MFG - „DAS GEHT WEIT ÜBER DAS KLICKEN UND WISCHEN HINAUS“
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„DAS GEHT WEIT ÜBER DAS KLICKEN UND WISCHEN HINAUS“

Text Johannes Reichl
Ausgabe 09/2022

In der aktuellen Debatte rund um Hass im Netz, Fake News, Datenschutz & Co. ist eine Forderung immer zu hören: Der „richtige“ Umgang mit dem Internet muss bereits in der Schule vermittelt werden. Das neue Pflichtfach „Digitale Grundbildung“ zielt genau darauf ab. Wir sprachen darüber mit Dr. Sonja Gabriel, Hochschulprofessorin für Medienpädagogik und Mediendidaktik an der Pädagogischen Hochschule Wien/Krems.


Was unterscheidet „Digitale Grundbildung“ vom bisherigen „Informatikunterricht“, oder handelt es sich einfach nur um ein neues Etikett?
Mit der Einführung des Fachs gelingt es nun erstmals flächendeckend alle Schülerinnen und Schüler der Sekundarstufe I zu erreichen und zwar ab der 5. Schulstufe. Zudem umfasst Digitale Grundbildung mehr als informatisches Denken – es geht hier auch sehr stark um Medienbildung, also jene Kompetenzen, die zukünftige mündige Bürgerinnen und Bürger einer immer stärker mediatisierten Welt benötigen – das sind Themen wie Kommunikation und Zusammenarbeit über das Internet genauso wie Risiken und Gefahren, die im Internet lauern können bis hin zu Gesundheitsthemen und Nachhaltigkeit. Zudem ist auch der Produktion von Medien ein Teil des Lehrplans gewidmet – also raus aus dem reinen Konsumverhalten in aktives Tun.

Oft hat man den Eindruck, dass die Kids digital fitter sind als ihre Lehrer. Trügt der Schein?
Die heutigen Kinder und Jugendlichen wachsen mit digitalen Medien auf und können sie meist schon sehr früh bedienen. Das führt oft zu dem Irrglauben, dass sie digital fit sind. Tatsächlich handelt es sich hier aber eher nur um Anwendungskompetenz in bestimmten Bereichen wie z.  B. Social Media, aber um digital fit zu sein, gehört viel mehr dazu. Gerade in den letzten Jahren wurde durch Stichworte wie Fake News, Hass im Netz oder Phishing ganz deutlich, dass vor allem eine kritische Medienkompetenz notwendig ist. Ich denke, am wichtigsten ist es, den jungen Konsumenten beizubringen, wie man die eigene Nutzung reflektiert. Was machen wir mit den Medien und was machen sie mit uns – das geht also weit über das Klicken und Wischen hinaus – und da sehe ich Lehrerinnen und Lehrer auf jeden Fall qualifiziert, dass sie die junge Generation in diesem Prozess unterstützen können.

Welche Gefahren lauern im Netz ganz allgemein, und auf Kinder- und Jugendliche im Besonderen – wie werden diese im Unterricht aufbereitet?
Das Netz bietet natürlich neben viel Potential leider auch Schattenseiten – es ist toll, dass man im Internet Informationen zu allen Themen findet – allerdings gibt es auch viel Desinformation. Man muss also lernen, wie man Fakt von Fake unterscheidet. Genauso ist es fantastisch, dass ich fast alles über das Internet kaufen kann, allerdings gibt es auch Betrug. Ich muss also wissen, welche Möglichkeiten es gibt, um zu erkennen, ob ein Online-Shop „echt“ ist, welche Nachrichten von meiner Bank kommen und welche von Betrügern. Das Internet kann ein großartiger Ort sein, um neue Leute kennenzulernen, sich mit anderen über seine Interessen auszutauschen, gleichzeitig muss ich mir bewusst sein, dass mein Gegenüber vielleicht falsche Angaben macht oder versucht, an meine Daten und mein Geld zu kommen. Das sind alles Bereiche, die Erwachsene genauso betreffen und wo auch noch viel Lernbedarf besteht. Eine spezielle Gefahr, die auf Kinder und Jugendliche lauert, ist Cybergrooming – also die Kontaktaufnahme von – meist männlichen – Erwachsenen mit Minderjährigen, mit dem Ziel sexuellen Kontakt zu haben. Die Zahlen hier steigen erschreckend rasch und hier hilft nur Prävention. Kinder sollten schon sehr früh lernen, auch im Netz Nein zu sagen und nicht jedem zu vertrauen. Wir sagen unseren Kindern ja auch, dass sie niemals zu Fremden ins Auto steigen sollen – im Internet werden sie leider zu häufig alleine gelassen. 

Inwiefern?
Viele denken, das Kind sitzt ja eh nebenan im Zimmer, was soll da schon passieren? Hier sehe ich im Fach Digitale Grundbildung ein großes Potential, Kinder aufzuklären und mit Kompetenzen zu versehen, damit Cybergroomer keine Chance haben. Weitere Themen sind Cybermobbing und Hate Speech. 

Der Selbstmord von Frau Dr. Kellermayr ist diesbezüglich ein furchtbares Beispiel. Wie vermittelt man Jugendlichen die Gefahren digitalen Mobbings?
Cybermobbing ist definitiv ein Problem geworden – vor allem, weil es ja häufig in Kombination mit dem Offline-Mobbing stattfindet und auch oft die Grenzen zwischen Täter und Opfer verschwimmen. War es vor einem Jahrzehnt noch technisch aufwändiger, eine Fotomontage zu erstellen, passiert dies in einer passenden App innerhalb von Minuten. Auch hier ist es meiner Meinung nach wichtig, schon präventiv zu arbeiten – es gibt zahlreiche Programme, die sich mit der Thematik beschäftigen und auch aufzeigen, was dies für die Opfer bedeutet. Oft ist vor allem Kindern und Jugendlichen nicht bewusst, was ein vermeintlich harmloses Bild oder eine unbedachte Äußerung in anderen auslösen können. Und schließlich muss man den jungen Menschen auch klarmachen, dass Cybermobbing eine Straftat ist und keine harmlose Spielerei. 

Im Leben junger Menschen spielen Social Media-Plattformen wie TikTok und Co. eine große Rolle. Sogenannte „Challenges“ werden immer exzessiver – wie fördert man ein richtiges Einordnen solcher Inhalte? 
Auch in diesem Bereich erachte ich die Förderung der kritischen Medienkompetenz für sehr wichtig. Bedenken muss man allerdings auch, dass nicht jede Challenge gefährlich ist, es gibt durchaus auch Challenges, die harmlos sind – so gibt es zahlreiche Videos, wo aufgefordert wird, eine Choreografie zu einem bestimmten Song zu lernen und sich zu filmen oder Challenges wie jemanden zu fragen, was – außer Nahrungsmitteln – noch so im Kühlschrank ist. In den Medien landen meistens dann eher die gefährlichen Challenges, die es natürlich auch gibt, doch man muss schon sagen, dass die meisten Kinder und Jugendlichen schon sehr wohl unterscheiden können, was gefährlich ist und was harmlos ist. Mutproben an sich – und nichts anderes sind ja die Challenges – gehören grundsätzlich seit Menschengedenken zum entwicklungsbedingten Risikoverhalten vieler Jugendlicher. Junge Menschen müssen ermutigt werden, das, was sie in diesen Videos sehen, kritisch zu hinterfragen und schließlich muss man ihre Resilienz stärken, damit sie eventuellem Gruppendruck nicht nachgeben.

Ein großes Thema sind Fake News. Wie geht man dieses im Unterricht an?
Zum Thema Fake News sind gerade in den letzten Jahren sehr gute Unterrichtsmaterialien entstanden. Besonders hinweisen möchte ich auf diverse digitale Spiele, die sich des Themas annehmen und Lernende anregen, genauer hinzuschauen, was Fakt und was Fake ist. Zudem wird bei manchen dieser Spiele auch auf die Hintergründe von Fake News eingegangen – es ist nämlich bei weitem nicht so, dass die meisten Fake News politisch motiviert sind, sondern viel häufiger geht es um finanzielle Gewinne – Menschen sollen auf Links klicken, sollen sich bei Fake-Gewinnspielen registrieren und durch Teilen von Beiträgen Werbung weitertragen. Wichtig in diesem Bereich ist, dass die Thematik von vielen Seiten beleuchtet wird und nicht nur auf das Fach Digitale Grundbildung abgewälzt wird. 
Auch die Vorbildfunktion von Erwachsenen spielt eine wichtige Rolle – wenn Kinder von klein auf lernen, kritisch zu sein – und dies sowohl von Lehrpersonen als auch Erziehungsberechtigten ermutigt wird – dann werden sie das in allen Bereich tun und sind nicht so anfällig für Manipulation.

Junge wie Alte posten und posen Bilder teils rund um die Uhr. Welche Gefahren birgt diese Form des Narzissmus, auch im Hinblick auf das Selbstbild bzw. gesellschaftlichen Druck, wie man sein soll?
Ich glaube, der Wunsch vieler Menschen bedeutsam zu sein, ist schon sehr alt. Mit Social Media ist es nun natürlich sehr einfach geworden, sein Leben mit anderen zu teilen. Natürlich verbergen sich – gerade in Bezug auf das Selbstbild – hier Gefahren, und besonders Jugendliche sind leicht zu beeinflussen. Influencer und Influencerinnen in Instagram zum Beispiel inszenieren die Bilder, die dann auf den Betrachter so spontan wirken. In Wahrheit ist da aber nichts dem Zufall überlassen, zudem werden die Bilder vor dem Onlinestellen oftmals bearbeitet bzw. mit Filtern versehen. 

Alle wollen also perfekt wirken?
Was wir schon lange Zeit aus Hochglanzmagazinen kennen – schöne Gesichter, perfekte Körper – springt uns jetzt auch beim Öffnen von Social Media ständig entgegen. Das kann schon dazu führen, dass Jugendliche, aber auch Erwachsene nicht mehr zufrieden mit sich, ihrem Körper, ihrem Leben sind und dann – wenn es um das Aussehen geht – sich sehr beeinflussen lassen, an Essstörungen leiden oder im Extremfall sich einer Schönheits-OP unterziehen. Gerade in letzter Zeit sind allerdings auch Gegenbewegungen in sozialen Medien unterwegs – Stichwörter wie Body Positivity oder Body Neutrality sollen Menschen ermutigen, mit sich selbst und ihrem Aussehen zufrieden zu sein, Bilder werden häufig mit dem Hashtag #nofilter versehen, um kennzuzeichnen, dass es nicht bearbeitet wurde. 
Hier hilft wieder nur das Selbstbewusstsein zu stärken und auch mit jungen Menschen darüber zu reden, warum sie nicht zufrieden sind. Ein Blick hinter die Kulissen: Viele dieser Influencerinnen und Influencer, denen gerade Kinder und Jugendliche folgen, sind selbst von Burn-out bedroht, weil ein Leben, das im Mittelpunkt der Öffentlichkeit steht, kein einfaches ist. 

Viele Eltern stöhnen über den teils exzessiven Digitalgebrauch ihrer Kinder. Wie wird man dem Herr, und – überspitzt formuliert – würde digitale Grundbildung nicht auch Eltern gut tun? 
Digitale Grundbildung kann niemandem schaden. Es gibt mittlerweile auch viele Kinder, die sich über den Mediengebrauch ihrer Eltern beschweren. Wie oft sieht man Eltern oder sogar Großeltern vertieft in ihr Smartphone, während die Kinder am Spielplatz toben. Um sich als Erwachsener bzw. Elternteil digital fit zu machen, gibt es ebenfalls zahlreiche Möglichkeiten in Form von Online-Vorträgen oder Weiterbildungen. Es hilft aber auch schon viel, sich vorurteilsfrei von den eigenen Kindern erklären zu lassen, was sie mit dem Smartphone oder Computer machen, welche Videos sie schauen, Spiele spielen oder Apps installiert haben. Und gerade was den exzessiven Gebrauch von digitalen Medien angeht – es kommt nicht so sehr auf die Zeit an, die mit digitalen Medien verbracht wird, sondern mit den Inhalten, mit denen sich die Kinder und Jugendlichen beschäftigen. Es ist ein Unterschied, ob Jugendliche beispielsweise den ganzen Tag TikTok-Videos anschauen oder ob sie selbst kreativ tätig werden und ein Video erstellen, was bedeutet, dass sie sich Gedanken über Inhalt und Präsentation machen, Fähigkeiten wie Videobearbeitung benötigen etc. Daher ist es  wichtig, sich dafür zu interessieren, was online bzw. mit digitalen Medien gemacht wird. Erst dann weiß man, ob man sich Sorgen machen und regulierend eingreifen muss.

Vieles prasselt ungefiltert auf Kinder und Jugendliche ein – wie soll man dem einen Riegel vorschieben, bzw. was wird den Schülern im Sinne einer Selbstreglementierung vermittelt?
Einen Riegel vorschieben ist schwierig, denn alles, was verboten ist, wird doppelt interessant – ein Phänomen, das auch schon vor den digitalen Medien zu beobachten war. Hier ist es wichtig, mit den Kindern und Jugendlichen zu sprechen, sie zur Selbstreflexion anzuleiten und ihnen zuzuhören. Im Gespräch kann man auf vieles hinweisen, es darf nur nicht in Vorwürfe ausarten. Was Medieninhalte angeht, gibt es sicher einen Unterschied, ob ich von einem 6-jährigen Kind oder einem 15-jährigen Jugendlichen spreche – je jünger, desto mehr Begleitung beim Medienkonsum ist notwendig – und das ist natürlich etwas, das auch die Erziehungsberechtigten angeht. Da digitale Medien unseren gesamten Alltag durchdringen, ist Schule alleine nicht ausreichend. Hier sind viele Player gefordert – natürlich unter anderem auch die Gesetzgebung, die darauf achten sollte, dass es bessere Maßnahmen gibt, um Kinder und Jugendliche zu schützen. 

Was ist von Einschränkungen zu halten? 
Natürlich gibt es auch technische Möglichkeiten wie Filter, womit man verhindern kann, dass Kinder über das Smartphone oder den Fernseher auf ungeeignete Inhalte zugreifen, doch häufig greift das zu kurz. Wenn am eigenen Gerät etwas nicht erreichbar ist, dann gibt es vielleicht Freunde, wo die Eltern nicht so restriktiv sind oder ältere Geschwister, wo dann ebenfalls Medien konsumiert werden, die nicht altersgerecht sind. Daher ist das Suchen des Gesprächs, das Aufklären und Reden darüber wahrscheinlich viel wirkungsvoller als jedes Verbieten und jede technische Barriere.

Ist nicht gerade der Umgang mit digitalen Medien eines DER Themen, wo Eltern die Erziehung zusehends gerne an die Schule abschieben möchten? 
Aufgrund der raschen technologischen Entwicklungen ist es für viele Personen einfach schwierig, damit mitzuhalten. Ständig gibt es neue Apps, im Bereich der Künstlichen Intelligenz tut sich viel – selbst für Fachleute ist es nicht einfach, hier in der gesamten Bandbreite auf dem Laufenden zu sein. Daher kann ich durchaus verstehen, wenn Eltern diesen Bereich gerne in die Schule auslagern würden. Allerdings ist der Bereich der Digitalisierung so umfassend, dass hier Elternhaus, Schule und außerschulische Einrichtungen zusammenarbeiten müssen. Es geht ja nicht nur um TikTok und Instagram, es geht um den großen Bereich Big Data und Schutz der Privatsphäre sowie des Datenschutzes, um ethische Fragen wie z. B. welche Entscheidungen überlässt man einer Maschine, wie verhält sich Technologie mit Ökonomie und Ökologie etc. Das alles kann nicht eine Institution schaffen – ich würde sogar die Medien selbst in der Pflicht sehen, hier einen Bildungsauftrag zu erfüllen.