Namen-Los
Text
Johannes Reichl
Ausgabe
Von meinem Fenster aus blicke ich direkt auf die ehemalige Synagoge. Jetzt im Spätherbst, wenn die Mittagssonne das rotgelbe Laub in sanftes Licht taucht, wirkt sie besonders romantisch, ja geradezu friedlich. Zugleich erstehen vor meinem geistigen Auge Bilder von St. Pöltnern, welche antisemitische Hetzlieder absingen, Steine werfen, in den Tempel eindringen und in blinder Wut alles zerstören, was ihnen in die Finger kommt, ihn zuletzt anzünden. All dies spielte sich im November 1938 direkt vor meiner Wohnung ab, und ich denke mir, wie es damals gewesen wäre – hätte ich verstohlen hinausgeschaut, oder die Vorhänge zugezogen, weggeschaut? Hätte ich mir gedacht, der arme Rabbiner, was tut man meinen Nachbarn, meinen Mitbürgern an?! Hätte ich geschaut, wen ich im Mob erkenne? Oder, eine schlimme Vorstellung, wäre ich gar – so wie heute – Journalist gewesen und hätte nachher einen antisemitischen Jubelartikel verfassen sollen? Es sind Gedanken, die man 75 Jahre später leicht mit „Nein, ich sicher nicht“ wegwischt, aber weiß man das so genau? Nachgeboren sein ist eine Gnade – eine Gnade, die zu Demut und Verantwortung ebenso verpflichtet wie zum Gedenken an diese Gräuel, an deren Ende, 1945, 369 ermordete Juden der St. Pöltner Kultusgemeinde standen.
Das offizielle St. Pölten versucht seine historische Pflicht wahrzunehmen – die aktuelle, von der so wichtigen Martha Keil vom Institut für jüdische Geschichte Österreichs kuratierte Ausstellung über „100 Jahre Synagoge“ im Stadtmuseum belegt dies. Und doch wünscht man sich als Bürger noch mehr Nachdruck, mehr uneingeschränktes Bekenntnis in Form einer nachhaltigen Pflegevereinbarung mit der IKG Wien über die Betreuung der jüdischen Friedhöfe – für jenen in der Karlstettner Straße ebenso wie für den ehemaligen am Pernerstorferplatz. Dessen Grabsteine kamen nach der Arisierung unter der „Obhut“ der damaligen Friedhofsverwaltung „abhanden“, damit auch die Namen der Toten, die aber bekannt sind. Diese wieder sichtbar zu machen ist eine historische Bringschuld gegenüber unseren ehemaligen Mitbürgern. Da es keine Verwandten mehr gibt, weil sie ermordet oder vertrieben wurden, sind wir Nachgeborene deren nächste Angehörige. Ebenso betrifft dies die Nennung jener 223 jüdischen Zwangsarbeiter, die auf ihrem Todesmarsch nach Mauthausen in Hofamt/Priel im April 1945 erschossen und im Anschluss in einem Massengrab in St. Pölten verscharrt wurden. Heute verweist ein Gedenkstein am desolaten Schachtgrab auf deren Existenz, aber das ist zu wenig angesichts der Tatsache, dass ihre Namen mittlerweile historisch erforscht sind. Geben wir diesen Menschen, diesen Seelen ihre Würde zurück, indem wir einen Grabstein schaffen, der ihre Namen trägt. Dann kann es nicht mehr passieren, dass mich ein Friedhofsbeamter auf die Frage nach besagtem Massengrab zu jenem der Widerstandskämpfer des Naziregimes schickt. Das Massengrab für die jüdischen Zwangsarbeiter, das nur wenige Hundert Meter von seinem Büro liegt, ist ihm unbekannt. Jenes der Widerstandskämpfer aber kennt er, weil die Opfer einen Namen tragen, und weil es die Friedhofsverwaltung, die Stadt St. Pölten pflegt und erhält. Diese Selbstverständlichkeit schulden wir allen, die Opfer desselben Terrorregimes geworden sind.
Viktor Frankl, der Auschwitz überlebte, hat über die vernichtende Systematik der Namenlosigkeit und die Reduzierung auf eine Nummer im KZ geschrieben: „Das ‚Leben‘ der ‚Nummer‘ ist irrelevant. Was hinter dieser Nummer, was hinter diesem Leben steht, ist noch weniger erheblich: das Schicksal – die Geschichte – der Name eines Menschen.“ Lassen wir diese Auslöschung nicht zu, eingedenk des Wortes von Thomas Mann: „Die Seele ist ein Stück des Seins und der Seele“, denn mit einem hat Historiker Christoph Lind absolut recht. „Sich an die jüdischen Gemeinden wieder zu erinnern, an jeden einzelnen Menschen, diesem wieder einen Namen, eine Geschichte zu geben – das empfinde ich als Sieg über die Nazis!“ Diesen Sieg dürfen wir nicht auslassen, nein – müssen ihn wahrnehmen. Er ist eine moralische Verpflichtung gegenüber unseren ermordeten Mitbürgern und all jenen Holocaust-Opfern, die in St. Pöltner Erde ruhen.
Das offizielle St. Pölten versucht seine historische Pflicht wahrzunehmen – die aktuelle, von der so wichtigen Martha Keil vom Institut für jüdische Geschichte Österreichs kuratierte Ausstellung über „100 Jahre Synagoge“ im Stadtmuseum belegt dies. Und doch wünscht man sich als Bürger noch mehr Nachdruck, mehr uneingeschränktes Bekenntnis in Form einer nachhaltigen Pflegevereinbarung mit der IKG Wien über die Betreuung der jüdischen Friedhöfe – für jenen in der Karlstettner Straße ebenso wie für den ehemaligen am Pernerstorferplatz. Dessen Grabsteine kamen nach der Arisierung unter der „Obhut“ der damaligen Friedhofsverwaltung „abhanden“, damit auch die Namen der Toten, die aber bekannt sind. Diese wieder sichtbar zu machen ist eine historische Bringschuld gegenüber unseren ehemaligen Mitbürgern. Da es keine Verwandten mehr gibt, weil sie ermordet oder vertrieben wurden, sind wir Nachgeborene deren nächste Angehörige. Ebenso betrifft dies die Nennung jener 223 jüdischen Zwangsarbeiter, die auf ihrem Todesmarsch nach Mauthausen in Hofamt/Priel im April 1945 erschossen und im Anschluss in einem Massengrab in St. Pölten verscharrt wurden. Heute verweist ein Gedenkstein am desolaten Schachtgrab auf deren Existenz, aber das ist zu wenig angesichts der Tatsache, dass ihre Namen mittlerweile historisch erforscht sind. Geben wir diesen Menschen, diesen Seelen ihre Würde zurück, indem wir einen Grabstein schaffen, der ihre Namen trägt. Dann kann es nicht mehr passieren, dass mich ein Friedhofsbeamter auf die Frage nach besagtem Massengrab zu jenem der Widerstandskämpfer des Naziregimes schickt. Das Massengrab für die jüdischen Zwangsarbeiter, das nur wenige Hundert Meter von seinem Büro liegt, ist ihm unbekannt. Jenes der Widerstandskämpfer aber kennt er, weil die Opfer einen Namen tragen, und weil es die Friedhofsverwaltung, die Stadt St. Pölten pflegt und erhält. Diese Selbstverständlichkeit schulden wir allen, die Opfer desselben Terrorregimes geworden sind.
Viktor Frankl, der Auschwitz überlebte, hat über die vernichtende Systematik der Namenlosigkeit und die Reduzierung auf eine Nummer im KZ geschrieben: „Das ‚Leben‘ der ‚Nummer‘ ist irrelevant. Was hinter dieser Nummer, was hinter diesem Leben steht, ist noch weniger erheblich: das Schicksal – die Geschichte – der Name eines Menschen.“ Lassen wir diese Auslöschung nicht zu, eingedenk des Wortes von Thomas Mann: „Die Seele ist ein Stück des Seins und der Seele“, denn mit einem hat Historiker Christoph Lind absolut recht. „Sich an die jüdischen Gemeinden wieder zu erinnern, an jeden einzelnen Menschen, diesem wieder einen Namen, eine Geschichte zu geben – das empfinde ich als Sieg über die Nazis!“ Diesen Sieg dürfen wir nicht auslassen, nein – müssen ihn wahrnehmen. Er ist eine moralische Verpflichtung gegenüber unseren ermordeten Mitbürgern und all jenen Holocaust-Opfern, die in St. Pöltner Erde ruhen.