MFG - Kleine Großgeister
Kleine Großgeister


MFG - Das Magazin
St. Pöltens gute Seite

Kleine Großgeister

Text Johannes Reichl
Ausgabe 06/2010

Wenn man heute eine Reise unternimmt, dann nur mehr mit Navi. Ich etwa habe mich mittlerweile derart in die Abhängigkeit von den lustigen kleinen Reisebegleitern gebracht, dass ich ohne Navi befürchten müsste, in Novosibirsk zu landen, obwohl es eigentlich nach Amstetten geht. Aus dem Fahrtenbuch eines Chefredakteurs.

Ein Navi ist erst recht vonnöten, wenn man sich anschickt, in Niederösterreichs kleinste Gemeinde zu pilgern – habe ich zumindest bislang geglaubt. Denn ganz ehrlich – was assoziieren sie so ad hoc mit dem Terminus „kleinste Gemeinde“? Einöde? Abgeschiedenheit? Ein bisschen verschrobene, schrullige Eingeborene, deren kleine Welt irgendwo in den 60’ern (nicht dem progressiv aufbegehrenden Teil versteht sich) steckengeblieben ist? Deixfiguren in Trachtenjankern, karierten Hemden und verhaltensoriginellen Hüten auf dem Kopf oder zumindest einem schneidigen Raiffeisen-Quaxidress? Hochgeistige Stammtischrunden á la  „Oiso I wö den Göring“ – „A geh, Trottel, der haßt Gehring“. Viel Landschaft, wenig Zivilisation? Rauhe Winter und schwüle Sommer, mit Gelsenplage versteht sich? Jaja, man zimmert sich so seine kleinen Klischeebildchen als Pseudostädter – und dann das! Schon der Name der mit 92 Personen kleinsten Gemeinde des Landes macht uns gehörig einen Strich durch die Rechnung: Nix Hintertupfing. Nix Unterstinkenbrunn. Nix Schweinern oder Wosichnichteinmalmehrfuchsundhasegutenachtsagen. Sondern ein stolzes, geradezu mondänes Großhofen! Und mit der von mir oberflächlichem Schnösel angenommenen Abgeschiedenheit á la „Wo noch nie ein Mensch zuvor gewesen ist“, ist es auch nicht weit her. Zwar führt uns das Navi von St. Pölten aus über eine Stunde lang in den Bezirk Gänserndorf, der für mich das personifizierte Fleckchen österreichischer Ödnis schlechthin darstellt, aber irgendwie fährt man dann doch ganz flott auf der Autobahn dahin, bis man plötzlich in Breitensee herausgespült wird und draufkommt, dass man ja in Wien ist und – die vielleicht erschütterndste Erkenntnis dieser Reise – hier, nicht viel weiter entfernt als Brunn/Gebirge und staubereinigt wohl ebenso schnell erreichbar – ein IKEA steht! Und einen Sprung weiter, nicht weit vom großen  Wien liegt es – das kleine Großhofen.
Scharf rechts
Vorher muss man freilich noch eine Schikane, die selbst Routiniers wie Michael Schuhmacher in die Bredouille bringen würde, überleben. „Rechts abbiegen. Scharf rechts“, meint das Navi emotionslos, das hysterische „REEEEECCCHHHHTS, bist wahnsinnig, willst uns umbringen“ kommt dann hingegen von meinem Beifahrer, der uns schon im Acker liegen sieht. Wahrlich – so scharf rechts war eine Kurve noch nie in meinem Leben,  gefühlte 170 Grad mindestens! Im Anschluss tuckern wir (nach diesem Schock traut man sich nicht mehr schneller als 40km/h zu fahren) noch einige Minuten dahin, umgeben von Feldern, Feldern und – Feldern. Und da fällt es mir wie Schuppen von den Augen (denn nachdem man ja nur mehr aufs Navi vertraut und eine klassische Landkarte ein Fall für ewiggestrige Retrofreaks ist, weiß man von Topographie & Co. der Zieldestination genau nichts): Wir sind im Marchfeld! Captain Iglos Land! Hier gibt man ihm zwar – hohoho – all sein Gold nicht in Form von Fischstäbchen, dafür besteht sein großer Fang vorwiegend in grünem (Jung)Gemüse. Aber auch Zuckerrüben und Getreide spielen eine Rolle.
Großhofen selbst begrüßt uns neben dem obligatorischen Ortsschild mit einem kleinen, einigermaßen mehr Aufmerksamkeit erregenden grünen Hinweispfeil zur „Autoklinik“! Dabei handelt es sich um einen der wenigen angesiedelten Betriebe und – alsbald – auch um eine neue Tourismusattraktion. Denn der Besitzer Erich Müller hat seine private Sammlung von Oldtimern, alten Kutschen, historischen Kinderwägen, Kinderrollern etc. mit viel Liebe zum Detail ausgestellt und macht seinen Schatz ab 3. Juli der Öffentlichkeit zugänglich. Damit, das muss man selbst als eingefleischter Großhofner Patriot eingestehen, hat es sich aber auch schon wieder mit den Attraktionen des Ortes.
Wir zweigen von der Hauptstraße link ab und fahren einen langgezogenen Platz entlang, vorbei an der Kapelle und parken uns vorm Gemeindeamt ein. Ein kleiner, schlichter Klotz, der die wunderbare Eigenheit besitzt, dass er – im Übrigen gar nicht untypisch (endlich einmal ein Klischee erfüllt!) – mit der Feuerwehr zusammengewachsen ist. Das freilich ist – um ein regionales, sehenswertes Beispiel zu zitieren – bei weitem nicht so skurril wie die direkt in die Kirche (!) integrierte Raiffeisenbank in Innermanzing. Welch Symbolik! Die Kirche unterm Giebelkreuz!
Die Tafelrunde
Während wir auf den Bürgermeister warten, studieren wir das Messingschild beim Eingang. „Sprechstunden jeden Mittwoch 17.15 – 18.15“ Nicht gerade üppig „Aber die Bürger können im Bedarfsfall ins benachbarte Markgrafneusiedl fahren, wo der Amtsvorsteher auch für Großhofen zuständig ist “, erklärt Bürgermeister Georg Weichhand, der heraustritt. „Wenn Sprechstunde ist, heiz ich im Winter auch vorher ein“, entschuldigt er sich für die frostigen Temperaturen drinnen.
Weichhand wirkt bodenständig, sympathisch und er erfüllt zu meiner Freude ein weiteres meiner Kleinste-Gemeinde-Niederösterreich-Klischees: Er ist Landwirt! Er erfüllt es aber nur, um es gleich wieder zu widerlegen. „Bei uns gibt es gerade einmal noch vier Vollerwerbsbauern. Viele unserer Einwohner fahren nach Wien arbeiten – das Donauzentrum ist ja in 20 Minuten erreichbar, auch der Bus fährt vier, fünfmal am Tag hin.“ Abgeschieden von der Zivilisation – ein Fremdwort. Früher, erzählt Weichand, gab es noch fast ausschließlich Bauern im Dorf, auch Viehwirtschaft wurde betrieben, „aber das rentiert sich einfach nicht mehr.“ Heute kranke es prinzipiell am System. Die Arbeit der Bauern als solche werde nicht anerkannt, die Preise seien beschämend „Ohne Förderung ginge es gar nicht mehr. Dabei wäre jeder Landwirt froh, wenn er ehrlich für seine Arbeit bezahlt wird – aber so wird es immer als Subvention hingestellt“, ärgert er sich. Nicht zuletzt deshalb sei der Beruf auch nicht mehr attraktiv für den Nachwuchs. „Nach mir ist mit unserem Hof Feierabend. Mein Sohn ist Maurer, den interessiert das nicht.“
Wir setzen uns im Sitzungssaal zusammen. Der langgezogene, wuchtige Tisch mit den grünbezogenen Sesseln rundherum erinnert ein bisschen an die Tafelrunde – und so weit entfernt liegt man mit dem Vergleich gar nicht. „Wir sind insgesamt 13 Gemeinderäte. Sitzungen gibt es mindestens viermal im Jahr!“, so Weichhand. Dazwischen finden auch Vorstandssitzungen statt, und beim Rechnungsabschluss  gibt’s eine Extrasitzung.
Die politischen Verhältnisse sind – noch ein ländliches Klischee erfüllt, na geht ja doch – klar aufgeteilt: 10 ÖVP Mandataren stehen 3 SPÖ Mandatare gegenüber. „Eine Zeitlang gab es gar keine SPÖ, weil sich keiner aufstellen hat lassen“, erinnert sich Weichhand. Ob ihn das gefreut hätte? „Nein, jeder hat seine Aufgaben bei uns. Der Vize ist zum Beispiel auch Feuerwehrkommandant und Jagdpächter.“ Multifunktionäre also – in einer Kleingemeinde unumgänglich. Weichand selbst etwa ist nicht nur Bürgermeister, sondern seit 1992 auch Obmann des Fußballvereins Markgrafneusiedl, der in der zweiten Klasse Marchfeld kickt. „Das macht fast mehr Arbeit als für die Gemeinde“, lacht der Fußballnarr, der schon als kleiner Bub die Packeln für die Nachbargemeinde zerrissen hat und dort auch zur Schule ging. Und wieviel Arbeit macht die Gemeindearbeit aus? „Ich schätze so ca. 10 Stunden pro Woche“, rechnet Weichhand hoch. Dafür bekommt er ein Salär von 540 Euro/Monat – und bricht damit das Gesetz. „Vom Gesetz wären 16% eines Nationalratsalärs vorgeschrieben. Aber wenn ich das ausbezahlte, würde das über die Hälfte des Gemeindebudgets schlucken“, schüttelt er den Kopf und fordert eine Gesetzesnovelle!
Prinzipiell stiegen die Belastungen für die Bürgermeister sukzessive an. „Es wird immer mehr. Das kannst dir nur als Landwirt einteilen. Mit einem normalen Job wär das kaum vereinbar.“
Wo noch Idealismus existiert
Politisch aktiv ist Weichand seit 1982, da wurde er Gemeinderat. 2000 stieg er zum Vizebürgermeister auf, 2005 trat er schließlich das Bürgermeisteramt an. Warum er überhaupt den Häuptling mimt? „Weil ich einfach politisch interessiert bin. Und man hat jemanden gesucht. Und ich wollte nicht zuschauen, wie nur geredet wird, und hab mir gedacht, dann mach ich es gleich selbst. Ich bin so ein Mensch.“
Kurzum, es gibt sie noch, die politischen Idealisten, die sich auch, wenn man Weichand Glauben schenken darf, nicht vom politischen Alltag verderben lassen und die Gemeindearbeit vor die Parteiarbeit stellen. „Ganz ehrlich: Parteipolitik auf Gemeindeebene ist doch absoluter Schwachsinn!“, formuliert Weichand sodenn sein politisches Credo. „Es gibt beileibe Wichtigeres in der Gemeindearbeit als Ideologie!“ Vielsagender Nachsatz: „Ob groß oder klein!“ Tja, wenn der gute Mann um die St. Pöltner Verhältnisse wüsste – man wünschte sich ob Politpossen wie zuletzt ums Frequency-Festival, dass sich unsere Politiker Weichands Worte ins Stammbüchlein schreiben unter dem Motto: „Große Kleingeister lernen von kleinen Großgeistern“.
Wahlkampf in Großhofen sieht demnach unspektakulär, ja geradezu keimfrei aus. Anstatt Bashings des Mitkonkurrenten und primitivem Populismus, beschränkt man sich schlicht und einfach auf Hausbesuche sowie eine Leistungsbilanz samt Zukunftsplänen auf einem schmucklosen A4 Zettel. Dieses politische Idyll wird auch nicht von den Landesparteien und ihren Scharfmachern gestört, wie Weichand versichert. „Natürlich bekommst du von der Partei Vorgaben. Aber wir machen das hier in Großhofen so, wie wir es für richtig halten! Das fang ich mir gar nicht erst an, im Wahlkampf untergriffig zu werden, dazu bin ich nicht der Typ“. Umgekehrt wäre ein derartiger politischer Stil für ihn Grund genug, das Amt niederzulegen. „In Obersiebenbrunn z.B. wird nur gestritten, da wird versucht, den Bürgermeister bei jeder Sitzung aufzuhauen. Du machst dir die Arbeit, und dann wirst du nur zerrissen. Also, ich würd mir das nicht antun!“
Insel der Seligen?
Soviel zum „Zerreißen“ gibt es aber auch nicht – kleinere Dimensionen bedingen wohl auch geringere Konfliktpotentiale. So hat die Gemeinde gerade einmal ein ordentliches Budget von 110.000 Euro/Jahr zur Verfügung sowie weitere 20.000 Euro im außerordentlichen Haushalt. Zum Vergleich: Allein der Ankauf eines Biomüllwaschwagens (ja, so etwas gibt es!), wie im letzten St. Pöltner Gemeinderat beschlossen, kostet 161.040 Euro! „Nächstes Jahr werden wir ein kleines Minus einfahren, das wir aber über Rücklagen ausgleichen können“, verrät Weichand, nicht ohne die Stirn in Falten zu ziehen. „Wir kommen sowieso nur deshalb mit dem Budget durch, weil wir viel in Eigenregie machen und uns so viel Geld ersparen.“ So hat man das Material für Güterwege etwa selbst angekarrt, bei einem Grascontainer die Auffahrtsrampe selbst umgesetzt und dergleichen mehr. Auch der Beschluss, in Zukunft sechs Windräder aufzustellen, hat wohl weniger ökologische, denn vielmehr handfeste ökonomische Gründe. „Daraus wird die Gemeinde pro Jahr ca. 26.000 Euro lukrieren“. Das entspricht also fast einem Viertel des aktuellen Budgets! „Damit“, und dieses Argument geht noch mehr an die Substanz „sichern wir uns unsere Eigenständigkeit!“ Aufgrund des Verlustes von Ertragsanteilen fahre man derzeit „ohnedies am Limit.“
Aber wenn es so knapp zugeht – warum schließt man sich dann eigentlich nicht gleich mit einer anderen Gemeinde zusammen, etwa dem benachbarten Markgrafneusiedl, mit dem ja schon jetzt viel in arbeitsteiliger Weise abgedeckt wird? Weichand schüttelt verständnislos den Kopf. „Das steht überhaupt nicht zur Debatte! Sie werden hier keinen einzigen finden, der für die Aufgabe der Selbständigkeit ist. Als Gemeinde können wir selbst über uns bestimmen, darauf legen wir großen Wert. Wir sind Großhofner!“
Stellt sich natürlich die Frage, was DAS Großhofnersche überhaupt ist bzw. ausmacht. Da fallen die üblichen, identitätsstiftenden Stichworte: Zum einen ist die Feuerwehr von großer Bedeutung, die drei-, viermal im Jahr zum Feuerwehrheurigen einlädt „der besser ankommt als jene in den großen Ortschaften“, wie Weichand nicht ohne Stolz betont. Einmal im Jahr – auch darauf sind die Großhofner stolz – findet der große Kirtag statt. Einen Beitrag zum gesellschaftlichen Leben leistet weiters der Reitverein, der obendrein auch eine Kantine betreibt „während das letzte Wirtshaus bereits 1967 seine Pforten geschlossen hat.“ Auch der Greißler ist übrigens schon lange Geschichte. Dafür finden, wider Erwarten, in der kleinen Kapelle einmal in der Woche Messfeiern statt. Gott hat offensichtlich einen längeren Atem, auch wenn sich die Schäfchen den Hirten mit anderen Gemeinden teilen müssen – der Pfarrer kommt aus Markgrafneusiedl zum Gottesdienst gepilgert.
Als Besonderheiten Großhofens führt Weichand noch eine ansässige Tierärztin an, außerdem verweist er auf die Historie: „Wie im benachbarten Glinzendorf spielten sich auch hier 1809 die Schlachten mit Napoleon ab“, ein Ereignis, das aktuell ein ansässiger ehemaliger Musikmeister der Garde ebenso für die Nachwelt festhält wie die Jahre 1939 bis 1945. Ein dunkles Kapitel für Großhofen, auch in einem anderen Kontext: Damals büßte man nämlich seine Eigenständigkeit ein und gehörte zum damals 22. Wiener Gemeindebezirk Groß Enzersdorf. Für Weichand heute ein völlig absurder Gedanke, ebenso wie jener, seine geliebte Heimat zu verlassen. „Aus Großhofen weggehen? Das war nie ein Thema!“