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St. Pöltens gute Seite

Blick in den Schatten

Text Thomas Lösch , Thomas Pulle
Ausgabe 06/2024

Am 13. Juni eröffnet im Stadtmuseum St. Pölten in Kooperation mit dem Festival Tangente die neue Ausstellung „Blick in den Schatten. St. Pölten und der Nationalsozialismus“. Das Kuratorenteam Thomas Pulle und Thomas Lösch liefern Details zum Inhalt.


Wenn man sich mit der Geschichte des Nationalsozialismus in dieser Stadt näher beschäftigt, ist sofort zu sehen, dass dieses Thema einen weit größeren Zeitabschnitt als jenen von 1938-1945 umfasst. Die erste nationalsozialistische Partei saß bereits 1919 im St. Pöltner Gemeinderat und verließ diesen bis zum Verbot der NSDAP im Juni 1933 nicht. Schon im Oktober 1920 machte Adolf Hitler auf seiner ersten Österreich-Tour in St. Pölten halt, wo er in den Stadtsälen sowie im Grandhotel Pittner eine Rede hielt. Ab 1922 erschien der „St. Pöltner Beobachter“, der aggressiv gegenüber den politischen Gegnern auftrat und vor allem einem aggressiven Antisemitismus frönte. Der Antisemitismus hielt in der Stadt schon weitaus früher Einzug und ist stark mit der katholischen Kirche und ihrem Presseorgan, der St. Pöltner Zeitung, verbunden. Exemplarisch für viele andere Priester kann hier der rabiat antisemitische St. Pöltner Kleriker Johannes Fahrngruber erwähnt werden.  Dieser Aspekt seiner Biografie bleibt bis heute weitgehend unbeachtet. In die Geschichte eingegangen ist er in erster Linie als Gründer des St. Pöltner Diözesanmuseums. 
Ähnlich verhält es sich mit dem St. Pöltner Baumeister und christlich-sozialen Politiker Johann Wohlmayer.  Die von ihm Anfang des 20. Jahrhunderts herausgegebene Zeitung führte den Untertitel „Antisemitisches Organ der Christlichsozialen in St. Pölten für das gesamte christliche Volk“. 
An der Schwelle vom 19. zum 20. Jahrhundert wurde in so gut wie allen bürgerlichen Vereinen jüdischen Mitbürger:Innen die Mitgliedschaft verwehrt. So blieb ihnen nichts anderes übrig, als eigene Vereine zu gründen, wollten sie nicht bei Vereinen im sozialdemokratischen Umfeld Mitglied werden. Doch auch die Sozialdemokratie war nicht vor Antisemitismus gefeit. Deren Antisemitismus galt vorrangig den „jüdischen Großkapitalisten“.
Trotz dieses von Antisemitismus geprägten Klimas existierte in der Stadt eine selbstbewusste jüdische Gemeinde. Kurz vor Ausbruch des ersten Weltkriegs, am 17. August 1913, wurde die im Jugendstil neuerbaute Synagoge unter den Klängen der Kaiser-Hymne feierlich eingeweiht. Zahlreiche jüdische Vereine zeugen besonders in der Zwischenkriegszeit von der Selbstbehauptung der Mitglieder der IKG-St. Pölten.
Nach dem Zusammenbruch der Monarchie wurde Antisemitismus von der politischen Rechten immer mehr im Kampf gegen den politischen Gegner ins Spiel gebracht. So bezeichnete der aus St. Pölten stammende Nationalratsabgeordnete Julius Raab den Sozialdemokraten Otto Bauer in einer Parlamentssitzung im Jahre 1930 als „frechen Saujud“. Mit der Ausschaltung des Parlaments im März 1933 und spätestens nach dem Verbot der Sozialdemokratischen Partei und all ihrer Organisationen in Folge des Februaraufstandes 1934 änderte sich das politische Klima radikal in der ehemals rot regierten Stadt. Viele von ihrer Partei enttäuschte Sozialdemokraten wurden Mitglieder der illegalen NSDAP, insbesondere der SA.
Dem austrofaschistischen Regime gelang es in keiner Weise die Arbeitslosenzahlen zu senken. Dieser Umstand trug ebenfalls zur Attraktivität des sich in Deutschland an der Macht befindlichen NS-Systems bei. Untrennbar mit der NSDAP in St. Pölten ist der Name Hugo Jury verbunden. Der Lungenfacharzt trat 1931 der NSDAP in der Stadt bei und wurde 1932 in den Gemeinderat gewählt. In der Verbotszeit zwischen 1933 und 1938 saß er mehrmals im Gefängnis. Nach dem „Anschluss“ 1938 wurde Hugo Jury Gauleiter von Niederdonau. Einige illegale Nationalsozialisten aus St. Pölten gingen nach Deutschland und traten dort in die „Österreichische Legion“, einem paramilitärischen Verband ein.
Die Nationalsozialistische Machtübernahme in St. Pölten gestaltete sich weitgehend unspektakulär. Am Abend des 11. März 1938 übernahmen die nun nicht mehr illegalen Nationalsozialisten das Rathaus und die übrigen Schaltstellen in der Stadt, ohne dabei auf den geringsten Widerstand zu stoßen. Es wurden sofort zahlreiche Verhaftungen von politischen Gegnern, in erster Linie von austrofaschistischen Funktionären durchgeführt. 

Am 14. Juni 1938 machte Adolf Hitler auf seiner Fahrt von Linz nach Wien im Grandhotel Pittner zum Mittagessen halt. Tausende St. Pöltner:Innen  warteten am Straßenrand, um ihr Idol leibhaftig sehen zu können. Die einheimischen Polizisten hatten bereits ihre vorbereiteten Hakenkreuz-Armbinden über ihre österreichischen Uniformen übergestreift. Bei der Volksabstimmung über die Zugehörigkeit Österreichs zum Deutschen Reich am 10. April 1938 erstickte die Stadt beinahe in Hakenkreuzfahnen. Die Zustimmung lag auch in St. Pölten wie überall im Deutschen Reich bei über 99 Prozent. Allerdings ist hierbei zu bemerken, dass die Abstimmung keineswegs geheim ablief. Darüber hinaus waren sämtliche als politische Gegner angesehene Personen von vornherein von der Abstimmung ausgeschlossen. 
Jüdische St. Pöltner:Innen wurden ab der ersten Stunde von ihren Mitbürger:Innen drangsaliert und bestohlen. Im Zuge der Ereignisse um die Pogromnacht vom 9. November 1938, bei der auch die St. Pöltner Synagoge devastiert wurde, trachtete die jüdische Bevölkerung das Land zu verlassen. Wem dies nicht gelang, wurde zuerst aus St. Pölten nach Wien zwangsübersiedelt und danach in ein Konzentrationslager deportiert. Am 17. Oktober 1941 verkündete der NS-Oberbürgermeister Emmo Langer, dass St. Pölten nun „zigeuner- und judenfrei“ sei. Anfang 1938 lebten noch über 400 Personen jüdischen Glaubens in der Stadt.
In der Stadtverwaltung wurden zahlreiche Spitzenbeamte auf ihren Posten belassen. So der Magistratsdirektor Ottokar Kernstock und sein Stellvertreter Leo Schinnerl. Beide begannen ihre Karriere als Sozialdemokraten vor 1934 und blieben auch im Austrofaschismus in Amt und Würde. Der bekannte Stadtarchivar Karl Helleiner hätte ebenfalls trotz seiner politischen Vergangenheit als Leiter des Kulturamtes im Amt bleiben können. Da er sich aber nicht von seiner jüdischen Frau scheiden lassen wollte, musste er aufgrund des Gesetzes über das Berufsbeamtentum den Magistrat verlassen. Er wanderte mit seiner Familie nach Kanada aus und wurde zum Stammvater einer kanadischen Universitätslehrer-Dynastie.
Leo Schinnerl war sowohl für die „Arisierung“ jüdischen Eigentums als auch für dessen Restituierung nach 1945 an leitender Stelle zuständig. Er beerbte seinen im Krieg verschollenen Chef Kernstock und ging hochgeehrt als Magistratsdirekor in den Ruhestand. Bereits 1938 wurde der ehemalige Voith-Arbeiter Franz Hörhann durch den ehemaligen Lehrer Emmo Langer als Bürgermeister abgelöst. Emmo Langer war bereits von 1932 bis 1933 Nationalsozialistischer Landtagsabgeordneter in Niederösterreich.

Im Jahre 1938 wurden zahlreiche Umlandgemeinden eingemeindet und ein „Groß-St. Pölten“ geschaffen. Darüber hinaus wurde die Stadt zur Gau-Wirtschaftsstadt ernannt. Der Großteil der geplanten Bauvorhaben wurde aufgrund des Kriegsbeginns im September 1939 nicht verwirklicht.  In erster Linie wurden militärisch wichtige Objekte wie die Kaserne in Spratzern, der Truppenübungsplatz in Völtendorf sowie das  Flugfeld Markersdorf fertiggestellt.
Der Alltag in St. Pölten war wie überall im 3. Reich von einer Mischung aus Begeisterung, Mitläufertum und Repression geprägt. Diese Repression bekamen all jene zu spüren, die außerhalb der „Volksgemeinschaft“ standen. Dazu gehörten Personen, die aus rassischen Gründen verfolgt wurden, als behindert galten, als politische Gegner eingestuft wurden oder als „asozial“ galten. Diese Menschen wurden gnadenlos verfolgt und inhaftiert. Viele von ihnen mussten dieses „Nichtdazugehören“ mit dem Leben bezahlen. Geprägt war der Alltag auch von Zwangsarbeiter:Innen. Bis zu 4.000 Menschen mussten zeitgleich in der Stadt ihren Sklavendienst versehen. Neben den zahlreichen als „kriegswichtig“ eingestuften Betrieben verfügten auch das Krankenhaus, die Straßenbahn und viele Bauernhöfe über diese nach St. Pölten verschleppten Arbeitskräfte. Zahlreiche Zwangsarbeiter:innen, von denen der Großteil aus der ehemaligen Sowjetunion stammte, kamen aufgrund der schlechten Arbeitsbedingungen ums Leben. Besonders grausam war das Schicksal jener jüdischen Familien aus Ungarn, die ab 1944 zur Traisen-Regulierung eingesetzt wurden. Ihr Zwangsarbeitslager befand sich an jener Stelle, wo sich heute der große Viehofner See befindet. Kurz vor Kriegsende wurden sie in einem „Todesmarsch“ nach Mauthausen getrieben. Kaum eine Person erlebte das Kriegsende.

Zahlreiche Widerstandsgruppen in der Stadt formierten sich in den großen Betrieben St. Pöltens, wie der Voith, der Glanzstoff oder der Hauptwerkstätte der Eisenbahn. Die bekannteste ging unter dem Namen Kirchl-Trauttmansdoff in die Geschichtsbücher ein. Diese in erster Linie aus Polizeiangehörigen bestehende Gruppe plante einen Aufstand, um die Stadt kampflos an die Rote Armee zu übergeben. 13 Personen mussten ihren Mut mit dem Leben bezahlen. Daneben existierten auch Widerstandsgruppen bei der Post und der Eisenbahn. Neben hunderten Inhaftierten mussten über 50 Einwohner:innen unserer Stadt im Kampf gegen den Nationalsozialismus ihr Leben lassen. Am 15. April 1945 wurde St. Pölten nach kurzem Kampf von Truppen der Roten Armee befreit. Zu diesem Zeitpunkt befanden sich nur mehr wenige tausend Bewohner:innen in der Stadt. Die übrigen waren geflohen. Besonders Nationalsozialist:innen trachteten danach, sich in den Besatzungsbereich der westlichen Alliierten zu begeben. Dort erwarteten sie mehr Nachsicht als im sowjetischen Besatzungssektor. In St. Pölten wurde bis zum Kriegsende gekämpft, da deutsche Truppen immer wieder versuchten die Stadt zurückzuerobern. Besonders in St. Georgen und Spratzern gingen bei diesen Kämpfen noch zahlreiche Gebäude in Flammen auf. Neben zahlreichen Soldaten auf beiden Seiten kamen auch unbeteiligte Zivilisten bei diesen sinnlosen Kämpfen ums Leben. Nach dem Kriegsende mussten sich alle Nationalsozialist:innen registrieren lassen. In St. Pölten waren dies über 2.500 Personen. Die Registrierung bedeutete den Verlust des aktiven und passiven Wahlrechts. Viele von Ihnen verloren ihren Arbeitsplatz, wurden inhaftiert und vor Gericht gestellt. Da die Kapazität der St. Pöltner Gefangenenhäuser nicht ausreichte, wurde zumindest ein ehemaliges Zwangsarbeiterlager als Internierungslager für Nazis  verwendet. Zusätzlich zu den Haftstrafen gab es auch Verurteilungen zu finanziellen Sühneleistungen. So wurde der Kurzeit-Bürgermeister Hörhann, nachdem er über 3 Jahre inhaftiert war, zu 2,5 Jahren Zuchthaus verurteilt. Ab dem Jahre 1948 wurden die Strafmaßnahmen im Zuge der „Entnazifizierung“ mehrheitlich aufgehoben und Anfang der 1950er-Jahre bis auf einige Ausnahmen ganz. Die ehemaligen Nazis waren wieder in die Gesellschaft integriert.

„Blick in den Schatten. St. Pölten und der Nationalsozialismus“
Ab 14. Juni, Stadtmuseum St. Pölten

Zu den Autoren
Thomas Lösch ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Stadtarchiv.
Thomas Pulle ist Leiter des Stadtmuseums St. Pölten.

WEITERE TIPPS
zum Schwerpunkt „Erinnerung“ im Rahmen der Tangente
+ An den Wochenenden 7.–9. und 14.–16. Juni finden in der Ehemaligen Synagoge im Zuge der „Jewish Weekends“ Vorträge, Lesungen, Konzerte, Filmvorführungen etc. statt. www.ehemalige-synagoge.at 
+ Im Zuge von „Let’s Make Herstory” werden am 15. Juni in der Bühne im Hof queere Ikonen und die Ballroom-Kultur, die sich in den 1980er- und 90er-Jahren von New York aus verbreitet hat, gefeiert. EatSlayLove und das Kiki House of Moonlight bringen Voguing nach St. Pölten! 
+ Von 27. bis 30. Juni rückt die Glanzstoff-Fabrik in den Fokus. So kann man am Gelände die immersive Installation „Wasteland. The Great Simplification“ erleben. „Wasteland ist ein Ort, an dem man sich verändert, sobald man ihn betritt.“ 27. Juni bis 30. Juni und 4. bis 7. Juli (jeweils 15.00 bis 22.00 Uhr). 
+ In der ehemaligen Turbinenhalle der Glanzstoff lädt die türkische Tänzerin und Choreografin Begüm Erciyas im Zuge von „Hands Made“ das Publikum ein, die eigenen Hände und die Vergangenheit und Zukunft der Handarbeit und des Tastsinns zu erkunden. 27. bis 30. Juni jeweils um 16.00 Uhr, 17.15 Uhr, 18.30 Uhr, 19.45 Uhr und 21.00 Uhr.
+ Für „X-Erinnerungen“ haben sich lokale und internationale Künstler:innen auf die Suche nach verborgenen Orten und Geschichten gemacht und Performances, Installationen und Theaterstücke dafür entwickelt, die man an drei Routen durch die Stadt in Zweier-Gruppen erkunden kann. 28. Juni (16.00 bis 20.30 Uhr), 29. und 30. Juni jeweils von 14.00 bis 18.30 Uhr. 
+ Am 27. und 28. Juni präsentiert der koreanische Theatermacher, Performer und Komponist Jaha Koo in der Bühne im Hof „Haribo Kimchi“, eine spannende Performance, in der sich eine Pojangmacha, ein typischer südkoreanischer Straßenimbiss, als imaginärer Ort unter dem Meer entpuppt, an dem sich mythische Gestalten und verlorene Meeresbewohner:innen treffen. 
+ Die mexikanische Künstlerin Mariana Castillo Deball beschäftigt sich in „Though Dead, I am Still Paper“ mit den archäologischen Funden auf dem Domplatz und schreibt sie künstlerisch fort (Eröffnung am 3. August).