St. Pölten im 20. Jahrhundert: Die Hauptstadt kam zum schlechtesten Zeitpunkt
Ausgabe
Siegfried Nasko hat vor kurzem das Buch „St. Pölten im 20. Jahrhundert“ herausgegeben. Mit MFG plauderte er über Singularitäten in der St. Pöltner Stadtgeschichte, über Helden und „Teufel“, Provinzialismus, die Hauptstadt, und warum er Bundesländer für überholt hält.
Gibt es eigentlich so etwas wie einen roten Faden in der Geschichte St. Pöltens im 20. Jahrhundert?
Einer ist ohne Zweifel die durchgehende Aufwärtsentwicklung. Zuvor hat St. Pölten vom Mittelalter herauf bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts bei etwa 3.500 Einwohnern stagniert. Mit dem Anschluss an die Westbahn wurde das Tor zur Welt aufgestoßen. 1900 lebten bereits 14.500 Leute in der Stadt, bis heute hat sich diese Zahl weiter vervierfacht, die Zahl der Häuser hat sich verfünfzehnfacht, die Fläche verzehnfacht! All dies ist Beleg für die zunehmende Bedeutung der Stadt!
Ein zweiter roter Faden – der typisch für alle Städte war – ist die Tatsache, dass das 20. Jahrhundert das Jahrhundert der Sozialdemokratie war.
Prinzipiell könnte man St. Pölten historisch betrachtet wohl als geradezu exemplarische österreichische Stadt bezeichnen.
Das stimmt. In der allgemeinen Aufwärtsentwicklung des Jahrhunderts gab es Rückschläge durch den Ersten Weltkrieg, durch Wirtschaftskrise, Bürgerkrieg, Ständestaat, Zweiten Weltkrieg, NS-Besatzung, russische Besatzung. 1914 gab es Hurra-Rufe, Kriegsbegeisterung und Einschwören auf den Kaiser, 1938 jubelte man Hitler zu und ernannte ihn zum Ehrenbürger. Viele Dinge, wie etwa jüdische Arbeitslager bei der Glanzstoff und in Viehofen, sind erst in den letzten Jahren bekannt und aufgearbeitet worden. Andererseits gab es aber auch einzelne, die ihr Leben für andere riskierten. Die die Hasenjagd nicht mitmachten und Juden bei sich zuhause versteckten, etwa die Familie Jindrak das Mädchen Vera Heilpern.
Und es gab auch Widerstand, der quer durch alle Schichten ging und Opfer forderte. Keine Frage, die Mehrheit war „anders“. Aber St. Pölten soll auf jene stolz sein, die sich – unter Einsatz ihres Lebens – dagegen gestellt haben. Das verdient hervorgehoben zu werden!
Kommt das nicht einer Vereinnahmung gleich, auch um von den Schattenseiten abzulenken?
Jedes Regime pickt sich in seiner Geschichte die Rosinen raus, die im aktuellen Kontext als vorbildlich gelten. Das war während des Ständestaates der Fall, während der Nazis und auch während der russischen Besatzung. Aber heute leben wir in einer friedlichen Zeit, stehen nicht mehr unter dem Druck eines Regimes. Heute beurteilen wir die Historie relativ objektiv nach bleibenden Werten wie Freiheit, Demokratie, Menschlichkeit. Daher ist es wichtig, gerade diese Persönlichkeiten und ihr Wirken als vorbildlich zu würdigen!
Widerstand gab es auch im Zuge der Februar-Unruhen 1934. Diesbezüglich reklamiert St. Pölten ja eine gewisse Sonderstellung für sich in Niederösterreich.
Die größte Singularität im Vergleich zu anderen Städten besteht eigentlich darin, dass es hier eine Art österreichische Jean d’Arc gab, also eine Frau, die den Männern gezeigt hat, wo es langgeht und die das Kommando übernommen hat: Maria Emhart. 1936 war sie während der Sozialistenprozesse gemeinsam mit Bruno Kreisky eingesperrt und rechnete mit ihrer Hinrichtung.
Einzigartig im Niederösterreich-Konnex war außerdem die Hinrichtung der Widerstandskämpfer Hoys und Rauchenberger in St. Pölten. Kanzler Engelbert Dollfuss hatte ja Order gegeben, dass pro Bundesland zwei Widerstandskämpfer hingerichtet werden müssen. Diese wurden in St. Pölten vollzogen.
Zuvor gab es kaum historische Wahrnehmung über St. Pölten.
Während der Monarchie und während der 1. Republik spielte St. Pölten tatsächlich keine Rolle. Es gab kaum überregional auffällige Politiker, mit Ausnahme von Wilhelm Voelkl, der sich im Reichsrat duellierte, Julius Raab, der im Ständestaat Minister wurde, und Hugo Jury, St. Pöltner Lungenfacharzt, der unter den Nazis zum Gauleiter avancierte.
Mag es auch daran liegen – wenn man jetzt an Jury denkt – dass man bewusst derlei Persönlichkeiten verdrängte, damit sozusagen keine negative Aura auf die Stadt abfärbt?
Nein. Ich glaube, so wie man die Helden nicht für St. Pölten reklamieren darf, kann man die anderen ebenso wenig als exemplarische Oberteufel hinstellen. Man muss auch die Wandlung der Menschen berücksichtigen. Julius Raab etwa wurde in der Zweiten Republik demokratischer Bundeskanzler. Und von Leopold Figl gibt es Zeugnisse über Jury, dass dieser auch vielen geholfen hat – andererseits war er am Ende des Regimes der größte Durchhaltepeitscher und schickte die Jugendlichen in einen verlorenen Krieg. Er nahm sich in Zwettl das Leben!
Letztlich ist das ganze Leben eine Bewährungsprobe. Es geht um Qualität, um Läuterung, um Weiterentwicklung. Was die Menschen im 20. Jahrhundert erlebt haben, war extrem intensiv – es gab kein Zeitalter, in dem man soviele Höhen und Tiefen erlebte.
Und nach dem Krieg?
Der grundlegendste Unterschied zur 1. Republik war, dass es in der 2. Republik drei überregionale Persönlichkeiten mit St. Pölten-Hintergrund gab. Das waren Kardinal Franz König, Bundeskanzler Julius Raab und Bruno Kreisky, der ja auf einem St. Pöltner Mandat im Nationalrat saß. Zudem darf man auch Viktor Müllner nicht vergessen, der Landeshautpmann-Stellvertreter wurde und vordem der Widerstandsgruppe 05 angehört hatte – er ließ als St. Pöltner Magistratsbeamter 1938 ein Munitionsdepot anlegen, weil er im Falle des Einmarsches für Österreich kämpfen wollte.
Furore machten diese Persönlichkeiten aber überregional?
Es gab historisch betrachtet schon zwei wichtige Weichenstellungen, die von St. Pölten ihren Ausgang nahmen. Zum einen traute Franz König, damals noch Kurat im Dom, in der Anstaltskapelle des Krankenhauses ein evangelisches Paar! Das hatte es zuvor noch nicht gegeben.
Zum anderen fand 1967 unter Bruno Kreisky und Erika Weinzierl in St. Pölten eine Aussöhnungskonferenz mit der Katholischen Kirche statt, auf der Kreisky offen bekannte, dass die Sozialdemokratie sozusagen nicht den ganzen Menschen für sich beansprucht, sondern jeder auch persönliche Nischen hat, wie eben die Religion. Das ging in die Geschichte als St. Pöltner Konferenz ein!
Trotzdem fiel St. Pölten auch nach dem Krieg nicht sonderlich auf, am ehesten noch mit der Glanzstoff-Fabrik.
Was wenige wissen ist, dass die Nazis 1945 beim Rückzug aus der Stadt die Glanzstoff in die Luft jagen wollten. Ein Sprengkommando hatte bereits die Ladungen angebracht, ein engagierter Mitarbeiter entschärfte sie rechtzeitig, was als großes Glück gefeiert wurde. Aus Sicht der Zeit kann man natürlich fragen, ob es wirklich ein so großes Glück war. Denn durch die Glanzstoff und ihre Geruchsproblematik war St. Pölten der Watschenbaum der Zweiten Republik, und zwar bis zu ihrer Schließung. In einem Interview, das ich einmal mit dem damaligen Landeshauptmann Siegfried Ludwig führte, sprach er von der Idee, die Glanzstoff niederzureißen und an anderer Stelle außerhalb der Stadt wieder aufzubauen – die Problematik war also bekannt. Für die Sozialdemokratie war ein Sperren des Werkes aber absolut undenkbar. So wurde die wirtschaftlich marode Glanzstoff 1978 unter Kreisky und 1995 unter Vranitzky gerettet – möglicherweise ein Bärendienst, auch wenn die Fabrik damals noch 1000 und nicht, wie zuletzt, nur mehr 300 Mitarbeiter hatte. Über Alternativen wurde nicht einmal nachgedacht, das war ein Tabuthema. Hätte man das offen ausgesprochen in der SPÖ, wäre man sofort weggewesen. Da schwang immer die Überlegung mit, dass Arbeitslose sozusagen eine „Ansteckungsgefahr“ in sich tragen und das Wählerstimmen kostet.
War dies der einzige Grund, warum St. Pölten als Inbegriff der Provinz betrachtet wurde?
Nein, dafür gibt es sicher verschiedene Erklärungen. Die Außenwahrnehmung hing sicher mit gewissen Reaktionen der Stadt selbst zusammen. Als etwa Hanne Rohrer im Club 2 den Spruch prägte „Den Mutigen bangt selten, warum graut dir vor St. Pölten“, fühlten sich die St. Pöltner bis ins Mark beleidigt. Es gab riesengroße Aufregung, man forderte die Absetzung Rohrers, der ORF-Abteilungsleiter musste sich öffentlich entschuldigen usw. Diese Überreaktion wurde mit einiger Verwunderung aufgenommen, der Grundtenor war: „Na, die halten nix aus, die Provinzler“.
Zudem, auch das mag mit eine Rolle gespielt haben, waren vielfach jene, die die Stadt nach außen hin vertraten, provinziell. Bürgermeister Rudolf Singer etwa hat das Provinzlertum in dem Sinne salonfähig gemacht, dass er auf allen Ebenen – egal ob im Bund, im Land, in der Partei – immer alles für St. Pölten und seine Person reklamierte. Dadurch wurde St. Pölten bald zur Buhstadt.
Aber daran allein kann es ja auch nicht gelegen sein, zumal sich ja auch ein gewisser Minderwertigkeitskomplex herausprägte?
Tatsächlich sind in der Monarchie und in der 1. Republik diese Komplexe noch nicht wahrnehmbar. Eine Rolle mögen die schweren Bombardements gespielt haben, da hat es St. Pölten schlimm erwischt, und keinesfalls darf man das Jahrzehnt der russischen Besatzung in Niederösterreich unterschätzen. Das war eine Zeit der Unterdrückung und Angst, hat alle Kräfte gezügelt. Hugo Portisch hat mir einmal erzählt, dass sein Vater – während der Besatzung Chefredakteur der St. Pöltner Zeitung – einmal pro Woche zur sowjetischen Kommandantur zwecks Freigabe der Zeitung gehen musste. Mit dabei hatte er immer eine Tasche mit 2kg Zucker, Wollsocken und Wollhandschuhen, weil er immer befürchtete, sofort nach Sibierien deportiert zu werden. Derlei passierte damals, jeder hat gewusst, was die Russen machen, viele Frauen wurden missbraucht. Außerdem – im Übrigen eine Singularität gegenüber anderen Städten – während die Russen demokratische Wahlen zumeist anerkannten, wurde in St. Pölten der von den Sowjets eingesetzte Bürgermeister Franz Käfer, ein integrer Mann, trotz Wahlniederlage weiter als Bürgermeister gehalten. Das vermittelte ein Gefühl von völliger Ohnmacht.
Danach nahm St. Pölten aber – wenn auch vielleicht noch nicht so im Vordergrund – eine durchaus gedeihliche Entwicklung.
In der 2. Republik hatten wir das Glück, dass sozusagen das Füllhorn über St. Pölten ausgeschüttet wurde. Rudolf Singer profitierte vom Verkauf von E-Werk-Aktien ans Land Niederösterreich. Willi Gruber erzielte Erlöse aus Grundstücken fürs Regierungsviertel, und Matthias Stadler konnte zuletzt Geld aus dem Verkauf des Fernheizkraftwerkes lukrieren! Dadurch war immer wichtiger Spielraum für Investitionen gegeben.
DIE historische Sternstunde aus Sicht der Stadt war aber ohne Zweifel die Hauptstadterhebung.
St. Pölten stellte ja schon zuvor ein wichtiges Zentrum in Niederösterreich dar. Entscheidend war letztlich, dass Siegfried Ludwig 1984 das Hauptstadtthema, das über die Jahrzehnte immer wieder thematisiert worden war, auf eigene Faust wieder ins Spiel brachte. Viele vermuteten, um damit vom WBO Skandal abzulenken. Wie auch immer: Ludwig blieb am Ball, seine Partei sprang schließlich auf den Zug auf und zuletzt stimmte auch die SPÖ zu. Die große historische Leistung lag letztlich auch darin, dass ÖVP und SPÖ – im Gegensatz zu früher – über ihren Schatten sprangen und zu einem Kompromiss fanden! Zudem war weichenstellend, dass ein roter Bürgermeister, Willi Gruber, aus der Parteilinie ausscherte. Auch das hatte es zuvor in der Form nicht gegeben!
Wenn Sie heute das Regierungsviertel als Symbol der Hauptstadt betrachten, wie beurteilen Sie dies?
Hut ab vorm Management der NÖPLAN! Diese hat allein durch die beeindruckende Gegenwartsarchitektur dazu beigetragen, das provinzlerische Image der Stadt zu sprengen, wenngleich auch hier manches als provinziell wahrgenommen wurde, etwa dass man sich beim Klangturm vor der Kirche geduckt hat [Die Kirche forderte, dass der Klangturm nicht höher als der Domturm werden dürfe, daher fiel er fast 10m niedriger aus als geplant – Anm. d. Redaktion]
Schade ist außerdem, dass man nicht verhindern konnte, dass das Regierungsviertel meist eine „tote“ Insel ist. Zum einen erweist sich die Nichtanbindung an die Altstadt als kontraproduktiv, v. a. dass die B1a durch den Tunnel führt, das Viertel also umfahren und nicht – wie damals ebenfalls in Diskussion – durchfahren wird. Außerdem wurde der ursprüngliche Ansatz, das Büroviertel mit Wohnungen zu durchsetzen, nicht realisiert. Da ist man den eigenen Prinzipien untreu geworden. Auch der Umstand, dass man den Wiesel-Bus installierte, um die Beamten her- und nach der Arbeit sofort wieder wegzukarren, hatte negative Auswirkungen. Andererseits ist dieser Service auch Beleg der Vermenschlichung der Politik.
Was von der Stadt über die Jahre immer wieder beklagt wurde, war die nur „partielle“ Ausstattung.
Wir haben seitens der Stadt, den Expertenmeinungen folgend, immer eine vollständige Ausstattung gefordert, z.B. bei den Bildungseinrichtungen, allein um junges, kritisches Potential in die Stadt zu bekommen.
Die Realität sieht aber anders aus, jüngstes Beispiel ist die Medizin-Uni. Diesbezüglich gibt das Land Krems den Vorzug.
Das ist die Fortsetzung des Regionalisierungsgesetzes, in dem 1986 festgesetzt wurde, dass jährlich 500 Millionen Schilling in die Regionen fließen müssen. Zudem hing man dem Ansatz der Viertelhauptstädte an! Krems als Bildungsstadt, Baden als Tourismusmetropole, Tulln als Agrarstadt, Wiener Neustadt als Industriestadt und St. Pölten eben als Verwaltungseinheit. Im Hinblick auf die Zukunft der Region ist das problematisch, zumal die Hauptstadt, so gut sie heute funktioniert, zu einer Unzeit gekommen ist.
Inwiefern?
Damals hat sich schon der EU-Beitritt Österreichs abgezeichnet, damit aber auch das Bekenntnis, gewisse Souveränitätsrechte auf eine höhere, gemeinsame Ebene zu verlagern. Dieser Prozess muss mutig weitergedacht sowie die dementsprechenden Folgeschritte gesetzt werden.
Welche wären das?
Eine große Staatsreform und die Einsicht, dass die Bundesländer ihre historische Funktion erfüllt haben. Ich habe nichts dagegen, wenn man im Tourismus der Franz Joseph und Sissi Nostalgie frönt und sie zwecks Vermarktung auf Hochglanz poliert, aber im 21. Jahrhundert weiter an den Strukturen der alten Kronländer festzuhalten, ist fatal und nicht mehr leistbar. Wir sollten uns eher an Bayern orientieren: Bayern hat 10 Millionen Einwohner und 1 Parlament, Österreich hingegen 9 Millionen Einwohner und 9 Regionalparlamente. Die Staatsreform ist die wichtigste anstehende Aufgabe überhaupt!
Das heißt Sie plädieren für die Auflösung der Länder?
Es ist nicht mehr haltbar, für Parallelstrukturen, für den Erhalt bestehender Gebäude, Funktionen und Jobs Milliarden zu verpulvern. Die Bevölkerung versteht nicht, warum die Staatsreform nicht vorangeht. Beim Staatskonvent vor einigen Jahren haben eineinhalb Jahre die klügsten Köpfe nachgedacht – alle diese Konzepte sind in der Schublade verschwunden. Der Rechnungshof kritisiert Jahr für Jahr die Parallelstrukturen, da stellt sich einfach die Frage: Warum gibt es die Landtage noch?
Vielfach wird argumentiert, weil Länder durch ihre Nähe zum Bürger eine wichtige identitätsstiftende Funktion haben.
Dieser „Patriotismus“ ist provinzlerisch, und er ist falsch. Nicht die Länder, sondern die Bezirke und Kommunen sind am nächsten beim Bürger. Und schauen Sie einmal ins Regierungsviertel: Dort arbeiten 2.500 Beamte, aber Bürger sehe ich dort keine.
Ich war selbst Mitglied im Landtag, ganz ehrlich: Das ist eine Enklave. Es nimmt niemand wirklich Anteil, die Regierungsmitglieder waren selten bei den Sitzungen, und die Themen sind nicht weltbewegend.Ich habe mich als Landtagsabgeordneter überflüssig gefühlt. Da darf man sich nichts einbilden. Im Grunde genommen macht man nichts anderes als Redeübungen, und es werden Budgets hin- und hergeschoben. Das ist zur Legitimation einfach zu wenig!
Das heißt, Sie wollen sich auch vom föderalistischen Prinzip verabschieden?
Nein, denn die föderale Struktur bleibt ja erhalten – das Bundesparlament setzt sich seit je aus Mandataren der Regionen zusammen! Aber der Bund hätte echte Kompetenzen und Budgethoheit und bräuchte sich nicht mehr streiten mit Leuten, die sich ihrer selbst so zukunftssicher sind. Man ersparte sich auch die Landeshauptleutekonferenz. Es bedürfte eines bundesweiten Kompromisses, eines Verzichts auf alte Pfründe – es bedürfte daher auch einer Erneuerung im parteipolitischen Bereich.
Aber scheitert es bis dato nicht gerade daran?
Tatsächlich können die politischen Repräsentanten leider bislang nicht aus ihrer Zwangsjacke heraus. Ich kann mich erinnern, dass ich im Landtag – in der eigenen Fraktion – im Hinblick auf diese Frage sofort mundtot gemacht wurde. Der Bestand des Landtages und der Bundesländer sei nicht zu hinterfragen, hieß es. Das sei parteiübergreifender Konsens.
Aktuell schwelgt man ja in Kreisky-Nostalgie. Man mag zu Kreisky stehen wie man möchte, aber einen Satz möge sich die Politik beherzigen, und zwar sein Bekenntnis „zur ständigen gesellschaftlichen und demokratischen Reformierung.“ Kreiskys Reformen waren ein Nachvollzug von Dingen, die überfällig waren. Auch die Staatsreform ist überfällig, um die Zukunft unseres Staates zu sichern. Sie ist gegenwärtig das ernsteste Problem Österreichs! Und um mich nicht falsch zu verstehen: Mir geht es sicher nicht um Provokation oder Profilierung oder darum, jemandem etwas wegzunehmen! Da aber auf Parteienebene kaum ein Konsens gefunden werden kann, rege ich dafür eine Volksabstimmung an, die dann verbindlich ist!
Und was passiert dann mit den Landeshauptstädten, um auf St. Pölten zurückzukommen?
Stadtregionen, Ballungszentren gibt es ja weiterhin. Die traditionellen Hauptstädte werden Zentren sein, wo der Bund seine dezentralen Einrichtungen hat. Ich könnte mir auch vorstellen, dass das Parlament rotiert – warum soll es nicht jährlich in einer anderen Stadt tagen, das eine Mal in Wien, das nächste in Bregenz, das dritte in St. Pölten usw. Gerade aus diesem Blickwinkel ist es wichtig für die gesamte Region, dass St. Pölten eben nicht nur Verwaltungszentrum ist, sondern voll ausgestattete Stadt.+
Infos zur Person:
Siegfried Nasko war von 1971 bis 2004 Leiter der Abteilung Öffentlichkeitsarbeit sowie langjähriger Archivdirektor im Magistrat St. Pölten, 1984 bis 2003 Gemeinderat, ab 1991 Stadtrat für Kultur. 2003 bis 2005 Mitglied des NÖ Landtages. Der Historiker gestaltete zahlreiche Ausstellungen und richtete einige Museen ein. Verfasser mehrerer Publikationen zur Geschichte St. Pöltens, der Arbeiterbewegung sowie über Karl Renner. Mehrere wissenschaftliche Preise.
Einer ist ohne Zweifel die durchgehende Aufwärtsentwicklung. Zuvor hat St. Pölten vom Mittelalter herauf bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts bei etwa 3.500 Einwohnern stagniert. Mit dem Anschluss an die Westbahn wurde das Tor zur Welt aufgestoßen. 1900 lebten bereits 14.500 Leute in der Stadt, bis heute hat sich diese Zahl weiter vervierfacht, die Zahl der Häuser hat sich verfünfzehnfacht, die Fläche verzehnfacht! All dies ist Beleg für die zunehmende Bedeutung der Stadt!
Ein zweiter roter Faden – der typisch für alle Städte war – ist die Tatsache, dass das 20. Jahrhundert das Jahrhundert der Sozialdemokratie war.
Prinzipiell könnte man St. Pölten historisch betrachtet wohl als geradezu exemplarische österreichische Stadt bezeichnen.
Das stimmt. In der allgemeinen Aufwärtsentwicklung des Jahrhunderts gab es Rückschläge durch den Ersten Weltkrieg, durch Wirtschaftskrise, Bürgerkrieg, Ständestaat, Zweiten Weltkrieg, NS-Besatzung, russische Besatzung. 1914 gab es Hurra-Rufe, Kriegsbegeisterung und Einschwören auf den Kaiser, 1938 jubelte man Hitler zu und ernannte ihn zum Ehrenbürger. Viele Dinge, wie etwa jüdische Arbeitslager bei der Glanzstoff und in Viehofen, sind erst in den letzten Jahren bekannt und aufgearbeitet worden. Andererseits gab es aber auch einzelne, die ihr Leben für andere riskierten. Die die Hasenjagd nicht mitmachten und Juden bei sich zuhause versteckten, etwa die Familie Jindrak das Mädchen Vera Heilpern.
Und es gab auch Widerstand, der quer durch alle Schichten ging und Opfer forderte. Keine Frage, die Mehrheit war „anders“. Aber St. Pölten soll auf jene stolz sein, die sich – unter Einsatz ihres Lebens – dagegen gestellt haben. Das verdient hervorgehoben zu werden!
Kommt das nicht einer Vereinnahmung gleich, auch um von den Schattenseiten abzulenken?
Jedes Regime pickt sich in seiner Geschichte die Rosinen raus, die im aktuellen Kontext als vorbildlich gelten. Das war während des Ständestaates der Fall, während der Nazis und auch während der russischen Besatzung. Aber heute leben wir in einer friedlichen Zeit, stehen nicht mehr unter dem Druck eines Regimes. Heute beurteilen wir die Historie relativ objektiv nach bleibenden Werten wie Freiheit, Demokratie, Menschlichkeit. Daher ist es wichtig, gerade diese Persönlichkeiten und ihr Wirken als vorbildlich zu würdigen!
Widerstand gab es auch im Zuge der Februar-Unruhen 1934. Diesbezüglich reklamiert St. Pölten ja eine gewisse Sonderstellung für sich in Niederösterreich.
Die größte Singularität im Vergleich zu anderen Städten besteht eigentlich darin, dass es hier eine Art österreichische Jean d’Arc gab, also eine Frau, die den Männern gezeigt hat, wo es langgeht und die das Kommando übernommen hat: Maria Emhart. 1936 war sie während der Sozialistenprozesse gemeinsam mit Bruno Kreisky eingesperrt und rechnete mit ihrer Hinrichtung.
Einzigartig im Niederösterreich-Konnex war außerdem die Hinrichtung der Widerstandskämpfer Hoys und Rauchenberger in St. Pölten. Kanzler Engelbert Dollfuss hatte ja Order gegeben, dass pro Bundesland zwei Widerstandskämpfer hingerichtet werden müssen. Diese wurden in St. Pölten vollzogen.
Zuvor gab es kaum historische Wahrnehmung über St. Pölten.
Während der Monarchie und während der 1. Republik spielte St. Pölten tatsächlich keine Rolle. Es gab kaum überregional auffällige Politiker, mit Ausnahme von Wilhelm Voelkl, der sich im Reichsrat duellierte, Julius Raab, der im Ständestaat Minister wurde, und Hugo Jury, St. Pöltner Lungenfacharzt, der unter den Nazis zum Gauleiter avancierte.
Mag es auch daran liegen – wenn man jetzt an Jury denkt – dass man bewusst derlei Persönlichkeiten verdrängte, damit sozusagen keine negative Aura auf die Stadt abfärbt?
Nein. Ich glaube, so wie man die Helden nicht für St. Pölten reklamieren darf, kann man die anderen ebenso wenig als exemplarische Oberteufel hinstellen. Man muss auch die Wandlung der Menschen berücksichtigen. Julius Raab etwa wurde in der Zweiten Republik demokratischer Bundeskanzler. Und von Leopold Figl gibt es Zeugnisse über Jury, dass dieser auch vielen geholfen hat – andererseits war er am Ende des Regimes der größte Durchhaltepeitscher und schickte die Jugendlichen in einen verlorenen Krieg. Er nahm sich in Zwettl das Leben!
Letztlich ist das ganze Leben eine Bewährungsprobe. Es geht um Qualität, um Läuterung, um Weiterentwicklung. Was die Menschen im 20. Jahrhundert erlebt haben, war extrem intensiv – es gab kein Zeitalter, in dem man soviele Höhen und Tiefen erlebte.
Und nach dem Krieg?
Der grundlegendste Unterschied zur 1. Republik war, dass es in der 2. Republik drei überregionale Persönlichkeiten mit St. Pölten-Hintergrund gab. Das waren Kardinal Franz König, Bundeskanzler Julius Raab und Bruno Kreisky, der ja auf einem St. Pöltner Mandat im Nationalrat saß. Zudem darf man auch Viktor Müllner nicht vergessen, der Landeshautpmann-Stellvertreter wurde und vordem der Widerstandsgruppe 05 angehört hatte – er ließ als St. Pöltner Magistratsbeamter 1938 ein Munitionsdepot anlegen, weil er im Falle des Einmarsches für Österreich kämpfen wollte.
Furore machten diese Persönlichkeiten aber überregional?
Es gab historisch betrachtet schon zwei wichtige Weichenstellungen, die von St. Pölten ihren Ausgang nahmen. Zum einen traute Franz König, damals noch Kurat im Dom, in der Anstaltskapelle des Krankenhauses ein evangelisches Paar! Das hatte es zuvor noch nicht gegeben.
Zum anderen fand 1967 unter Bruno Kreisky und Erika Weinzierl in St. Pölten eine Aussöhnungskonferenz mit der Katholischen Kirche statt, auf der Kreisky offen bekannte, dass die Sozialdemokratie sozusagen nicht den ganzen Menschen für sich beansprucht, sondern jeder auch persönliche Nischen hat, wie eben die Religion. Das ging in die Geschichte als St. Pöltner Konferenz ein!
Trotzdem fiel St. Pölten auch nach dem Krieg nicht sonderlich auf, am ehesten noch mit der Glanzstoff-Fabrik.
Was wenige wissen ist, dass die Nazis 1945 beim Rückzug aus der Stadt die Glanzstoff in die Luft jagen wollten. Ein Sprengkommando hatte bereits die Ladungen angebracht, ein engagierter Mitarbeiter entschärfte sie rechtzeitig, was als großes Glück gefeiert wurde. Aus Sicht der Zeit kann man natürlich fragen, ob es wirklich ein so großes Glück war. Denn durch die Glanzstoff und ihre Geruchsproblematik war St. Pölten der Watschenbaum der Zweiten Republik, und zwar bis zu ihrer Schließung. In einem Interview, das ich einmal mit dem damaligen Landeshauptmann Siegfried Ludwig führte, sprach er von der Idee, die Glanzstoff niederzureißen und an anderer Stelle außerhalb der Stadt wieder aufzubauen – die Problematik war also bekannt. Für die Sozialdemokratie war ein Sperren des Werkes aber absolut undenkbar. So wurde die wirtschaftlich marode Glanzstoff 1978 unter Kreisky und 1995 unter Vranitzky gerettet – möglicherweise ein Bärendienst, auch wenn die Fabrik damals noch 1000 und nicht, wie zuletzt, nur mehr 300 Mitarbeiter hatte. Über Alternativen wurde nicht einmal nachgedacht, das war ein Tabuthema. Hätte man das offen ausgesprochen in der SPÖ, wäre man sofort weggewesen. Da schwang immer die Überlegung mit, dass Arbeitslose sozusagen eine „Ansteckungsgefahr“ in sich tragen und das Wählerstimmen kostet.
War dies der einzige Grund, warum St. Pölten als Inbegriff der Provinz betrachtet wurde?
Nein, dafür gibt es sicher verschiedene Erklärungen. Die Außenwahrnehmung hing sicher mit gewissen Reaktionen der Stadt selbst zusammen. Als etwa Hanne Rohrer im Club 2 den Spruch prägte „Den Mutigen bangt selten, warum graut dir vor St. Pölten“, fühlten sich die St. Pöltner bis ins Mark beleidigt. Es gab riesengroße Aufregung, man forderte die Absetzung Rohrers, der ORF-Abteilungsleiter musste sich öffentlich entschuldigen usw. Diese Überreaktion wurde mit einiger Verwunderung aufgenommen, der Grundtenor war: „Na, die halten nix aus, die Provinzler“.
Zudem, auch das mag mit eine Rolle gespielt haben, waren vielfach jene, die die Stadt nach außen hin vertraten, provinziell. Bürgermeister Rudolf Singer etwa hat das Provinzlertum in dem Sinne salonfähig gemacht, dass er auf allen Ebenen – egal ob im Bund, im Land, in der Partei – immer alles für St. Pölten und seine Person reklamierte. Dadurch wurde St. Pölten bald zur Buhstadt.
Aber daran allein kann es ja auch nicht gelegen sein, zumal sich ja auch ein gewisser Minderwertigkeitskomplex herausprägte?
Tatsächlich sind in der Monarchie und in der 1. Republik diese Komplexe noch nicht wahrnehmbar. Eine Rolle mögen die schweren Bombardements gespielt haben, da hat es St. Pölten schlimm erwischt, und keinesfalls darf man das Jahrzehnt der russischen Besatzung in Niederösterreich unterschätzen. Das war eine Zeit der Unterdrückung und Angst, hat alle Kräfte gezügelt. Hugo Portisch hat mir einmal erzählt, dass sein Vater – während der Besatzung Chefredakteur der St. Pöltner Zeitung – einmal pro Woche zur sowjetischen Kommandantur zwecks Freigabe der Zeitung gehen musste. Mit dabei hatte er immer eine Tasche mit 2kg Zucker, Wollsocken und Wollhandschuhen, weil er immer befürchtete, sofort nach Sibierien deportiert zu werden. Derlei passierte damals, jeder hat gewusst, was die Russen machen, viele Frauen wurden missbraucht. Außerdem – im Übrigen eine Singularität gegenüber anderen Städten – während die Russen demokratische Wahlen zumeist anerkannten, wurde in St. Pölten der von den Sowjets eingesetzte Bürgermeister Franz Käfer, ein integrer Mann, trotz Wahlniederlage weiter als Bürgermeister gehalten. Das vermittelte ein Gefühl von völliger Ohnmacht.
Danach nahm St. Pölten aber – wenn auch vielleicht noch nicht so im Vordergrund – eine durchaus gedeihliche Entwicklung.
In der 2. Republik hatten wir das Glück, dass sozusagen das Füllhorn über St. Pölten ausgeschüttet wurde. Rudolf Singer profitierte vom Verkauf von E-Werk-Aktien ans Land Niederösterreich. Willi Gruber erzielte Erlöse aus Grundstücken fürs Regierungsviertel, und Matthias Stadler konnte zuletzt Geld aus dem Verkauf des Fernheizkraftwerkes lukrieren! Dadurch war immer wichtiger Spielraum für Investitionen gegeben.
DIE historische Sternstunde aus Sicht der Stadt war aber ohne Zweifel die Hauptstadterhebung.
St. Pölten stellte ja schon zuvor ein wichtiges Zentrum in Niederösterreich dar. Entscheidend war letztlich, dass Siegfried Ludwig 1984 das Hauptstadtthema, das über die Jahrzehnte immer wieder thematisiert worden war, auf eigene Faust wieder ins Spiel brachte. Viele vermuteten, um damit vom WBO Skandal abzulenken. Wie auch immer: Ludwig blieb am Ball, seine Partei sprang schließlich auf den Zug auf und zuletzt stimmte auch die SPÖ zu. Die große historische Leistung lag letztlich auch darin, dass ÖVP und SPÖ – im Gegensatz zu früher – über ihren Schatten sprangen und zu einem Kompromiss fanden! Zudem war weichenstellend, dass ein roter Bürgermeister, Willi Gruber, aus der Parteilinie ausscherte. Auch das hatte es zuvor in der Form nicht gegeben!
Wenn Sie heute das Regierungsviertel als Symbol der Hauptstadt betrachten, wie beurteilen Sie dies?
Hut ab vorm Management der NÖPLAN! Diese hat allein durch die beeindruckende Gegenwartsarchitektur dazu beigetragen, das provinzlerische Image der Stadt zu sprengen, wenngleich auch hier manches als provinziell wahrgenommen wurde, etwa dass man sich beim Klangturm vor der Kirche geduckt hat [Die Kirche forderte, dass der Klangturm nicht höher als der Domturm werden dürfe, daher fiel er fast 10m niedriger aus als geplant – Anm. d. Redaktion]
Schade ist außerdem, dass man nicht verhindern konnte, dass das Regierungsviertel meist eine „tote“ Insel ist. Zum einen erweist sich die Nichtanbindung an die Altstadt als kontraproduktiv, v. a. dass die B1a durch den Tunnel führt, das Viertel also umfahren und nicht – wie damals ebenfalls in Diskussion – durchfahren wird. Außerdem wurde der ursprüngliche Ansatz, das Büroviertel mit Wohnungen zu durchsetzen, nicht realisiert. Da ist man den eigenen Prinzipien untreu geworden. Auch der Umstand, dass man den Wiesel-Bus installierte, um die Beamten her- und nach der Arbeit sofort wieder wegzukarren, hatte negative Auswirkungen. Andererseits ist dieser Service auch Beleg der Vermenschlichung der Politik.
Was von der Stadt über die Jahre immer wieder beklagt wurde, war die nur „partielle“ Ausstattung.
Wir haben seitens der Stadt, den Expertenmeinungen folgend, immer eine vollständige Ausstattung gefordert, z.B. bei den Bildungseinrichtungen, allein um junges, kritisches Potential in die Stadt zu bekommen.
Die Realität sieht aber anders aus, jüngstes Beispiel ist die Medizin-Uni. Diesbezüglich gibt das Land Krems den Vorzug.
Das ist die Fortsetzung des Regionalisierungsgesetzes, in dem 1986 festgesetzt wurde, dass jährlich 500 Millionen Schilling in die Regionen fließen müssen. Zudem hing man dem Ansatz der Viertelhauptstädte an! Krems als Bildungsstadt, Baden als Tourismusmetropole, Tulln als Agrarstadt, Wiener Neustadt als Industriestadt und St. Pölten eben als Verwaltungseinheit. Im Hinblick auf die Zukunft der Region ist das problematisch, zumal die Hauptstadt, so gut sie heute funktioniert, zu einer Unzeit gekommen ist.
Inwiefern?
Damals hat sich schon der EU-Beitritt Österreichs abgezeichnet, damit aber auch das Bekenntnis, gewisse Souveränitätsrechte auf eine höhere, gemeinsame Ebene zu verlagern. Dieser Prozess muss mutig weitergedacht sowie die dementsprechenden Folgeschritte gesetzt werden.
Welche wären das?
Eine große Staatsreform und die Einsicht, dass die Bundesländer ihre historische Funktion erfüllt haben. Ich habe nichts dagegen, wenn man im Tourismus der Franz Joseph und Sissi Nostalgie frönt und sie zwecks Vermarktung auf Hochglanz poliert, aber im 21. Jahrhundert weiter an den Strukturen der alten Kronländer festzuhalten, ist fatal und nicht mehr leistbar. Wir sollten uns eher an Bayern orientieren: Bayern hat 10 Millionen Einwohner und 1 Parlament, Österreich hingegen 9 Millionen Einwohner und 9 Regionalparlamente. Die Staatsreform ist die wichtigste anstehende Aufgabe überhaupt!
Das heißt Sie plädieren für die Auflösung der Länder?
Es ist nicht mehr haltbar, für Parallelstrukturen, für den Erhalt bestehender Gebäude, Funktionen und Jobs Milliarden zu verpulvern. Die Bevölkerung versteht nicht, warum die Staatsreform nicht vorangeht. Beim Staatskonvent vor einigen Jahren haben eineinhalb Jahre die klügsten Köpfe nachgedacht – alle diese Konzepte sind in der Schublade verschwunden. Der Rechnungshof kritisiert Jahr für Jahr die Parallelstrukturen, da stellt sich einfach die Frage: Warum gibt es die Landtage noch?
Vielfach wird argumentiert, weil Länder durch ihre Nähe zum Bürger eine wichtige identitätsstiftende Funktion haben.
Dieser „Patriotismus“ ist provinzlerisch, und er ist falsch. Nicht die Länder, sondern die Bezirke und Kommunen sind am nächsten beim Bürger. Und schauen Sie einmal ins Regierungsviertel: Dort arbeiten 2.500 Beamte, aber Bürger sehe ich dort keine.
Ich war selbst Mitglied im Landtag, ganz ehrlich: Das ist eine Enklave. Es nimmt niemand wirklich Anteil, die Regierungsmitglieder waren selten bei den Sitzungen, und die Themen sind nicht weltbewegend.Ich habe mich als Landtagsabgeordneter überflüssig gefühlt. Da darf man sich nichts einbilden. Im Grunde genommen macht man nichts anderes als Redeübungen, und es werden Budgets hin- und hergeschoben. Das ist zur Legitimation einfach zu wenig!
Das heißt, Sie wollen sich auch vom föderalistischen Prinzip verabschieden?
Nein, denn die föderale Struktur bleibt ja erhalten – das Bundesparlament setzt sich seit je aus Mandataren der Regionen zusammen! Aber der Bund hätte echte Kompetenzen und Budgethoheit und bräuchte sich nicht mehr streiten mit Leuten, die sich ihrer selbst so zukunftssicher sind. Man ersparte sich auch die Landeshauptleutekonferenz. Es bedürfte eines bundesweiten Kompromisses, eines Verzichts auf alte Pfründe – es bedürfte daher auch einer Erneuerung im parteipolitischen Bereich.
Aber scheitert es bis dato nicht gerade daran?
Tatsächlich können die politischen Repräsentanten leider bislang nicht aus ihrer Zwangsjacke heraus. Ich kann mich erinnern, dass ich im Landtag – in der eigenen Fraktion – im Hinblick auf diese Frage sofort mundtot gemacht wurde. Der Bestand des Landtages und der Bundesländer sei nicht zu hinterfragen, hieß es. Das sei parteiübergreifender Konsens.
Aktuell schwelgt man ja in Kreisky-Nostalgie. Man mag zu Kreisky stehen wie man möchte, aber einen Satz möge sich die Politik beherzigen, und zwar sein Bekenntnis „zur ständigen gesellschaftlichen und demokratischen Reformierung.“ Kreiskys Reformen waren ein Nachvollzug von Dingen, die überfällig waren. Auch die Staatsreform ist überfällig, um die Zukunft unseres Staates zu sichern. Sie ist gegenwärtig das ernsteste Problem Österreichs! Und um mich nicht falsch zu verstehen: Mir geht es sicher nicht um Provokation oder Profilierung oder darum, jemandem etwas wegzunehmen! Da aber auf Parteienebene kaum ein Konsens gefunden werden kann, rege ich dafür eine Volksabstimmung an, die dann verbindlich ist!
Und was passiert dann mit den Landeshauptstädten, um auf St. Pölten zurückzukommen?
Stadtregionen, Ballungszentren gibt es ja weiterhin. Die traditionellen Hauptstädte werden Zentren sein, wo der Bund seine dezentralen Einrichtungen hat. Ich könnte mir auch vorstellen, dass das Parlament rotiert – warum soll es nicht jährlich in einer anderen Stadt tagen, das eine Mal in Wien, das nächste in Bregenz, das dritte in St. Pölten usw. Gerade aus diesem Blickwinkel ist es wichtig für die gesamte Region, dass St. Pölten eben nicht nur Verwaltungszentrum ist, sondern voll ausgestattete Stadt.+
Infos zur Person:
Siegfried Nasko war von 1971 bis 2004 Leiter der Abteilung Öffentlichkeitsarbeit sowie langjähriger Archivdirektor im Magistrat St. Pölten, 1984 bis 2003 Gemeinderat, ab 1991 Stadtrat für Kultur. 2003 bis 2005 Mitglied des NÖ Landtages. Der Historiker gestaltete zahlreiche Ausstellungen und richtete einige Museen ein. Verfasser mehrerer Publikationen zur Geschichte St. Pöltens, der Arbeiterbewegung sowie über Karl Renner. Mehrere wissenschaftliche Preise.