht zu verhungern. Leopold Karner war ein Mensch. Die Bestrafung mit dem Tod – und die Deportation in ein KZ war nichts anderes als eine solche – hatte er jedenfalls nicht verdient. 1955, kurz nach dem Abzug der Roten Armee aus St. Pölten, wurde wohl auf Betreiben des sozialdemokratischen Bürgermeisters Dr. Wilhelm Steingötter die Jean-Paul-Straße, die seit 1933 diesen Namen getragen hatte, in Weinheberstraße umbenannt. Der neue Namenspatron war der österreichische Schriftsteller und einst prominente (Kultur-)Nazi Josef Weinheber. Buchtipp: Manfred Wieninger: „Das Dunkle und das Kalte. Reportagen aus den Tiefen Niederösterreichs“. edition Mokka: Wien 2011.
Im März 2002 wurde das Meldewesen in Städten mit Bundespolizeibehörden vom Bund an die jeweiligen Kommunen übertragen. Die Stadt St. Pölten erbte nolens volens nicht nur diese neue Aufgabe, sondern auch das historische Meldearchiv der Bundespolizeidirektion St. Pölten. Mitüberstellt wurden auch die uralten, ausgeleierten Karteikästen. Dieses Archiv besteht meiner groben Schätzung nach aus circa 150.000 Meldezetteln, die aus dem Zeitraum der letzten Jahre des 19. Jahrhunderts bis in die sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts stammen – bis dato völlig unbearbeitetes Material, ein Objekt der Begierde für jeden (Lokal-)Historiker, aus meiner Sicht jedenfalls unendlich faszinierender als De Rosa-Rennräder, teure Surfbretter und politische Botschaften. Laut seinem Meldezettel wurde Leopold Karner am 21. März 1896 in Rossatzbach im Bezirks Krems geboren. Als seine „Heimatsgemeinde“ ist Krummnußbaum im Bezirk Melk angegeben. Als Beruf ist „H.A.“, also Hilfsarbeiter vermerkt. Als Staatsangehörigkeit ist Österreich, als Familienstand ledig und als Religion „r.k.“, also römisch-katholisch dokumentiert. Ab 11. Mai 1938 ist Leopold Karner in der Jean-Paul-Straße in St. Pölten gemeldet, die in Klammer hinzugefügte Kurzbezeichnung der Liegenschaft ist unleserlich. Unter der Rubrik „Zugezogen woher“ ist in akkurater Handschrift „Wanderschaft“ eingetragen. Mit Datum 21. Juli 1938 wird die Abmeldung nach „Dachau“ amtlich vermerkt. In einer Datenbank des Dokumentationsarchives findet sich noch die Eintragung: „Gestorben 10. Januar 1940 in Mauthausen.“ Der DÖW-Sachbearbeiter hat noch hinzugefügt: „Eingeliefert als „Arbeitsscheuer“ zur Zwangsarbeit. Zu dieser Zeit wurde im KZ Mauthausen noch „Vernichtung durch Arbeit“ betrieben – erst der für die Nazis ungünstige Kriegsverlauf erforderte den Einsatz von KZ-Häftlingen für produktive Zwecke und damit ihre bessere Versorgung.“ Das ist alles, was von Leopold Karner geblieben ist, das ist alles, was wir von Leopold Karner wissen. Es ist wohl kein Zufall, dass ein armseliger Tagelöhner und Vagabund, der von den Nazis durch mindestens zwei KZs geschleift worden ist, bis er zu Tode geschunden war, 1938 in der Jean-Paul-Straße Obdach gefunden hat. Diese erst 1933 geschaffene Stichstraße lag und liegt am nördlichen Ende der sogenannten Eisberg-Siedlung nördlich des Kaiserwaldes und westlich des Hauptbahnhofes. Die Siedlung – heute eine der besseren Wohnlagen der Landeshauptstadt mit vielen neuen Einfamilienhäusern wie aus dem Elk-Katalog – wurde in den dreißiger Jahren nicht zu Unrecht „Bretteldorf“ genannt und war ein weitgehend ‚wild‘, also konsenslos errichtetes Notwohnquartier von Arbeitslosen, Ausgesteuerten und Pauperisierten auf dem lehmig-sumpfigen Gelände einer aufgelassenen Ziegelei. Der alte Riedname der Gegend lautete Kaltenbrunn. Seit 1886 hatte hier eine große Ziegelbrennerei bestanden, die zahlreiche Ziegelteiche hinterlassen hatte. In den Wintern sägten St. Pöltner Gastwirte, aber auch Fleischhauer und Lebensmittelhändler große Eisplatten aus den zugefrorenen Teichen und ließen sie zur Kühlhaltung bis in den Sommer hinein in ihre tiefen Vorratskeller schaffen. Daher auch der Name Eisberg. Unter den Menschen des damaligen Bretteldorfes am Eisberg dürfte eine armselige Existenz wie Leopold Karner nicht weiter aufgefallen sein, jedenfalls bis ein damaliger NS-Beamter oder –Funktionär seinen Meldezettel mit dem Vermerk „Wanderschaft“ und sein Vorstrafenregister, den Sündenkatalog eines Vagabunden, der heute fein säuberlich getippt an den Meldezettel angeheftet ist, miteinander in Beziehung setzte und seine Deportation in das KZ Dachau veranlasste. Am 23. April 1914 wurde Leopold Karner vom Bezirksgericht Haugsdorf nach Paragraph 468 des Strafgesetzbuches, also wegen „Übertretung der boshaften Beschädigung fremden Eigentums“ zu vier Wochen Arrest verurteilt. Danach folgten bis in die Dreißiger Jahre gut zwei Dutzend Verurteilungen durch Gerichte in St. Pölten, Krems, Mank, Kufstein, Leonfelden, Hartberg und Graz. Karner wurde wegen diverser Diebstahlsdelikte, aber auch immer wieder nach dem sogenannten Vagabundengesetz von 1885 verurteilt, das unter anderem Folgendes unter Strafe stellte: „§ 1. Wer geschäfts- und arbeitslos herumzieht und nicht nachzuweisen vermag, dass er die Mittel zu seinem Unterhalte besitze oder redlich zu erwerben suche, ist als Landstreicher zu bestrafen. Die Strafe ist strenger Arrest von ein bis zu drei Monaten.“ Auch wegen eines weiteren heute längst nicht mehr unter Gefängnisstrafe stehenden ‚Verbrechens‘ wurde Leopold Karner nach diesem Gesetz angeklagt, verurteilt und eingesperrt: „§ 2. Wegen Bettelns ist zu bestrafen: 1. Wer an öffentlichen Orten oder von Haus zu Haus bettelt oder aus Arbeitsscheu die öffentliche Mildtätigkeit in Ansprech nimmt. Die Strafe ist strenger Arrest von acht Tagen bis zu drei Monaten.“ 1927 wurde Leopold Karner vom Bezirksgericht Graz nach Paragraph zwölf des Strafgesetzbuches, also wegen „Beleidigungen der öffentlichen Beamten, Diener, Wachen, Eisenbahnangestellten usw.“ zu vierzehn Tagen Arrest verurteilt. Keine Frage, dass Leopold Karner mit einer solchen Latte an Vorstrafen gerade in den wirtschaftlichen Krisenzeiten der Zwanziger und Dreißiger Jahre wohl nirgends in Österreich eine ordentliche Arbeitsstelle gefunden hat, wahrscheinlich auf mühselige und schlecht bezahlte Tagelöhnerjobs etwa als saisonaler Erntehelfer angewiesen war und sich daher niemals aus dem Vagabundenleben befreien konnte. Seine bittere Armut und vermutlich langjährige Obdachlosigkeit kosteten ihn schließlich sogar das Leben, der Verwaltungsmord an der armseligen Karnerschen Existenz wurde im KZ Mauthausen endgültig vollstreckt. Leopold Karner ist wohl kein beispielhaftes, kein edles und makelloses, kein heldenhaftes NS-Opfer, schon gar kein Widerstandskämpfer. Er taugt nicht für die Geschichtsbücher. Er ist kein Bild für die antifaschistische Auslage. Keine politische Richtung würde ihn für sich reklamieren wollen. Er ist Zeit seines Lebens öfters mit dem Strafgesetzbuch in Konflikt geraten. Aber wenn er gestohlen hat, so viel ist sicher, dann wohl doch nur, um sein armseliges Leben zu fristen, um nicht zu verhungern. Leopold Karner war ein Mensch. Die Bestrafung mit dem Tod – und die Deportation in ein KZ war nichts anderes als eine solche – hatte er jedenfalls nicht verdient. 1955, kurz nach dem Abzug der Roten Armee aus St. Pölten, wurde wohl auf Betreiben des sozialdemokratischen Bürgermeisters Dr. Wilhelm Steingötter die Jean-Paul-Straße, die seit 1933 diesen Namen getragen hatte, in Weinheberstraße umbenannt. Der neue Namenspatron war der österreichische Schriftsteller und einst prominente (Kultur-)Nazi Josef Weinheber. Buchtipp: Manfred Wieninger: „Das Dunkle und das Kalte. Reportagen aus den Tiefen Niederösterreichs“. edition Mokka: Wien 2011.