Chicken
Text
Althea Müller
Ausgabe
Jeder sollte einen Onkel Ed haben. Ich habe einen. Er heißt nicht wirklich Ed, was aber nebensächlich ist. Er lebt mitten im Wald, in einem alten Haus. An den Wänden haben sich seine Lebensabschnittspartnerinnen verewigt, jede auf ihre Weise. Die eine mit Regenbögen, die andre mit schamanischen Schriftzeichen. Es ist immer abenteuerlich, auf Besuch zu kommen. Letztens zum Beispiel hätte mich fast der Hund gefressen – nur fast, weil Eds Aura, zentriert im Wesen einer Hundepfeife, ihn zurückhielt. Oft gibt es Tee. Entweder sieht man daraufhin Bilder, die man bis dato nicht für möglich hielt. Oder man kriegt Durchfall. Beides ist durchaus reinigend. Ich mag meinen Onkel Ed sehr gern – er gibt mir das Gefühl, nicht die einzige zu sein, die völlig durch den Wind ist. Wenn Ed ein Lagerfeuer macht, wird getanzt und gegessen. Ich tanze nicht, weil ich nicht will, und esse nicht, weil ich Fleisch verabscheue. Vor allem, wenn es als Schaf über züngelnden Flammen hängt. Ed und seine Freunde teilen meine Gesinnung nicht, trotzdem darf ich mit dabei sein. Das ist nicht selbstverständlich. Die meisten Menschen sind weniger tolerant. Manchmal übernachte ich auch, denn mein Handy hat dort keinen Empfang: Das ist wie Urlaub auf einer einsamen Insel. Ich schlafe dann im Gästezimmer. Das gehört eigentlich dem Kater. Mittlerweile sind wir Freunde. Solange ich am Boden schlafe, und er im Bett. „Leben und leben lassen“, sagt Ed und rührt Kräuterseife an, während mir seine Freundin ganz nebenbei aus der Hand liest. „Genau“, sage ich, trinke bärenstarken Kaffee aus einer selbstgetöpferten Kanne, die wie ein Wolf aussieht und bin froh, einen Onkel Ed zu haben. Jeder sollte einen haben.