MFG - Historische Aufarbeitung gefragt
Historische Aufarbeitung gefragt


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St. Pöltens gute Seite

Historische Aufarbeitung gefragt

Text Andreas Reichebner
Ausgabe 03/2022

Mit dem Erinnern und einer ehrlichen, kritischen Auseinandersetzung gegenüber historisch belasteten Ereignissen und Personen hat man sich hierzulande immer schon schwergetan. Immer wieder gelangen Gedenktafeln, Straßen- oder Platznamen, die einem thematischen Diskurs dringend bedürfen, ans Licht einer breiteren Öffentlichkeit. Nicht zuletzt durch die Ernennung des ehemaligen Texingtaler Bürgermeisters Gerhard Karner zum Innenminister. Dadurch rückte die Debatte um das dortige Dollfuß-Museum wieder in den Fokus, aber auch an anderen Orten ploppen kontinuierlich problematische Erinnerungsstücke auf.


Es ist nicht nur ein österreichisches Thema, es zieht sich durch den gesamten deutschen Sprachraum, und es geht auch nicht nur um Menschen mit NS-Vergangenheit, sondern auch um jene Leute, die Nationalsozialismus und Faschismus geistig vorbereiteten. Man hat sich früher relativ wenig damit beschäftigt, erst in den letzten Jahren wird das Thema verstärkt beleuchtet“, weiß  Christian  Rapp, wissenschaftlicher Leiter des Hauses der Geschichte in St. Pölten. 
In Wien, wo man bereits in den 90er-Jahren den Ottokar Kernstockplatz umbenannte, entbrannte gerade wieder eine Debatte um das Karl Lueger-Denkmal, in der von Kontextualisierung bis zum Abriss alles im Raum steht. Rund um das Geburtshaus von Engelbert Dollfuß und dem darin enthaltenen Museum ist jetzt in Niederösterreich an einigen Orten, in einigen Gemeinden ebenfalls der Diskussionsbedarf gestiegen. So hat ÖVP-Bürgermeister Martin Leonhardsberger aus Mank einen mündlichen Auftrag an Alexander Hauer und seinen Verein „MERKwürdig – Zeithistorisches Zentrum Melk“ erteilt, um die historische Aufarbeitung des in Mank befindlichen Dollfuß-Platzes zu ermöglichen. Hauer sieht das nun eingereichte Forschungsprojekt, das vor allem die Überarbeitung des Dollfuß-Museums im zentralen Blickpunkt hat, „als generelles, zeithistorisches Konzept für das ganze Alpenvorland.“ Darin sollen auch Überlegungen zum Dollfuß-Platz in Mank miteinbezogen werden. „Aber derzeit ist nicht angedacht, den Platz umzubenennen“, so Leonhardsberger, „schließlich ist dieser Platz mit einer historischen Begebenheit in Verbindung zu bringen. Hier hat Dollfuß eine soziale Errungenschaft, die Pflichtversicherung für die Landarbeiter verkündet und stand einer wütenden Bauernschaft gegenüber. Dollfuß war ein über die Partei­grenzen hinaus anerkannter Agrarpolitiker.“ Und hier offenbart sich die Crux der rückblickenden historischen Betrachtungs- und Interpretationsweisen. Dollfuß als sozialer Agrarpolitiker oder als Politiker, der Parlament und Demokratie ausschaltete, Standrecht und Todesstrafe einführte und auf die Bevölkerung schießen ließ? Wie sehr kann man Gut und Böse einer historischen Person gegeneinander aufwiegen? Ein Problem, das auch in Wien rund um Lueger diskutiert wird.

Ein willentlicher Akt
„Die Benennung des Platzes in Mank wurde nach 1945 vorgenommen. Es gibt also keine historische Kontinuität für die Benennung und egal wie großartig Dollfuß als Agrarpolitiker war, seine spätere Rolle als diktatorisch regierender Herrscher kann man nicht ausblenden“, so Rapp, der sich einen objektiven Kriterienkatalog wünschen würde, der österreichweit Gültigkeit hat. Indem man, basierend „auf dem Menschenrechtskatalog“ nachvollziehbare und transparente Kriterien erstellt und auch gewährleistet, wie ein derartiger Prozess objektiv ablaufen kann. Mit diesen Vorgaben könnte man die Gemeinden unterstützen, um nachvollziehbare Entscheidungen zu treffen. „Straßen- oder Platznamen sind kollektives Eigentum, nicht ausschließlich Sache von Gemeinden. Leute kommen von überall her und wir wären ja auch verwundert als Österreicher, wenn wir irgendwo in Italien auf einen Mussolini-Platz stoßen würden.“
Verständnis hat der Historiker des Hauses der Geschichte aber auch für manche Reaktionen aus der Bevölkerung, wenn es darum geht, Straßen- und Platznamen umzubenennen. „Leute haben das Gefühl, da wird über ihre Köpfe hinweg entschieden.“ Information und Einbinden der lokalen Bevölkerung sei dabei sehr wichtig, dann gibt es auch Einverständnis. „Viele Menschen wollen nicht, dass ihre Wohnadresse mit einer historisch belasteten Person in Verbindung gebracht wird.“
Die Gemeinden Texingtal und Mank warten also nun auf die zeithistorische Aufarbeitung. Obwohl das Dollfuß-Museum während der eineinhalb- bis zweijährigen Dauer des Forschungsprojektes des Vereins „MERKwürdig“ geschlossen sein wird, steht bis dato kein diesbezüglicher Vermerk auf der Website der Gemeinde – dort wird es nach wie vor als Sehenswürdigkeit angepriesen. Und auch in Mank gibt es keine temporäre, über die Bearbeitung des Themas informierende Hinweistafel. Der Manker Bürgermeister verweist hier auf die Möglichkeit, sich ohnedies im Internet über die Debatte zu informieren. Transparenz und Wille zu neuen Sichtweisen und ernster Auseinandersetzung könnten anders aussehen.

Andere Wege
Da ging man in Petzenkirchen andere Wege. Nachdem durch den Film „Endphase“ (siehe Kasten Seite 19) von Tobias und Hans Hochstöger auch die Person des ehemaligen Gemeindearztes Fritz Sedlazeck geschichtlich in Frage gestellt wurde, benannte der Gemeinderat in der Sitzung am 24. Februar den Fritz Sedlazeck-Platz einstimmig zum „Schulplatz“ um. „Als kleines Kind kannte ich Sedlazeck als ausgezeichneten Gemeindearzt, er hatte auch ein Herz für die Schwachen. Aber nachdem wir die Informationen hatten, dass er ein illegaler Nazi war und auch seine Rolle bei den Gräueltaten in Hofamt Priel bekannt waren, haben wir uns zur Umbenennung entschlossen“, erzählt Bürgermeisterin Lisbeth Kern. Obwohl es viele lokale Stimmen gab, die das nicht verstanden. „Ich habe auch viele Drohungen von außen erhalten, warum der Platz eigentlich so heißt“, so Kern, die nun hofft, dass sich die Wogen der Aufregung nun endgültig glätten. 
Dies zeigt auch die oft verhärteten Positionen der verschiedenen Lager, aber auch die Schwierigkeit, historische Personen im zeitgeschichtlichen Kontext auf ihr Gut und Böse zu betrachten. „Es braucht objektive Richtlinien, wonach die verschiedenen Fälle zu beurteilen sind. Es gehört geforscht und debattiert. Und wenn eine in einem Straßennamen gewürdigte Person Wertehaltungen vertreten hat, die unseren ganz offensichtlich zuwiderlaufen, dann muss man eingreifen können“, so Christian Rapp.

Wissenschaft gefragt
Hier ist die Wissenschaft gefragt, die aber letztendlich nur Empfehlungen geben kann, die Umsetzung erwartbarer Maßnahmen muss durch die Gemeinden fallen. Das noch viel getan werden muss, sieht auch Alexander Hauer: „Wir sehen ja bei Dollfuß, dass etwa der Austrofaschismus nicht ausreichend in den Schulbüchern vorkommt, da ist die Erzählung zu kurz.“ Und in vielen Gemeinden schlummern nach wie vor bedenkliche Tafeln oder Straßennamen vor sich hin. „In Kirnberg an der Mank befinden sich zum Beispiel Dollfuß-Gedenktafeln am Kriegerdenkmal und am Haus der Jugend, oder wenn wir an die Dr. Otto Tschadekstraße oder die Frass-Skulpturen in St. Pölten denken“, bringt Christian Rabl, der wissenschaftliche Leiter des Zeithistorischen Zentrums von „MERKwürdig“, ins Spiel. 
Während die Skulpturen und Denkmäler des St. Pöltner Bildhauers Wilhelm Frass, wie etwa das Kriegerdenkmal in der Hofstatt, schon länger in der Landeshauptstadt diskutiert werden (MFG berichtete unter anderem in der Ausgabe 9/2020), sind Namen wie Dr. Otto Tschadek oder Dr. Leo Schinnerl noch nicht so lange im historischen Diskurs. Wie im hervorragenden Buch „St. Pöltner Straßennamen erzählen“ des im vorigen Sommer verstorbenen St. Pöltner Autors und Historikers Manfred Wieninger nachzulesen ist, sind beide geschichtlich erheblich vorbelastet. Tschadek war als Blutrichter im NS-Regime für exekutierte Todesstrafen verantwortlich und Schinnerl agierte als „Judenbeauftragter“ der Stadt im Bereich der Arisierungen jüdischen Eigentums. Frass ist seit Auftauchen eines von ihm verfassten Huldigungsschreibens an den Nationalsozialismus, das er im Denkmal des toten Soldaten in der Krypta am Wiener Heldenplatz verbarg, auf der Liste bedenklicher Persönlichkeiten.  

Schon überfällig
„Schon als lange überfällig“ sieht Stadtmuseumsdirektor und Kunsthistoriker Thomas Pulle „die umfassende wissenschaftliche Forschung zu diesem Thema“ und die daraus gezogenen Schlüsse. Anlässlich der großen NS-Ausstellung 2024 im Stadtmuseum werden in „einer konkordanten Aktion“ auch historisch belastete Straßennamen und Personen aufgearbeitet. Zurzeit steht man im intensiven Kontakt mit „Kunst im öffentlichen Raum“, dabei werden mögliche künstlerische Interventionen, die Denkmäler und Skulpturen in einen neuen Kontext stellen könnten, überlegt. „Wir werden keine problematischen Kunstwerke oder Straßennamen unkommentiert lassen“, so Pulle. Die Zeit einer qualitätsvollen Erforschung will man dafür nützen, um möglichst alle zweifelhaften Biografien durchzuforsten und jener Personen, deren Verhalten und Wertekanon den zeitgemäßen, ethischen Ansprüchen nicht mehr standhalten, habhaft zu werden. Ob Ergebnisse schon vorher in der Öffentlichkeit durch Namensänderungen, Zusatztafeln oder eben künstlerische Interventionen sichtbar gemacht werden, ist ungewiss. 
Beim Aufspüren historisch belasteter Erinnerungsstücke sind oft private Initiativen  tonangebend. Das mag einerseits mit der Möglichkeit, als privater Verein oder Personengruppe aktivistischer auftreten zu können, andererseits mit den diesbezüglich jahrzehntelangen verschlossenen Augen österreichischer Politik und Gesellschaft zusammenhängen. Da bleibt noch viel zu tun, nicht nur wenn es um widersprüchliche Personen wie Karl Biedermann geht, der illegales NSDAP-Mitglied war, aber später als Widerstandskämpfer versuchte, gegen Ende des Krieges den Kampf um Wien zu verkürzen. 
Ein objektiver Kriterienkatalog von der Wissenschaft erarbeitet, und eine Leitlinie, wie so ein Prozess der historischen Aufarbeitung österreichweit ablaufen könnte, wäre, ebenso wie der politische Wille zur vollständigen und ernsthaften Umsetzung, durchaus wünschenswert. Möglichkeiten, wie künstlerische Intervention, Abriss oder Kontextualisierung – Informationen zum historischen Kontext – stehen ohnedies zur Verfügung, ebenso wie die Umbenennung. Eine gangbare Alternative wäre es, im besonderen Maße verdiente Frauen als Namensgeber zu nominieren. Denn Frauen sind bei Straßenbenennungen unterrepräsentiert, hier herrscht im Sinne einer Gleichstellung ohnehin extremer Nachholbedarf.