MFG - Menschen(ge)recht
Menschen(ge)recht


MFG - Das Magazin
St. Pöltens gute Seite

Menschen(ge)recht

Text Tobias Zuser
Ausgabe 10/2007

Ein ganz normaler Tag. Mit dem Auto in die Stadt, schnell ein Rezept vom Arzt und im Handumdrehen die nötigen Besorgungen erledigen. Was man dabei so alles überwindet, weiß man gar nicht: die eine Stufe zum Geschäftseingang, die schwere Eisentür zur Toilette, das enge Stiegenhaus. Alles Routine. Doch, was für die einen unbewusste Schritte sind, das sind für einen beträchtlichen Teil der Bevölkerung bewusste Barrieren. Und von denen gibt es viele.

Josef Schoisengeyer und Heinz Haslinger, ihres Zeichens Vorstandsmitglieder des Club 81, setzen sich mittlerweile seit rund 26 Jahren für die Bedürfnisse von Behinderten in St. Pölten ein. Thema Nummer eins ist dabei nach wie vor die Barrierefreiheit, deren Forcierung sie in regelmäßigen Gesprächen mit Stadt und Land einfordern – mit schleichendem Erfolg. „Besonders in den letzten Jahren hat sich in der Stadt zwar einiges getan, angefangen beim Rathaus, der Aquacity bis hin zum Umbau des Stadtmuseums“, weiß Schoisengeyer zu berichten. Dennoch fänden sich in St. Pölten nach wie vor unzählige Hindernisse. Beispiele sind schnell gefunden: Etliche Geschäfte in der Kremsergasse sind nur über Stufen erreichbar, fast alle Lokale nur mit einfachen Toiletten ausgestattet (im „besten Fall“ befinden sich diese auch noch im Keller) und so manche Postämter mit Türen bestückt, die für Geh- und Sehbehinderte zu unüberwindbaren Barrieren werden. Umstände, die die Lebensqualität für Behinderte deutlich senken, werden sie dadurch vom gesellschaftlichen Leben doch schlichtweg ausgeschlossen. In Zeiten, in denen die Medien voll vom Thema „Integration“ sind, hört man davon eigentlich recht wenig.
Gleichgestellt?
Besonders prekär ist die Situation aber im Gesundheitsbereich. Schoisengeyer bringt es auf den Punkt: „Freie Arztwahl, ein Grundrecht in Österreich, gibt es für Behinderte in St. Pölten nicht!“ Wie das gemeint ist, wird bei einem Streifzug durch die City schnell deutlich: Dutzende Ärzte sind nach wie vor nur über liftlose Stiegenhäuser erreichbar, was zur Folge hat, dass einige, teils obligate Termine nur mit kostenpflichtiger Transporthilfe wahrgenommen werden können. Unnötige Belastung für den ohnehin schon geplagten Geldbeutel. Am schwersten haben es laut Club 81 aber die Frauen: Hier lassen sich die barrierenfreien Gynäkologen locker auf einer Hand abzählen. Verhandlungen mit den Ärztekammern, nur dann einen Kassenvertrag zu vergeben, wenn sich die Praxis in einem barrierenfreien Gebäude befindet, erwiesen sich bisher als wenig fruchtbar.
Dabei ist Österreich eigentlich auf dem besten Weg ein in dieser Hinsicht vorbildlicher Staat zu werden – zumindest auf dem Papier. Das Behindertengleichstellungsgesetz (BGStG), das seit Jänner 2006 Bestandteil der österreichischen Bundesverfassung ist, hat sich zum Ziel gesetzt „Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen zu beseitigen (...) und damit die gleichberechtigte Teilhabe (...) am Leben in der Gesellschaft (...) zu ermöglichen“. Geltung findet das Gesetz in der Verwaltung des Bundes sowie in privaten und wirtschaftlichen Rechtsverhältnissen (z.B. Verträgen). Die eigentliche Hauptforderung seitens der Betroffenen wurde damit aber nicht erfüllt: die Barrierefreiheit verpflichtend zu machen. Dies ist momentan nur bei öffentlichen Gebäuden der Fall und findet im Privatbereich, der auch Geschäfte, Lokale und Restaurants umfasst, kaum bis gar keine Anwendung.  Eine baldige Lösung wird vor allem durch einen Umstand verhindert: Im Gegensatz zu anderen europäischen Staaten gehört die Bauordnung in Österreich zum Kompetenzbereich der Bundesländer, was eine einheitliche Regelung schwierig macht. Im Zuge der Ausarbeitung des neuen BGStG konnte damals jedenfalls kein Konsens erreicht werden.
Österreichische Krankheit
Als Grundlage für ein barrierenfreies Bauen gilt die ÖNORM B1600, mit Hilfe derer es zu einer gesellschaftlichen Integration behinderter Menschen kommen sollte. Zwar haben einige Bundesländer Teile daraus in die Bauordnung übernommen, dennoch gilt die ÖNORM oft nur als Empfehlung und ist nicht immer verpflichtend. Bei neuen öffentlichen Gebäuden, sowie bei Umbauten und Generalsanierungen soll die ÖNORM aber bereits umgesetzt werden – jedoch mit einer wesentlichen Einschränkung: wenn „die Erfüllung der Forderungen keinen außerordentlich hohen Aufwand erfordert“. Somit gelten für private Bauten nach wie vor „Kann-Bestimmungen“ – in den Augen des Club 81 schlichtweg „eine typische österreichische Krankheit“, die der nötigen Integration und einem menschengerechteren Leben im Wege steht.
Auch im Freizeitsektor hat Österreich den europäischen Trend hin zum barrierefreien Tourismus deutlich verschlafen. „Dabei lässt sich gerade hier die Bauwirtschaft eine tolle Chance entgehen“, weiß Schoisengeyer. Neben den Behinderten gibt es in den nächsten Jahren immer mehr ältere Menschen, für die derartige Kriterien eine wichtige Rolle spielen könnten. In anderen Ländern wie Großbritannien hat diese demografische Entwicklung schon vor einiger Zeit zu einem klaren Umdenken geführt.
Kleine Erfolge
Ein weiterer  erschwerender Faktor ist das fehlende Bewusstsein in der Bevölkerung. Ein Gefühl für die Situation bekommt man meist nur dann, wenn man selbst betroffen oder ein Angehöriger ist. Erst in Gesprächen mit Behinderten offenbaren sich Barrieren, die man zuvor schlichtweg übersehen hat. So haben Sehbehinderte in St. Pölten desöfteren mit willkürlich gesetzten Blumenkisterln in der Fußgängerzone oder Verkehrsschildern in Augenhöhe zu kämpfen, was schon zu der ein oder anderen Verletzung geführt hat. Auch das Angebot an akustischen Ampeln, die Blinden und Sehschwachen ein sicheres und selbständiges Überqueren der Straße ermöglichen, steckt noch in den Kinderschuhen.
Dennoch kommt es hin und wieder auch zu Erfolgen. Ein Beispiel dafür ist der neue St. Pöltner Bahnhof. Hier wurde der Club 81 vorab in die Planung involviert und konnte rund 95% seiner Forderungen durchsetzen. „Hier hat die Zusammenarbeit bestens funktioniert“, bestätigt Schoisengeyer. So wurden etwa niedrigere Ticketautomaten und ein Rillenleitsystem für Sehbehinderte eingeplant – Vorrichtungen, die eigentlich schon zum Standard gehören. Bürgermeister Stadler: „An einer weitgehenden Barrierefreiheit in der Landeshauptstadt arbeiten wir mit Hochdruck. Laufende Gespräche zeigen, dass diese Aufgabe oberste Priorität genießt.“ Trotz guten Willens passieren hie und da aber dennoch kleine Fauxpas. So können zwar Amtswege dank des barrierenfreien Rathauses seit einiger Zeit fast problemlos bewältigt werden, das wunderschöne ebenerdige Behinderten-WC liegt jedoch hinter einer schweren, sich nach außen öffnenden Holztüre verborgen. „Ohne Hilfe können wir dort nicht hinein“, sind sich mehrere Betroffene einig.
Ein eigenes Thema für sich sind Randsteine und Gehsteigkanten, die in St. Pölten die Mobilität von Behinderten erheblich einschränken. Ohne Hilfe lässt sich der Großteil der Straßen gar nicht überqueren. Wird dann doch einmal ein Gehsteig abgeschrägt, stößt man einige Meter weiter bereits auf den nächsten unüberwindbaren Randstein. Auch hier mangelt es scheinbar oft noch an Verständnis und Umsichtigkeit. „Momentan wird man in der Innenstadt richtig durchgeschüttelt – eine schmerzhafte Erfahrung für den Rücken eines jeden Rollstuhlfahrers“, meint ein Betroffener.
...lange Liste
Noch ist die Liste der Forderungen des Club 81 lang. Primäres Ziel ist der weitere Abbau von Barrieren bei öffentlichen Gebäuden: Noch immer sind etliche Schulen in St. Pölten alles andere als behindertengerecht. Hier besteht besonders beim Gymnasium in der Josefstraße und bei der Franz Jonas Volksschule dringender Handlungsbedarf.
Eine weitere große Baustelle in Sachen Barrierefreiheit findet sich im Zentrum: Der Knotenpunkt Europaplatz ist ob seiner hohen Gehsteigkanten für viele ein unüberwindbares Hindernis. Wobei Haslinger in dieser Sache unterstreicht: „Wir fordern in erster Linie kein behindertengerechteres Leben, sondern ein menschengerechteres.“ Denn viele dieser Forderungen betreffen genauso Alte sowie Mütter mit Kindern. Ein Punkt, der auch in die zukünftige Planung von Wohnungen Einzug finden soll. „Wohnungen sollten so gestaltet werden, dass sie im Bedarfsfall umgerüstet werden können, denn vor Unfall und Alter ist niemand gefeit.“ Während St. Pölten hier noch etwas nachhinkt, gäbe es in Ober-Grafendorf schon einige menschengerechte Bauten.
Im Vergleich zu anderen Landeshauptstädten sehen Josef Schoisengeyer und Dr. Heinz Haslinger St. Pölten allerdings im Mittelfeld. „Da sieht es in den meisten Ballungszentren leider kaum besser aus.“ Warum keine Vorreiterrolle übernehmen?
Club 81 
Der „Verein für Behinderte und Nichtbehinderte“ besteht seit 1981. Damaliges Gründungsmitglied war u.a. der derzeitige Obmann Josef Schoisengeyer. Mittlerweile zählt der Verein rund 350 Mitglieder und lädt wöchentlich zu Veranstaltungen ins Hippolythaus. Am 17.11. findet dort wieder der alljährliche Leopoldimarkt statt. Infos: www.club81.at
Laut Gesetz...  
gilt man in Österreich dann als behindert, wenn man „in einem lebenswichtigen sozialen Beziehungsfeld körperlich, geistig oder seelisch dauernd (...) beeinträchtigt“ ist. Damit ist der Behindertenbegriff ziemlich vage formuliert. Dies ist ein Mitgrund dafür, dass es keine genauen Zahlen über behinderte Menschen in Österreich gibt. Schätzungen zufolge machen Behinderte in der EU etwa 10% der Gesamtbevölkerung aus, von denen ungefähr die Hälfte an einer Bewegungsbeeinträchtigung leidet. Ein Behindertenausweis kann in Österreich nur zusammen mit einem amtsärztlichen Gutachten beantragt werden.