MFG - Der Flügelschlag des Schmetterlings
Der Flügelschlag des Schmetterlings


MFG - Das Magazin
St. Pöltens gute Seite

Der Flügelschlag des Schmetterlings

Text Johannes Reichl
Ausgabe 03/2023

Wenn man nach einem authentischen Gesicht der St. Pöltner Klimaschutzszene fragt, landet man unweigerlich bei Dieter Schmidradler. Der studierte Techniker hat als Gründer, Initiator und Mastermind von Plattformen wie Verkehrswende.at oder „Klimahauptstadt St. Pölten 2024“ eine breite Umwelt-Bewegung angestoßen, die sich auf vielerlei Weise in den Klimaschutz-Diskurs der Stadt einbringt. Das Ziel ist St. Pölten als „Europas Modellstadt für eine menschen-, umwelt- und klimagerechte Welt“.


Wir treffen den Doktor der technischen Wissenschaften an einem klirrend kalten Montagvormittag im wohlig warmen Cinema Paradiso. Dort sitzt Schmidradler im wahrsten Sinne des Wortes in der Auslage, als ich das Lokal betrete. Ein passendes Bild, ist Transparenz doch eines seiner Grundanliegen an Politik und Verwaltung, ebenso selbstdefinierter Grundpfeiler der Plattformarbeit. Beim vermeintlichen journalistischen Warm-up, dem Kennenlernen, sind wir sogleich in medias res gegangen. Als ich nämlich wissen möchte, wie er zum Klimaaktivisten geworden ist, kommt die überraschende Antwort: „Gar nicht.“ Mit dem Begriff hat der Wissenschaftler so seine Probleme: „Wenn ein Lobbyist aus der Wirtschaft zu Wort kommt, ist er ein ‚Experte‘. Wenn aber Menschen wie wir, die sich für die Umwelt einsetzen, die Stimme erheben, dann ist von ‚Aktivisten‘ die Rede.“ Und zwar, wie Schmidradler überzeugt ist, mit einer gewissen Schlagseite, die unterschwellig Chaotentum suggeriert und so das Engagement banalisieren soll. „In Wahrheit sind wir aber nicht minder Expertinnen und Experten – dazu braucht man sich nur anzuschauen, wer bei uns aller mit an Bord ist: Das ist ein breiter gesellschaftlicher Bogen, von Jungen wie Alten, von Juristinnen über Architekten bis hin zur Bäuerin. Das ist ja unsere Stärke, dass wir eine breite Basis mit enorm viel Know-how haben und daher in der Materie sehr substanziell argumentieren können.“ Neuhochdeutsch würde man von Schwarmintelligenz sprechen. Nicht immer zur Freude von Behörden und Politik, die dann bisweilen in Argumentationsnotstand geraten und – wie es Schmidradler empfindet – mit klassischen Abwehrreflexen reagieren. „Es war etwa witzig zu beobachten, als wir zuletzt einen offenen Brief gegen das geplante Sicherheitszentrum am Eisberg übergeben haben, dass sofort versucht wurde, das abzuschwächen von wegen: ‚Naja, da geht’s ja nur um ein paar Anrainerinteressen‘ – womit eine Voreingenommenheit unterstellt wird. Nur bei Klimahauptstadt2024 geht es immer um das große Ganze und nicht irgendwelche Partikularinteressen, in dem Fall also etwa um den Umstand, dass dort Entscheidungen für einen ganzen Stadtteil St. Pöltens getroffen werden, die dann für die Zukunft irreversibel sind.“ Auch dass man quasi immer Stellung beziehen soll im Hinblick auf die „Klimakleber“ der letzten Generation, „mit denen ich mich in der Sache verbunden fühle, auch wenn meine Methoden andere sind“, ist für Schmidradler ein symptomatischer Versuch, das Klimaengagement „in ein Querulanten-Eck zu drängen. Aber in Wahrheit sind nicht wir die Querulanten, sondern jene, die sich vor der Tatsache verschließen, dass, wenn wir jetzt nicht etwas unternehmen, die Welt den Bach hinuntergeht.“ 

Ins freie Tun kommen
Dieses „Unternehmen“ im Sinne einer verantwortungsvollen ressourcen- und umweltschonenden Lebensweise entwickelt sich im Falle Schmidradlers sukzessive heraus. Bis zu seinem fünften Lebensjahr wächst er in Waitzendorf auf, danach zieht die Familie nach Ybbs „wo ich in Kemmelbach miterlebt habe, dass die dörfliche Struktur durch das blindwütige Zubetonieren völlig zerstört wurde und alles Grün verschwunden ist – genau das wollen wir in St. Pölten verhindern!“ Nach der Schule studiert Schmidradler an der TU Wien, wo er anschließend als Universitäts-Assistent tätig ist und in dieser Zeit unter anderem ein Verfahren zur Optimierung von Dieselmotoren entwickelt. „Das war insofern spannend, als schon Jahre vor Auffliegen des Dieselskandals eine Messtechnik zur Verfügung stand, mit der man statt zu tricksen die Probleme sorgfältig lösen hätte können.“ Anschließend heuert Schmidradler bei Kapsch an, verlässt das Unternehmen aber nach sechs Jahren „weil es meinem Grundverständnis entspricht, dass ein freier Geist auch frei bleiben soll, und ich deshalb außerhalb der festgefahrenen Strukturen arbeiten wollte.“ Freilich muss er rasch feststellen, dass einem selbständigen Wissenschaftler mitunter Gegenwind entgegen bläst bzw. es mit der Freiheit der Wissenschaft nicht immer so weit her ist, „weil etwa durch die Etablierung der Drittmittelfinanzierung in den 90er-Jahren heute eine potenzielle Abhängigkeit systemimmanent ist.“ Gerade derartige Prozess- und Systemfragen beginnen den Wissenschaftler zusehends zu beschäftigen, wobei er das Gefühl nicht los wird, dass eingelernte Muster und Prozesse zusehends ins Verderben führen, weil sie zu eindimensional und starr gedacht werden anstelle ganzheitlich und dynamisch im Hinblick auf ihre langfristigen Folgen auf Umwelt und Gesellschaft. 2012 nimmt er eine bewusste Auszeit zum Nachdenken, „in der ich praktisch den ganzen Tag Ö1 gehört und selbst eine Küche gebaut habe“, schmunzelt er. Eine große Inspiration ist in dieser Zeit die Gedankenwelt der Klimaforscherin Helga Kromp-Kolb, die Schmidradler auf seiner Homepage „Metamorphosis 2050“ wie folgt zitiert: „Wir leben in einer Zeit des Umbruches, in der sehr klar ist, dass unser derzeitiges Denken und Wirtschaften ihre Grenzen erreicht haben, und ein grundlegendes Umdenken platzgreifen muss. Welche Denkansätze und Wege in der Zukunft erfolgreich sein werden, ist derzeit nicht abschätzbar. Deshalb sind viele Ansätze und viele Versuche von Menschen nötig, die bereit sind, als Pioniere vorauszugehen.“ So ein Pionier möchte auch Schmidradler selbst werden, quasi vom Reden und Theoretisieren ins konkrete Tun kommen, und so beginnt er „eine Art Selbstversuch“, der schließlich zur bewussten Lebensführung wird. Er zieht 2013 vom großen Wien ins dörfliche Waitzendorf seiner Kindheit zurück und beginnt dort den großelterlichen Bauernhof zu revitalisieren, autonomes Bewirtschaften inklusive. Sein Auto verkauft er und fährt stattdessen seitdem mit dem Klapprad durch St. Pölten. Schmidradler tut dies aber nicht als weltabgewandter Eremit, „sondern ich habe begeisterungsfähige Leute gefunden, die mich weiter ermutigt haben.“ Seine Nachbarn etwa halfen dem Heimkehrer, den (inzwischen wieder verwildernden) Garten zu bestellen. Menschen wie Maria Zögernitz wiederum, vielen als Gruppenleiterin der St. Pöltner Radlobby bekannt, gibt ihm Tipps zur Medienarbeit. Neue Bekanntschaften werden geknüpft, Menschen tauschen sich aus, Netzwerke bilden sich – wie etwa die von ihm ins Leben gerufene Initiative „Metamorphosis 2050“. Sein darin vorangestelltes Motto, demnach der kleinste Flügelschlag eines Schmetterlings Ausgangspunkt großer Veränderung sein kann, wird in gewisser Weise zur self-fulfilling prophecy, denn rund um Schmidradler entsteht in den kommenden Jahren eine immer größer werdende Umweltbewegung, „in der es auf jeden einzelnen ankommt und zugleich auf alle zusammen. Denn jeder hat zwei Schultern, so dass sich die Lasten weiter verteilen und wir gemeinsam noch mehr stemmen können!“

Klimahauptstadt 2024
Mit Maria Zögernitz gründet er 2019 den Verein „Verkehrswende.at“, der seit Februar als Umweltorganisation anerkannt ist und damit etwa Parteienstellung bei UVPs genießt. Der Aktionsradius ist dabei bundesweit – in Niederösterreich etwa tritt der Verein in der Region St. Pölten gegen die Realisierung der S 34 ein, unterstützt „Vernunft statt Ost-Umfahrung“ in Wiener Neustadt oder setzt sich für die Reaktivierung der Donauuferbahn ein. Zugleich beschäftigt man sich mit allgemeinen Mobilitätsthemen und versucht die Mobilitätswende der Bevölkerung zu erklären – aktuell etwa den Nutzen von Temporeduktion im Straßenverkehr.
 Dem nicht genug – auch hier ist Schmidradler als Mitbegründer und Projektkoordinator treibende Kraft – schließen sich 2019 im Fahrwasser der Bewerbung St. Pöltens zur Europäischen Kulturhauptstadt 14 Vereine und Organisationen zum Netzwerk „Klimahauptstadt 2024“ zusammen. Damit entsteht – bei Autonomie der einzelnen Mitglieder – so etwas wie eine Dachmarke über die diversen Umweltinitiativen der Region. Deren Agenda liest sich auf der Homepage wie folgt: „Gesunde Böden, sauberes Wasser und eine funktionierende Kreislaufwirtschaft mit regionaler Lebensmittelversorgung sind essenzielle Überlebensgrundlagen für kommende Generationen. Gemeinsam setzen wir uns dafür ein, St. Pölten zu einem international angesehenen Hotspot für Nachhaltigkeit, Klima- und Artenschutz zu entwickeln.“ 
Mittlerweile ist der lose Zusammenschluss auf 19 Organisationen und Vereine angewachsen „wobei auch Einzelpersonen mitmachen können.“ In regelmäßigen Abständen finden Koordinationstreffen statt „in deren Zuge wir uns austauschen, aktuelle Themen besprechen, wo man vielleicht aktiv werden muss, oder wo wir auch über die Aufnahme neuer Gruppen und Personen basisdemokratisch entscheiden. Für uns ist diesbezüglich wichtig, dass jede Initiative frei und unabhängig bleibt, wir zugleich aber unser Haus insgesamt sauber halten und es zu keinen Interessenskonflikten kommt.“ Zudem bemüht man sich, nicht etwa Allgemeinplätze zu bedienen und Überschriften zu produzieren, „sondern unsere Forderungen mit klaren Fakten zu unterfüttern. Wir arbeiten nicht mit Unterstellungen, sondern belegen alles transparent mit Quellen“, so Schmidradler, der die Initiative zugleich in gewisser Weise auch als eine Art Hüterin der Bürgerrechte begreift. „Wir leben in Österreich in einem starken Rechtsstaat, einer Demokratie. Aber man muss immer wachsam bleiben – wir erleben im Zuge von Verfahren immer wieder, dass versucht wird, die Rechtsgrundlagen zu verbiegen, manchmal so sehr, dass sie zu zerbrechen drohen – da wird es dann demokratiepolitisch gefährlich.“ Er spielt mir ein Video des Verkehrsexperten Hermann Knoflacher vor, in dem dieser im Hinblick auf die S 34 befindet, dass das System aus Politik, Verwaltung, Gutachtern & Co. so gestrickt ist, dass es zumindest, wenn man ihn richtig interpretiert, korruptionsanfällig ist – die Gutachten also, könnte man sagen, jedenfalls mit Vorsicht zu genießen sind und ihrerseits hinterfragt werden müssen.
Die Klimahauptstadt tut dies mit allen ihr zur Verfügung stehenden legalen Mitteln der mitwirkenden Menschen und Organisationen. Man stellt offizielle Anfragen bei Behörden und Politikern, tätigt Einsprüche im Zuge von Verfahren, schaltet Volks- und Bürgeranwälte ein, ruft Petitionen ins Leben, veranstaltet Aktionstage, führt Diskussionsabende durch oder geht demonstrieren „wobei ich sogar die Übergabe unseres offenen Briefes gegen das Sicherheitszentrum im Regierungsviertel angemeldet habe“, so Schmidradler. Und lässt man sich zu einer „Klebeaktion“ hinreißen, so tut man dies mit einem konstruktiven Augenzwinkern „Wir haben Patschen gepickt!“ Die Methoden der unterschiedlichen Vereine und Initiativen des Netzwerkes seien jedenfalls vielfältig und absolut legitim, „solange keine anderen Personen gefährdet werden. Wichtig ist, dass wir unvorhersehbar bleiben und uns nicht auseinanderdividieren lassen!“ Den öffentlichen Protest sieht er dabei nicht als erste Option, sondern eher als letztes Mittel „wenn man merkt, dass man überhaupt nicht ernst genommen wird“, wie er es etwa empfunden hat, als man dem Gemeinderat eine Petition mit 10.370 (!) Unterschriften gegen die S 34 übergeben hat „aber im Grunde genommen von der Stadtregierung ignoriert wurde.“ Prinzipiell gehe es darum, miteinander zu reden, „weil man so oft Vorurteile abbauen kann. Erst wenn gar nichts passiert und versucht wird, den Widerstand zu ignorieren, muss man öffentlich die Buschtrommel schlagen.“

Politische Kraft
Dass man diese in Zukunft angesichts zunehmenden Wachstums direkt im Gemeinderat schlägt, also etwa als eigene Liste bei Wahlen antritt, kann sich Schmidradler nicht vorstellen. „Unser Anliegen ist ja nicht Sache einer einzelnen Partei, sondern es geht um gesamtgesellschaftliche Belange. Warum sollten wir in Konkurrenz zu etablierten Parteien treten – wir wollen die Politiker, egal welcher Couleur, ja vielmehr für unsere Themen, für die Zukunft unserer Kinder gewinnen – das muss ja allen am Herzen liegen.“
Man sieht sich auch keinesfalls als reine Protestbewegung, sondern vielmehr als konstruktive Kraft, die ihr Know How zum Wohl der Zukunft St. Pöltens einbringen möchte. Dies passiert etwa im Rahmen des Umweltschutzkomitees der Stadt „wo wir quasi in beratender Funktion mit an Bord sind.“ Freilich nicht als Feigenblatt, sondern als substanzieller Akteur und mit der Forderung, „dass Inputs ernst genommen werden und man etwaigen Missständen auch aufrichtig nachgeht.“ 
In diesem Kontext möchte Klimahauptstadt 2024 der Verwaltung insofern den Rücken stärken, „dass die Politik ihre Expertinnen und Experten auch ernst nimmt und auf sie hört.“ Schmidradler wünscht sich zudem neben mehr Transparenz auch eine gewisse Fehlerkultur der Regierenden. „Ich verstehe halt nicht, dass Politiker, wenn man nach Prüfung der Fakten bei bestimmten Projekten vielleicht zu einem anderen Ergebnis kommt, nicht ehrlich sagen: ‚Okay Leute, so wie wir uns das vorgestellt haben, funktioniert es nicht! Wir machen es anders oder blasen es ganz ab.‘ Da wäre niemand böse, im Gegenteil! Aber so wird oft versucht, im stillen Kämmerlein Fakten zu schaffen, möglichst wenig preiszugeben und Projekte um jeden Preis durchzupeitschen, auch wenn sie schädlich sind – so dass man bei der Recherche den Eindruck gewinnt: Egal welchen Deckel wir aufheben, es stinkt mächtig heraus.“ 
Politiker würden diesbezüglich, wie Schmidradler überzeugt ist, oft Opfer ihrer eigenen Bubble und einer gewissen verzerrten Wahrnehmung werden. „Ein Mandatar meinte etwa unlängst in Sachen Sicherheitszentrum am Eisberg ‚Das ist ja eh eine gute Sache dort oben, aber die Kommunikation war halt schlecht!‘ Nur die Wahrheit ist: Oft ist eben die Sache an sich schlecht, da brauche ich dann als Bürger keine ‚bessere‘ Kommunikation, die das schön redet. Sondern wir Bürger brauchen Politiker, die das Gemeinwohl aller Bürger als oberste Priorität ihres Handelns in den Vordergrund rücken und nicht – wie leider häufig der Fall – etwa nur die Interessen der Wirtschaft oder einen falsch verstandenen Wachstumsbegriff.“ 
Es gebe jedenfalls noch viel zu tun in und für die Stadt: „Uns wird nicht fad“, lacht Schmidradler. Was er – wenn er die berühmten drei Wünsche frei hätte – konkret umgesetzt sehen möchte? Da winkt er ab: „Das will ich gar nicht so beantworten, weil es meinem Grundzugang widerspricht. Prinzipiell ist unser Ziel einfach, dass St. Pölten für die Zukunft lebenswert bleibt und wir die besonderen Eigenschaften, die wir heute noch haben, nicht verspielen: Eine Stadt der Dörfer, wo die Lebensmittel noch direkt aus der Region kommen, wo wir Wasser aus unseren gesunden Böden pumpen – kurzum eine Stadt mit resilienten Strukturen, die wir nicht zubetonieren dürfen!“  

KLIMAHAUPTSTADT 2024

Mitglieder

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