MFG - Mangelwirtschaft
Mangelwirtschaft


MFG - Das Magazin
St. Pöltens gute Seite

Mangelwirtschaft

Text Michael Müllner
Ausgabe 09/2022

Der Kunde ist König, der Mitarbeiter ist Kaiser? Quer durch die Branchen beklagen Unternehmen einen zunehmenden Mangel an Arbeitskräften. Will keiner mehr arbeiten? Eine Spurensuche im Bezirk St. Pölten über die vielfältigen Gründe eines echten Problems.

St. Pöltens Bäcker-Urgestein Wolfgang Hager betreibt vierzehn Backstuben, teilweise mit Gastronomie. Personalmangel zwingt ihn die Filialen in der St. Pöltner Josefstraße sowie am Wilhelmsburger Hauptplatz vorübergehend geschlossen zu halten. Manche Öffnungszeiten sind eingeschränkt, teilweise wird auf Selbstbedienung umgestellt. In der Kronen Zeitung berichtete Hager, dass der Mangel an qualifiziertem Personal der ganzen Zunft schwer zu schaffen macht – von Servicekräften bis hin zum Bäcker und Konditor. Was Hager erlebt, hört man im ganzen Land. Unternehmen liefern produzierte Ware nicht aus, firmeneigene LKWs stehen still, weil es an Fahrern mangelt. Handwerker finden kein Personal um ihre Aufträge abzuarbeiten. Selbst an sich gut zahlende Branchen in der Produktion finden für ihre Fertigungslinien zu wenig Arbeitskräfte. An kaum einer Auslage hängt nicht ein Zettel: „Personal gesucht!“ 

Zu Gast beim AMS
Gefühlt gehen wir von einer Krise in die nächste. Finanzkrise, Schuldenkrise, Eurokrise, Coronakrise, Energiekrise. Dazu ein Krieg in Europa, der den Energiemarkt verrückt spielen lässt und die gemeinsamen Werte auf die Probe stellt. Und nun soll es noch an allen Ecken und Enden an Arbeitskräften mangeln? Ja, wo sind die denn alle hin, die Arbeitskräfte? 
Thomas Pop leitet die AMS-Geschäftsstelle für den Bezirk St. Pölten, also Stadt und Land. Er kann die aktuellen Zahlen mit jahrelanger Erfahrung einordnen. Im Juli 2022 waren 4.502 Personen beim AMS St. Pölten als arbeitslos vorgemerkt. Das waren 1.064 weniger als im Juli 2021, also ein Rückgang um 19,1 Prozent. In Schulungen des AMS waren 911 Personen. Vergleicht man die rund 4.500 Arbeitslosen des Juli 2022 mit dem April 2020, also dem letzten Monat vor dem Durchschlagen der Corona-Pandemie auf den Arbeitsmarkt, dann waren damals rund 10.000 Personen arbeitslos. 
Corona, heißt es oft, habe den Arbeitsmarkt massiv durcheinandergerüttelt. Doch wo sind all die Arbeitskräfte hingekommen? Zu Spitzenzeiten der Pandemie waren österreichweit rund 500.000 Menschen arbeitslos und eine Million in Kurzarbeit. Alle Experten sind sich einig, dass die Kurzarbeit Jobs gerettet hat, denn die betroffenen Arbeitnehmer haben zwischen 80 und 90 Prozent ihres Nettolohns als Kurzarbeitsentgelt erhalten. Wer hingegen seinen Job verloren hatte, der musste mit 55 Prozent des Nettolohns auskommen. Im ersten Lockdown, der zwei Monate dauerte, war das noch nicht so dramatisch, aber beim nächsten Lockdown, der in der Gastronomie und Hotellerie ja sechs Monate gedauert hat, war für viele Menschen das Geld einfach zu wenig. „Gerade Servicekräfte sind auf das Trinkgeld angewiesen. Das war weg und es blieben nur 55 Prozent vom früheren Nettolohn. Von diesen Kräften ließen sich viele umschulen oder haben dauerhaft die Branche gewechselt“, so Pop. 
Dann passierte etwas, mit dem niemand so recht gerechnet hatte. Entgegen aller Expertenmeinungen sprang die Wirtschaft sehr schnell an. Schon im März 2021 merkte man beim AMS die ersten Anzeichen des Aufschwungs, die Zahl der Arbeitslosen ging von 8.276 im Februar 2021 auf 6.974 im März 2021 deutlich zurück. Im Mai 2021 zählte man bereits weniger arbeitslos Vorgemerkte, als noch im Mai 2019 – also vor der Corona-Pandemie. Die Wirtschaft lief scheinbar auf Hochtouren (weiter), die Betriebe suchten händeringend nach Arbeitskräften – ein Aufschwung, der bis heute anhält, wie Pop betont: „Wir haben quer durch alle Branchen das gleiche Thema. Auch in jenen, die traditionell höhere Löhne zahlen.“
Massiv relevant, aber häufig unterschätzt: der demografische Wandel. Jüngere Leute steigen heute später in das Berufsleben ein. Ausbildungen dauern länger, viele hängen nach der Schule ein Studium an. Grundsätzlich stehen die geburtenstarken Jahrgänge der Babyboomer vor der Pension, verlassen also den Arbeitsmarkt. Dafür kommen die geburtenschwachen Jahrgänge nach. Und wenn weniger Junge nachkommen, diese dann auch noch länger ausgebildet werden, dann wirkt sich das spürbar aus. Dazu kommen gesellschaftliche Trends, die man als „Work-Life-Balance“ umschreiben kann. Hackeln ist nicht alles, Leben im Hier und Jetzt ist wichtig. Oft begnügen sich auch hochqualifizierte Arbeitskräfte mit Teilzeitjobs und genießen lieber ein verlängertes Wochenende mit einer Vier-Tage-Woche von Montag bis Donnerstag. Vor diesem Hintergrund sind auch innerbetriebliche Maßnahmen zur Steigerung der Attraktivität gefragter denn je, insbesondere individuelle Arbeitszeitmodelle und Ausbildungsmöglichkeiten. 
Für Thomas Pop läuft gerade bei den Jüngsten vieles richtig: „Die Schulen leisten in Kooperation mit dem AMS und dem WIFI sehr viel für echte Berufsorientierung. Gerade bei Lehrstellen hat sich vieles zum Positiven verändert, die Klischees von früher brechen auf, überbetriebliche Lehrausbildungen und die Ausbildungsgarantie für die Jungen sind sehr erfolgreich.“ 173 offenen Lehrstellen im Juli 2022 standen gerade mal 104 Lehrstellensuchende gegenüber. 
Während auf bundespolitischer Bühne eine Arbeitsmarktreform ausgearbeitet wird und dabei ein der Höhe nach abnehmendes Arbeitslosengeld sowie Änderungen beim möglichen Zuverdienst heiß diskutiert werden, sind Ende August auf der Website des AMS 1.264 verschiedene Stellenangebote unter der Postleitzahl 3100 verfügbar. Rund 3.118 offene Stellen waren im Juli 2022 beim AMS als offen gemeldet, ein Plus von rund 40 Prozent zum Vorjahr. AMS-Vorstand Johannes Kopf führte im Wochenmagazin „profil“ unlängst aus, dass im Juli 2022 österreichweit 137.826 offene Stellen beim AMS gemeldet wurden. Da die Betriebe aber längst nicht alle freien Stellen melden würden, schätzt er den Bedarf an zusätzlichen Arbeitskräften auf rund 250.000 Personen. Da ist es naheliegend, dass quer durch die Branchen und von Ost bis West Unternehmen vor massiven Problemen stehen. 
Mario Burger ist als Obmann der St. Pöltner Bezirksstelle der Wirtschaftskammer sozusagen der Interessensvertreter der lokalen Unternehmen. Er beurteilt die Lage kritisch: „Der Druck auf unsere Unternehmen ist enorm hoch, es gibt keinen Bereich, der nicht direkt oder indirekt betroffen wäre. Durchschnittlich kann jede zehnte Stelle nicht besetzt werden. Die Betriebe müssen laufend Aufträge ablehnen.“ Burger fordert daher, dass „die richtigen Weichenstellungen im Bildungssystem und am Arbeitsmarkt dringend vorgenommen werden.“ Es gehe darum die Attraktivität der Arbeitgeber zu steigern, ohne dass man die Problematik dadurch anheizt, dass sich die Arbeitgeber untereinander konkurrenzieren. Wichtig seien optimierte Aus- und Weiterbildungen um das Missverhältnis zwischen benötigten und vorhandenen Qualifikationen auszugleichen, aber auch weitere Flexibilisierungen der Arbeitswelt. Eine konkrete Maßnahme sei laut dem St. Pöltner Baumeister die aktuelle Initiative „Talente-Magnet“, welche Betriebe dabei unterstützen will, die besten Köpfe zu finden.
Mario Pulker ist Spartenobmann für Tourismus und Freizeitwirtschaft. Er betont, dass der Arbeitskräftemangel für 70 Prozent der Betriebe ein zentrales Problem sei und aktuell eine der größten Herausforderungen darstelle. Viele haben die Angebote bereits reduziert. Gerade im Tourismus kommt auch ein Effekt zu tragen, der mit der Corona-Pandemie beschleunigt wurde. Arbeitskräfte aus dem Ausland haben in der Lockdown-Zeit in ihrer Heimat neue Jobs gefunden und wollen sich das Pendeln nicht mehr antun. Hier ist eine wesentliche Entwicklung am Bewusstsein vieler vorbeigegangen: Das Lohnniveau in den östlichen Ländern hat infolge eines starken Wirtschaftsaufschwungs angezogen, gutbezahlte und attraktive Jobs gibt es nicht mehr nur bei uns. Die Arbeitslosenquoten sind in Ungarn, Polen und Tschechien deutlich niedriger als in Österreich. Der Arbeitskräftemangel und die Teuerung, nicht nur beim Personal, sondern auch bei Rohstoffen und Energie, werden zunehmend als Bedrohung gesehen. Pulker fordert daher rasche Unterstützung bei Energiekos­ten und eine deutliche Senkung der Lohnnebenkosten. Im Branchenmagazin „Gastro“ merkte er an, die Zeit der im internationalen Vergleich vergleichsweise günstigen Gasthausbesuche sei vorbei. Die Betriebe müssten Preise erhöhen, um zu überleben. Wie weit sich die Gäste das Schnitzel dann noch leisten können, sei die Zukunftsfrage: Job-Misere trifft auf Teuerungswelle. 
Bei der Arbeiterkammer sieht Chef-Ökonom Markus Marterbauer die Lage differenziert. Arbeitskräftemangel bedeute ja auch Vollbeschäftigung – und das war immerhin lange Zeit ein wirtschaftspolitisches Ziel. Die Interessensvertreter der Arbeiterschaft fordern eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen durch höhere Löhne und eine Reduktion der Arbeitszeit. Doch ob man damit zusätzliche Arbeitskräfte herbeizaubern kann? 
Der offizielle Arbeitsmarkt scheint leergefegt. Viele Betriebe sind unterdessen auf den „erweiterten“ Arbeitsmarkt ausgewichen. Die Arbeitslosenquote wird ja aus der Zahl der arbeitslos Gemeldeten in Relation zur Zahl der am Arbeitsmarkt (laut Statistiken) verfügbaren Personen gemessen. Im Juli 2022 betrug sie im Bezirk St. Pölten 5,3 Prozent (im Juli 2021 waren es 6,6 Prozent). Vermehrt versuchen Betriebe also nun diese an sich gar nicht „verfügbaren“ Personen anzusprechen. Etwa Studierende, die zusätzlich arbeiten gehen oder Pensionisten, die eigentlich nicht mehr müssten, aber dennoch gerne noch ein paar Stunden pro Woche arbeiten. Vielfach werden auch hier Verbesserungen für die Arbeitswilligen gefordert, insbesondere im Hinblick auf das Steuer- und Sozialsystem. 
Der Großteil der aktuellen Problematik ist also nicht der Pandemie, sondern der gesellschaftlichen Entwicklung geschuldet. Die nötige Anpassung der Rahmenbedingungen kann man wohl als zentrale Aufgabe einer Bundesregierung sehen. Die Statistik Austria prognostiziert, dass Österreich bis 2050 auf rund 9,6 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner wachsen wird. Im gleichen Zeitraum geht die Zahl der erwerbsfähigen Personen zwischen 15 und 64 Jahren aber um fünf Prozent zurück, was ein Rückgang um über 200.000 Arbeitskräfte bedeutet. Rein demografisch scheinen zukunftsfähige Lösungen somit höchst geboten – besser heute als morgen, denn das Thema wird wohl bleiben. Krise hin, Krieg her.

ZAHLEN, BITTE!
79.517: Anzahl unselbstständig Beschäftigter im Juni 2022 im Bezirk St. Pölten (plus 1,2 Prozent im Vergleich zum Juni 2021)
4.502: Anzahl der vorgemerkten Arbeitslosen im Juli 2022 im Bezirk St. Pölten (minus 19,1 Prozent im Vergleich zum Juli 2021)
5,1 Prozent: Arbeitslosenquote im Juni 2022 im Bezirk St. Pölten (minus 1,6 Prozent im Vergleich zum Juni 2021)
125: Anzahl Mangelberufe 2022
29,4 Prozent: Anzahl der Erwerbstätigen in Teilzeit im Jahr 2021 (1995 waren es im Vergleich 14 %)