MFG - L‘Amour Toujours
L‘Amour Toujours


MFG - Das Magazin
St. Pöltens gute Seite

L‘Amour Toujours

Text Johannes Reichl
Ausgabe 06/2024
Wir leben in eigenartigen, möglicherweise gefährlicheren Zeiten, als wir uns selbst bewusst sind oder eingestehen möchten.
So ereilte mich unlängst der Anruf eines Redakteurs, wie man das denn jetzt am Frequency Festival in St. Pölten mit dem Auftritt von Gigi D’Agostino handhabe, weil ja auf Sylt und anderswo ein paar Neo-Nazis seinen Song „L’Amour Toujours“ (genau darum geht es in dem Lied, um Liebe) zum völkisch-ausländerfeindlichen Schlachtruf  „Deutschland, den Deutschen. Ausländer raus!“ verunglimpft hatten. Nachahmer (oder Vorgänger, wie Recherchen zeigten) poppten rasch auf, auch hierzulande grölten vornehmlich junge Ewiggestrige ausländerfeindliche Parolen. In einem sukzessive von der Extremrechten aufbereiteten, ja moralisch zusehendes erodierenden gesellschaftlichen Klima, „in dem man derlei jetzt wieder sagen darf“, ist diese ungenierte Öffentlichkeit eine besorgniserregende Entwicklung. Noch fataler scheint mir aber die Reaktion darauf zu sein. So beschloss etwa die Münchner Wiesn, dass am heurigen Oktoberfest der Song nicht gespielt werden darf. Auch bei der Fußball-Europameisterschaft wird das Lied, gern verwendeter Jubelklassiker im Stadion nach Torerfolgen, nicht erklingen. Diverse Clubs und Radiostationen haben L’Amour Toujours schon aus dem Programm genommen oder erwägen diesen Schritt zumindest. Wie bitte? Schon klar, bei den einen will man sich – teils unter dem Deckmantel geheuchelter moralischer Integrität – die image-, v. a. aber auch geschäftsschädigenden Brösel nicht antun. Grölende Nazis kommen nicht so gut. Im anderen Fall erleben wir aber auch so etwas wie die Quadratur des Kreises der Cancel Culture. Gestrichen wird nämlich nicht nur mehr, was in den Augen der Betrachter an sich politisch inkorrekt ist (ein Befund, der je nach Fall gerechtfertigt, überzogen oder völlig gaga sein kann), sondern hier wird ein Lied „gestanzt“, das selbst gar nicht „belastet“ ist, ja sogar die gegenteilige Botschaft verbreitet.
Wird damit aber das Problem gelöst? Mitnichten. Im Gegenteil wird es sogar in seiner Wirkung verstärkt, ja gar zur Einladung für weitere Tabubrüche. Denn wo führt es hin? Heute ist es „nur“ unser Song – doch was kommt morgen? Zugleich bewirkt das Canceln – um auf ein ganz anderes Beispiel zu kommen – dass die an sich notwendige Debatte gleich mitgecancelt wird. Ein „Otello“ etwa ohne schwarzen Hauptdarsteller, wie zuletzt in der Wiener Staatsoper erlebt, beraubt dem Stück die grundlegende Auseinandersetzung mit dem rassistischen Kontext. Das Thema kommt einfach nicht mehr plausibel vor, auch wenn ein Diskurs darüber bitter notwendig wäre. Wer den Diskurs aber nicht führt, wer ständig ausweicht, zurückweicht, klein beigibt, der bringt ihn am Ende des Tages zum Erliegen – und sich selbst zum Schweigen. Was bleibt, ist das immer lauter werdende Gegröle der Extremisten, die sich auf der Überholspur wähnen und zu Taten schreiten, weil sie keinen ernsthaften Widerstand spüren. Wie heißt es in einem Lied Herbert Grönemeyers über Rechtsextremismus: „Kein Millimeter nach rechts!“ Keinen Millimeter ins Nationalistische, ins Völkische, ins Menschenverachtende … ins Verderben. Denn wer nicht begreift, wohin uns diese schon einmal gescheiterten Ideologien aus der Mottenkiste der Geschichte führen, möge die aktuelle Ausstellung zur NS-Zeit im Stadtmuseum St. Pölten besuchen. Damals hat es lange vorher vielleicht auch nur mit dem Kapern und völkischem Verschandeln beliebter Melodien begonnen ... 
Und deshalb kann die Antwort auf die Frage nach dem Umgang mit L’Amour Toujours am Frequency Festival nur sein: Natürlich soll, nein muss Gigi den Song spielen. Und 50.000 Kids aus ganz Europa, welche Völkerverständigung, Toleranz, Respekt und Lebensfreude in diesem Moment erfahren, senden eine unmissverständliche Botschaft in die Welt hinaus, die alle kleinkarierten, chauvinistischen Nationalisten übertönt: Wir brauchen nicht Hass, nicht Hetze – wir brauchen L’Amour Toujours!