MFG - Urbane Wachküsserinnen
Urbane Wachküsserinnen


MFG - Das Magazin
St. Pöltens gute Seite

Urbane Wachküsserinnen

Ausgabe 12/2012

Beim Streifzug durch die oft totgesagte St. Pöltner Innenstadt entdeckt man dieser Tage hinter den weihnachtlich geschmückten Auslagen beachtlich viele junge Frauen. Doch diese Damen sind nicht zum Shoppen „in der Stadt“, nein, sie haben eine viel größere Mission: Mit ihren jungen und innovativen Geschäftsideen küssen sie die City wach! Jung, innovativ, weiblich – und Unternehmerin.

Nackt durch die Fußgängerzone? Der durchschnittliche St. Pöltner scheint davon überzeugt, dass seine barocke Fußgänger-Innenstadt sowieso ausstirbt, dass es dort nur Schuhgeschäfte gibt und dass man spätestens nach der Kaffeejausenzeit nackt durch die City laufen kann – weil einen eh keiner dabei sieht. Ganz generell, so meint man oft, würden die Mega-Einkaufsparks an den städtischen Randlagen die jahrhundertealten Stadtkerne umbringen. Unterstützt wurde dieses Stimmungsbild lange Zeit von den jährlich durchgeführten Messungen der Besucherfrequenz. Konkrete Zahlen: Die Wochenfrequenz ging von rund 90.000 Menschen im Jahr 2000 auf bescheidene 61.000 im Jahr 2006 bergab. Doch damit war das Tal der Tränen durchschritten, 97.496 Personen zählte man an der Ecke Kremsergasse/Domgasse im Jahr 2011. Zum Nacktspaziergang braucht man also wohl doch einen gewissen Drang zum Exhibitionismus.
Auch Politik und Stadtverwaltung haben in den letzten Jahren Anstrengungen unternommen der Innenstadt wieder Sinn zu geben. Zentrale Idee dabei war die Gründung einer Plattform aus politischer Verwaltung und unabhängiger Wirtschaft. Aus diversen Experten- und Arbeitsgruppen entstand der städtische „Masterplan“ inklusive Vision für ein St. Pölten im Jahr 2020. Für die Innenstadt wurden die kurzen („fußläufigen“) Wege als große Stärke erkannt: Wer mal in der City ist, kann von dort in wenigen Minuten zu Fuß ausgesprochen viele „Hot Spots“ erreichen – von Kultur- und Freizeiteinrichtungen bis hin zu diversen Institutionen der Verwaltung (Rathaus, Regierungsviertel) und Gesundheitseinrichtungen (Krankenhaus, Ärztepraxen). Wichtig seien außerdem das Fördern von „Wohnen in der Stadt“, die Verschönerung der Wege und Plätze sowie das bereits umgesetzte 4-Stern-Hotel bei den Stadtsälen. Neben diesen großen Aufgaben wird auch mittels kleiner aber regelmäßiger Schritte gefeilt. Das Stadtmarketing wird professioneller, wie etwa anhand der zunehmend beliebten Innenstadt-Gutscheine oder themenbezogener Veranstaltungen, die die Innenstadt mit ihren Angeboten in Erinnerung rufen, ablesbar ist. Verteidigerin der Stadt
Doch zurück zu den Powerfrauen. Kerstin Selberherr (Bild S. 8) eröffnete im August 2011 in der St. Pöltner Innenstadt ihr erstes Geschäft – nach einem erfolgreichen ersten Jahr ist sie mittlerweile in die Wiener Straße umgezogen. Bei „IS THE NEW“ gibt es moderne Mode für Frauen, die Qualität und Trends schätzen. Was als „kuratiertes Einkaufen“ derzeit in aller Munde ist, gibt’s bei Selberherr ganz selbstverständlich: persönliche, individuelle Beratung. Dabei verschlug es die gebürtige St. Pöltnerin – wie so viele andere – für einige Jahre nach Wien, ehe sie St. Pölten aufs Neue lieben lernte und zurückzog. Die Sozialarbeiterin besuchte das Modekolleg und entschied nach einiger Zeit aus dem Hobby ihren neuen Beruf zu machen. „Die Idee ist richtig gereift, irgendwann war der Businessplan fertig und die Entscheidung fällig, wohin ich mit meinem Geschäft gehe. St. Pölten war dabei die erste Wahl – ich wollte nicht in Wien eine von 300 Boutiquen sein – und ich habe hier in den letzten Jahren einen unglaublichen Aufschwung gespürt. Wenn man mal aus St. Pölten weg war und zurückkommt, dann wird man schnell zur Verteidigerin der Stadt – mit 16 Jahren hätte ich das wahrscheinlich nie für möglich gehalten“, lacht Selberherr.
Mit ihrem kuratierten Shoppingangebot beginnt ihre Arbeit freilich schon bevor der erste Kunde den „concept store“ betritt: „Rund ein halbes Jahr bevor die Ware im Geschäft eintrifft, überlege ich mir bei jeder Kollektion genau, welche Teile ich anbieten möchte und was wie kombinierbar ist. Mittlerweile denke ich in dieser Planungsphase auch schon an meine Stammkunden und weiß ungefähr, was ankommen wird.“ Überrascht hat sie nach wenigen Öffnungsmonaten, dass sich als Hauptzielgruppe entgegen der ursprünglichen Planungen nicht Frauen ab 25 Jahren herauskristallisiert haben, sondern dass das Durchschnittsalter wohl bei 40 bis 45 Jahren liegt: „Viele ‚ältere’ Damen haben die junge Mode entdeckt und kommen regelmäßig. Sie kennen die Labels auch aus dem Internet oder aus diversen Klatschmagazinen.“ Jüngere Kundinnen seien schwierig zu erreichen, oft auch weil sie Designermode als „für sich zu teuer einschätzen“ – dabei starten Jeans bei IS THE NEW ab 50 Euro – für moderne, skandinavische Modelabels wohlgemerkt. Boutique Shopping
Und wie ist das jetzt als Chefin oder Unternehmerin? So kommt man ja nicht auf die Welt, oder? Kerstin Selberherr: „Es gibt vom Arbeitsmarktservice ein Gründerprogramm bei dem man in Gruppen- und Einzelcoachings Support bekommt – immer mit unterschiedlichem Wert, je nachdem wie viel man schon weiß bzw. wie sehr sich die Coaches mit der konkreten Geschäftsidee anfreunden können. Was dir niemand in den Kursen und Infomappen vermitteln kann, sind die Eigenheiten deines Geschäfts. Wenn ich Ware heute bezahlen muss und sie erst in sechs Monaten verkaufen kann, dann ist das spannend für die Liquidität. Und wenn du dich mal verkalkulierst, dann interessiert das die Leute bei der Sozialversicherung oder dem Finanzamt überhaupt nicht, da zahlt wohl jeder sein Lehrgeld. Gerade als junge Frau musst du auch darauf achten, dass dich die Geschäftspartner überhaupt mal als Kunden oder Geschäftsfrau wahrnehmen. Mit der Zeit wird man härter – oder sagen wir, es wächst dir ein nötiger Pelz. Auch so manche Kundin hat plötzlich ihren Ton geändert, als sie erkannt hat, dass ich die Eigentümerin bin – und nicht eine angestellte Verkäuferin – das ist schon interessant.“
Interessant findet sie auch die Entwicklung der St. Pöltner Innenstadt: „Ich sehe ja täglich beim Blick durch die Auslage raus auf die Wiener Straße, was hier los ist. Es ist toll, dass immer wieder neue, kleine Geschäfte aufsperren, die ganz eigene Angebote in die Stadt bringen. Das ist eine schöner Augleich zu großen Ketten und bringt der Stadt die nötige Urbanität und schafft gewaltig viel Flair.“ Und welchen Support gab es seitens der offiziellen Stellen für sie bzw. welche Wünsche hätte sie an diese? „Natürlich wäre es wichtig, wenn unnötige bürokratische Hürden abgebaut würden. Gerade für kleine, frisch aufgesperrte Geschäfte, wäre eine Mietförderung wichtig, um das beträchtliche Risiko etwas abzufedern – ich bin mir sicher, dass das noch mehr Dynamik brächte. Generell wird meines Wissens nach wenig bis nichts für Jungunternehmer geboten.“ Über Bücher reden
Ein paar Schritte weiter findet man in der Schreinergasse 5 die „Haupt-Buchhandlung“. Seit September hat sich Rebecca Haupt hier ihren Kindheitstraum erfüllt: die eigene Buchhandlung. Nach wenigen Augenblicken spürt der Kunde den besonderen Zugang, die Leidenschaft zur Literatur. Vordergründig ist man spezialisiert auf Reise- und Kinderliteratur, hintergründig merkt man rasch, dass die Chefin eine „Revoluzzerin“ ist, wie sie auch rasch im Gespräch erklärt: „Bei den großen Konzernen treten die Menschen – Mitarbeiter und Kunden – in den Hintergrund. Ich wollte als Unternehmerin da bewusst dagegen antreten und etwas machen, bei dem auch mein persönliches Interesse an der Psyche des Menschen mitschwingt: Menschen sollen hier über Bücher reden! Kinder sollen die Bücher im Geschäft ohne schiefe Blicke angreifen können, sie sollen hier spielen können, man soll sich wie im Wohnzimmer fühlen. Das ist die Grundidee!“
Nach etlichen Jahren als Angestellte war dann heuer die Zeit reif und Haupt entschied sich für das Unternehmertum: „Ich ging durch die Innenstadt, hab mir angeschaut, wo Geschäfte und Menschen sind, wo was leer steht, und dann ging in nur zehn Tagen alles sehr rasch. Ein Geschäftslokal steht und fällt mit einem tollen Vermieter – und da habe ich großes Glück.“ Auch ihre Persönlichkeit hat ihr beim Weg in die Selbständigkeit geholfen: „Ich bin eine bestimmende Person, ich weiß, was ich will, das hat mir bei der Planung sehr geholfen. Aber es erschreckt nach wie vor viele Männer – das ist wohl ein ewiger Kampf“, lacht Rebecca Haupt und zündet sich eine Zigarette an. „Wieso sollte ich nicht in meiner Buchhandlung rauchen? Das gönne ich mir – und auch meinen Kunden.“ Für St. Pölten wünscht sich die Jungunternehmerin mehr Kultur: „Es gibt enormes Potential bei Kultur und Kunst! Aber die Verantwortlichen stempeln die Bevölkerung oft ab und glauben, dass die eh nur an Bierfesten interessiert sind.“ Haupt will auch an konkreten Projekten mitwirken, beispielsweise an einer Lesung aller Geschäftslokale in der Schreinergasse: „Es wäre doch toll, wenn jeder aus einem Buch vorliest, das irgendwie mit seinem Geschäft zu tun hat.“ Man lernt sich kennen, vernetzt sich und zeigt den St. Pöltnern, was ihre Innenstadt zu bieten hat. Plauscherl beim Einkauf
Beispielsweise Elvira Bachinger und Merle Weber – zwei junge Sozialarbeiterinnen, die im Oktober vis-a-vis von Haupts Haupt-Buchhandlung ihren eigenen Laden in der Schreinergasse 4 aufgesperrt haben. Bei „gut ding“ gibt es nur Dinge, die folgende Prädikate erfüllen: bio, fair, regional und nicht zuletzt auch sozial nachhaltig. Die beiden kennen sich seit Jahren und sind nunmehr nach einer einjährigen Vorbereitungsphase mit einer Art Bio-Greißlerei am Start. „Den Betriebstyp ‚Gemischtwarenhandel’ gibt’s zwar offiziell nicht mehr, aber das würde "gut ding" wohl am besten beschreiben. Wir haben neben Lebensmitteln auch Biogewand – auch für Kinder. Dabei hat eigentlich erst die Größe des Geschäftslokals zur überraschend großen Produktvielfalt geführt“, wie Merle Weber erzählt. „In unserem Bekannten- und Freundeskreis gibt es zahlreiche Produzenten, darum haben wir eine überraschend große Auswahl an Produkten, zu denen wir den Kunden eine ganze genaue Geschichte erzählen können. Wir wissen, dass dies hier im Mühlviertel gewebt wurde, oder woher diese Rosenseife kommt“, ergänzt Elvira Bachinger. Wer bei „gut ding“ einkauft, wird beispielsweise keine Produkte finden, die in Plastik verpackt sind, was bei manchen Produkten wie zum Beispiel Waschmittel gar nicht so einfach ist. Auch die Geschäftsausstattung steht für echte Nachhaltigkeit. Sowohl aus budgetären Gründen als auch aus Überzeugung wurde auf gebrauchte Einrichtung geachtet, der Verkaufstresen ist beispielsweise ein ehemaliger Altar einer evangelischen Kirche, die Kühlvitrine für die Milchprodukte wurde von einem anderen St. Pöltner Biobetrieb übernommen: „Wir sind ja auch eine Ergänzung, keine Konkurrenz.“
Das Potenzial von „gut ding“ sehen die Chefinnen im zwischenmenschlichen Umgang: „Die Menschen wollen über ihren täglichen Einkauf Bescheid wissen. Wir selbst wollen wissen, wie es unseren Lieferanten geht, woher die Produkte kommen“, erklärt Weber den Unterschied zu klassischen Einzelhandelskonzepten. Und welchen Support haben sie bei der Gründung erfahren bzw. welche Wünsche gäbe es an die Politik und Verwaltung? „Gerade beim Start wären Förderungen hilfreich, beispielsweise auf die Miete, um das Risiko in der Anfangsphase zu reduzieren. Auch den oft genannten ‚one stop shop’ für Unternehmer gibt’s nicht, das wäre aber wirklich eine große Hilfe und würde sich sicher auch rentieren“, antworten die Jungunternehmerinnen – und springen auf, um die nächste Kundschaft zu bedienen.
Wer also mit offenen Augen durch die St. Pöltner Innenstadt geht, entdeckt an allen Ecken und Enden urbane Geschäftsideen, eine kritische Masse scheint greifbar. Vergessen wir also das Image vom gierigen Hausbesitzer und den endlos leeren Auslagen. Denn zum ersten Mal seit Jahren ist beispielsweise in der Schreinergasse kein einziges Geschäftslokal frei! Dank mutiger Frauen, die uns ein sympathisches Bild vom Unternehmertum zeichnen und die unseren Besuch mehr als verdienen.