Chicken
Text
Althea Müller
Ausgabe
Ich mag den Werbespot gern, in dem eine tanzende Eintagsfliege gezeigt und die Frage gestellt wird, wie es wohl wäre, wenn wir Menschen unser Leben genauso genießen würden wie dieses kurzlebige Insekt. Ich bin keine Sechs mehr und glaube nicht wirklich, dass eine Eintagsfliege unterm Limbo-Stecken durchflitzt und 24 Stunden lang Party feiert, soviel hat mich der Biologieunterricht dann doch gelehrt. Aber die prinzipielle Frage ist schön. V. a. weil ich nun (ach und seufz) endgültig alt werde, sprich: auf die 30 zugehe, und bereits (ach und seufz) einige Phasen des Wahnsinns durchlebt habe anstatt ein gutes Leben zu führen. Metal-Exzess im tiefsten Floridsdorf, Tequila-Vernichtung unterm Schutzmantel der berühmten drei Akkorde, beinah ruinöse Einkaufssucht, gnadenlose Selbstverstümmelungsmania und weitere gar hässliche Kapitel sind gnädigerweise an mir vorübergegangen, ohne mich um- oder ins Gefängnis zu bringen, und wenn ich so drüber nachdenke, kommt mir diese Fliegen-Werbung gerade recht. Was also wäre, wenn der Mensch es schaffen würde, jeden Tag so zu leben, als ob es der letzte wäre? Was würde ich machen, wenn ich wüsste, dass ich morgen sterben muss? „Du würdest mich hoffentlich anrufen“, meint my best friend Sil lapidar, „schließlich schuldest du mir noch Kohle. Und jetzt hör auf mit dieser Hirnwixerei, mir wird schon schlecht vor lauter peinlich berührtem Augenverdrehen!“ Aber ich will nicht aufhören. Lieber setze ich mich vor meine Vase und schaue den Zweigen beim Aufblühen zu: abgerissen und verschleppt und trotzdem lebensfähig. „Von denen kriegst du auch keine Antwort auf deine großen Fragen“, faucht Sil entnervt. Ausnahmsweise aber glaube ich, dass sie unrecht hat.