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St. Pöltens gute Seite

Namen-los

Ausgabe 11/2013
Von meinem Fenster aus blicke ich direkt auf die ehemalige Synagoge. Jetzt im Spätherbst, wenn die Mittagssonne das rotgelbe Laub in sanftes Licht taucht, wirkt sie besonders romantisch, ja geradezu friedlich. Zugleich ertstehen vor meinem geistigen Auge Bilder von St. Pöltnern, welche nationalsozialistische Lieder absingen, Steine werfen, in den Tempel eindringen und alles zerstören, was Ihnen in die Finger kommt, ihn in Brand stecken. 
All dies spielte sich direkt vor meiner Wohnung ab, und ich denke mir, wie es damals gewesen wäre – hätte ich verstohlen hinausgeschaut, oder die Vorhänge zugezogen, weggeschaut. Hätte ich mir gedacht, der arme Rabbiner, was tut man meinen Nachbarn, meinen Mitbürgern an?! Hätte ich geschaut, wen ich im Mob erkenne? Oder, ein schlimmer Gedanke, wäre ich gar – so wie heute – Journalist gewesen, und hätte nachher einen antisemitischen Jubelartikel verfassen sollen? Es sind Gedanken, die man heute leicht mit „Nein, ich sicher nicht“ wegwischt, aber weiß man das so genau? Nachgeboren sein ist eine Gnade, eine Gnade, die zu Demut und Verantwortung ebenso verpflichtet wie zum Gedenken an diese Gräuel, an deren Ende, 1945, 369 ermordete Juden der St. Pöltner Kultusgemeinde standen. 
Nach dem Krieg war die jüdische Gemeinde ausgelöscht, heute leben noch zwei Juden in der Stadt.
Das offizielle St. Pölten versucht seine historische Pflicht wahrzunehmen – die aktuelle, unbedingt zu empfehlende Ausstellung über „100 Jahre Synagoge“ im Stadtmuseum belegt dies. Und doch wünscht man sich als Bürger noch mehr Nachdruck, uneingeschränktes Bekenntnis in Form einer nachhaltigen Pflegevereinbarung für die Betreuung der jüdischen Friedhöfe – für jenen in der Karlstettner Straße ebenso wie für den ehemaligen am Pernerstorferplatz. Dessen Grabsteine kamen nach der Arisierung unter der „Obhut“ der damaligen Friedhofsverwaltung „abhanden“, damit auch die Namen der Toten, die aber bekannt sind. Diese wieder sichtbar zu machen, ihrer zu gedenken ist eine historische Verpflichtung gegenüber unseren ehemaligen Mitbürgern. Da es keine Verwandten mehr gibt, weil sie ermordet oder vertrieben wurden, sind wir Nachgeborenen deren nächste Angehörige. 
Ebenso betrifft dies die Nennung jener 223 jüdischen Zwangsarbeiter, die auf ihrem Todesmarsch nach Mauthausen in Hofamt/Priel im April 1945 erschossen worden waren, und in einem Massengrab in St. Pölten bestattet wurden. Heute verweist ein Gedenkstein am desolaten Schachtgrab auf deren Existenz, aber das ist  zu wenig angesichts der Tatsache, dass die Namen mittlerweile historisch erforscht sind. Geben wir diesen Menschen, diesen Seelen ihre Würde zurück, in dem wir einen Grabstein schaffen, der ihre Namen trägt. Dann kann es auch nicht mehr passieren, dass mich ein Friedhofsbeamter, den ich nach besagtem Massengrab frage, zum Grab der Widerstandskämpfer des Naziregimes schickt. Das Massengrab für die jüdischen Zwangsarbeiter, das nur wenige Hundert Meter von seinem Büro liegt, ist ihm unbekannt. Jenes der Widerstandskämpfer hingegen kennt er, denn die Opfer haben einen Namen, einen Grabstein, und sie werden von der Friedhofsverwaltung, von der Stadt St. Pölten gepflegt und erhalten. Diese Selbstverständlichkeit schulden wir auch den anderen Namenlosen, die Opfer desselben Terrorregimes geworden sind.
Viktor Frankl, der Auschwitz überlebte, hat über die die Depersonalisierung im KZ, über die Auslöschung der Person in einer Nummer, einmal folgendes geschrieben: „Das ‚Leben‘ der ‚Nummer‘ ist irrelevant. Was hinter dieser Nummer, was hinter diesem Leben steht, ist noch weniger erheblich: das Schicksal – die Geschichte – der Name eines Menschen.“
Geben wir diesen Menschen ihre Namen zurück, damit auch ihre Würde, denn mit einem hat Christoph Lind, welcher die St. Pöltner jüdische Gemeinde wie kein anderer erforscht hat, absolut recht. „Sich an die Gemeinden wieder zu erinnern, an jeden einzelnen Menschen, diesem wieder einen Namen, eine Geschichte zu geben – das empfinde ich als Sieg über die Nazis!“ Diesen leicht zu erringenden Sieg, alleine schon als Dankbarkeit dafür, dass uns das Schicksal vor einer Zeit wie der damaligen bewahrte, dürfen wir nicht auslassen, nein – wir müssen ihn wahrnehmen. Er ist eine moralische wie historische Verpflichtung gegenüber unseren ermordeten Mitbürgern!