MFG - Der große kleine Catcher
Der große kleine Catcher


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St. Pöltens gute Seite

Der große kleine Catcher

Text Johannes Reichl
Ausgabe 10/2007

„Was magst du trinken?“, fragt mich Charly Rottenschlager. Keine Sekretärin wird gerufen, um den Gast zu bedienen – der Chef geht höchstpersönlich. Dabei, so könnte man überspitzt formulieren, ist der Emmaus-Gründer selbst mittlerweile „Konzernchef“ (auch wenn ihm dieses Wort nicht behagen wird). Ein Gespräch mit einem guten Menschen.

Ich schau mich derweil im Büro um, das sich im ersten Stock des Wohnheimes Herzogenburgerstraße befindet, wo Rottenschlager auch wohnt. Gemeinsam mit ehemaligen Häftlingen, Alkoholkranken, psychisch Angeschlagenen, Wohlstandsverlierern. „Das ist meine Familie“, wird er später lächelnd sagen – und das ist keine Phrase, das ist Tatsache!
Am Schreibtisch ein Laptop, Zettelstapel, das fertige Manuskript des neuen Emmaus-Buches, Videos, Ansichtskarten aus aller Welt, ein Foto der Familie seines Bruders und das berühmte Emmaus-Sujet: brotbrechende Hände. Eine Studier-, eine Denker-, in gewisser Weise eine Revolutionsstube, wie sich zeigen wird!
Als Charly, wie er von allen hier genannt wird, mit einer Kanne Tee zurückkommt, deckt er auf und schenkt mir ein. Es ist, wie wenn man einen Freund besucht, und das liegt nicht nur daran, dass ich selbst als Zivi Teil der Emmaus-Familie war. Das ist gelebtes Prinzip im Haus. Hier gibt es keine „Klienten“, die Mitbewohner sind Gäste. Aber es ist schon ganz typisch für Rottenschlager, dieser selbstverständliche Blick auf das Gegenüber. Zwischendurch wird er einmal unterbrechen: „Mach doch mal eine Pause vom Schreiben und trink noch einen Tee. Du tust mir ja schon leid“, und wird mir nachschenken. Eine kleine, eine typische Geste für diesen Mann, der von  Einfühlungsvermögen, einer internalisierte Sozialität und purer Nächstenliebe durchdrungen ist, und diese radikal und idealistisch lebt.  Man spürt einfach: Das ist ein guter Mensch.
Ein Bauernhof in Behmamberg
Geboren wird Rottenschlager 1946 im kleinen Behamberg, drei Kilometer von Steyr entfernt. Dort wächst er auf einem Bauernhof auf. „Den haben wir allerdings nicht bewirtschaftet, weil mein Vater schwerster Kriegsinvalide war.“ Dass das Brachliegen des Hofes den kleinen Karl offensichtlich beschäftigt hat, belegt das Thema seines ersten Volksschulaufsatzes. „Das lautete nämlich: ‚Ich möchte Bauer werden!’“ Die Behinderung des Vaters hingegen stellte keine Besonderheit dar, wie sich Rottenschlager erinnert: „Als Kind war das ein Stück Normalität für mich. Aber es mag schon so sein, dass derlei Handicaps unterbewusst sensibilisieren.“
Dass Behinderung in Rottenschlagers Augen ohnedies etwas „Relatives“ ist, verdeutlicht die Geschichte einer Wohnheimmitarbeiterin. „Wir haben eine Kollegin, die sehbehindert ist. Die ist top, hat drei Kinder, leistet hervorragende Arbeit. Als sie sich damals vorstellte, sagte sie, es könne sein, dass sie irgendwann gänzlich erblindet. Aber das war kein Hindernisgrund. Durch ihr eigenes Schicksal versteht sie ja den Hintergrund derer, die nicht so leicht mitkommen, benachteiligt sind, Defizite haben, viel besser als viele andere Mitarbeiter. Das ist ein sehr integrativer, wertvoller Background!“
Seitenschlenker-Zivilisation der Liebe
Ursprünglich waren die Rottenschlagers vier Geschwister. Zu einem der Brüder scheint Rottenschlager ein besonders inniges Verhältnis zu haben, vielleicht auch deshalb, weil sie in gänzlich unterschiedlichen Welten zu leben scheinen. „Er arbeitet in einem großen Autokonzern. Wir diskutieren und philosophieren oft, wobei er mich mitunter beneidet: ‚Du hast es ja leicht‘, sagt er dann. ‚Ich hingegen darf zwar alles planen, nur den Faktor Mensch nicht! Wir arbeiten wie ein Wanderzirkus: Immer, wenn es sich nicht rechnet, bauen wir die Maschinen ab und übersiedeln – nach Südkorea, Osteuropa, China.’ Das macht meinem Bruder zu schaffen!“ Und das ist es, was auch Rottenschlager an der heutigen Wirtschaftswelt verabscheut. „Menschen werden auf einen Kostenfaktor auf zwei Beinen reduziert. Dem muss man mit aller Entschiedenheit entgegentreten.“ Und plötzlich sind wir schon abgegleitet in eine Neoliberalismus-Diskussion. Zu klar, zu offensichtlich spürt Rottenschlager die Verknüpfung einer radikal neoliberalen, entsolidarisierten Wirtschaftswelt und vielen Fällen, die bei Emmaus landen. Dabei, so stellt er fest, kann es jeden treffen. „Hans Magnus Enzensberger hat einmal gesagt: ‚In einer reichen Gesellschaft kann jeder von uns morgen überflüssig werden.’ Zukunftsforscher wie Horx prophezeien im Hinblick auf den Arbeitsmarkt, dass die Gruppe der Alten – und das werden jene über 40 sein - sowie jene der unter 25jährigen in Zukunft nicht mehr gebraucht werden. Unsere Zielgruppen von Emmaus werden erst gar nicht erwähnt!“
Grund zu Verzweiflung und Fatalismus? Nicht für Rottenschlager, der überzeugt ist, dass man derlei entgegenwirken kann. „Wir müssen eben einen Arbeitsmarkt für alle Gruppen aufbauen. Es bedarf einer Zivilisation der Liebe!“ Dass da kein weltfremder Sozialromantiker seine Visionen ausbreitet, hat Rottenschlager zur Genüge bewiesen. Auch weil er weiß, wie man die Sache angehen muss. „Es genügt keineswegs, nur an der Seite der Ausgegrenzten zu stehen,  sondern wir müssen dorthin, wo die Systeme gemacht werden: in die Wirtschaft, in die Politik, in die Banken. Sonst ist es ein ewiges Gejammer und man geht im Kreis!“ Wie zur Bestätigung lese ich tags darauf, dass der ehemalige französische Emmaus-Präsident von Präsident Sarkozy in die Regierung berufen wurde.
Emmaus selbst, so Rottenschlager, sei ein Exerzierfeld im kleinen Maßstab, der Versuch aufs Exempel: „Wir beweisen, dass mit Benachteiligten Wohn- und Arbeitsgemeinschaft möglich ist, und dass wir mit diesen Menschen Betriebe führen, die nicht nur menschlich und sozial sind, sondern auch wirtschaftlich funktionieren!“
Ora et labora - Die Seitenstettner Jahre
Die prägende Phase in Rottenschlagers Leben, „in der ich dem Leitspruch der Benediktiner ‚ora et labora’ entsprechend ein ganzheitliches Gottes- und Menschenbild erfahren habe“, ist jene im Stiftsgymnasium Seitenstetten. „Dort hab ich meine Zeit von 10 bis 18 verbracht. Nachhaus bin ich nur zu besonderen Anlässen wie Weihnachten gekommen, ansonsten hab ich im Internat gelebt: klassisch, mit Schlafsälen und Studierstube.“ Und, ebenso klassisch „einer brutalen Hackordnung unter den Zögligen“ Eine Welt, in der man sich behaupten muss. „Ich war immer der Kleinste, worunter ich schon gelitten hab. Das hab ich mit Sport und Leistung zu kompensieren versucht. Ich war ein guter und gefürchteter Boxer, hab zu den Aufmümpfigen gezählt, mir immer meine Freiräume und Respekt verschafft.“ Zugleich, aus dem Gefühl der Benachteiligung heraus, entwickelt der Junge früh ein Solidaritätsgefühl mit anderen. „Ich hab mich wohl ein bissl in der Opferrolle gesehen und daher gefühlsmäßig immer zu den Schwächeren gehalten, für diese Partei ergriffen.“ So auch, als in der Klasse darüber gescherzt wird, dass man „in Amstetten einen Mann mit Zwergwuchs auf einen Postkasten gestellt hat, so dass dieser nicht mehr herunterkonnte.“ Lustig findet das der kleine Karl nicht, eher abstoßend!
Globalisierung der Solidarität
Dieser rauen, martialischen Bubenwelt steht die Weltoffenheit der Benediktiner gegenüber. „Das Stift hat meine wohlbehütete bäuerliche Welt aufgebrochen. Die Benediktiner hatten ja Missionen auf der ganzen Welt.“ Es gibt Vorträge von Missionaren aus Osteuropa, Südkorea, Afrika. Menschen verschiedenster Ethnien besuchen das Stift. „Wir haben Schwarze gesehen, das war damals etwas Exotisches! Und diesen wurde auf selber Augenhöhe begegnet! Da gab es keine Unterschiede. Das hat mich sehr fasziniert.“ So sehr, dass in dem jungen Menschen der Wunsch heranreift, dereinst selbst Missionar zu werden. Nicht nur aus religiöser Überzeugung, sondern auch „weil da der Abenteurer in mir erwacht ist.“
Bemerkenswert ist, dass Rottenschlager in diesen Jahren eine Form der Globalisierung kennenlernt, die dem heutigen Begriff diametral entgegenzustehen scheint. „Ich hab schon damals diese Verknüpfung gespürt, weil die Welt ja sozusagen zu uns ins Dorf gekommen ist. Zugleich hab ich erfahren, dass es eine Globalisierung der Solidarität gibt – und dass man um diese kämpfen muss, weil wir letztlich alle im selben Boot sitzen!“
Heute lebt er das durch und durch. Ist mit Emmaus weltweit vernetzt, in verschiedensten global tätigen Organisationen engagiert, etwa dem ökosozialen Forum. Dass eine gerechte Welt- und Friedensordnung möglich ist, davon ist Rottenschlager überzeugt. „Es ist bereits eine weltweite Sensibilisierung feststellbar. Und auch wenn manches nach Phrasendrescherei klingt, so gibt es letztlich gar keine andere Alternative dazu! Mittlerweile besteht eine weltweite Vernetzung von NGO’s, die weit mehr Macht haben, als sie glauben. Ihr Engagement beruht auf Wahrheit, Gerechtigkeit und Entfeindungsliebe!“
Ein Kernerlebnis, als der heranwachsende dieses tiefe Empfinden von Solidarität selbst hautnah erfährt, ist die Ungarnkrise 1956. „Ich, als kleiner Junge hab mir überlegt, was ich entbehren kann. Es sind Socken geworden!“
Rottenschlager ist fortan beseelt, selbst aktiv zur Verbesserung der Welt beizutragen, Position zu beziehen, aufzurütteln. „Ich kann mich noch gut an mein Referat beim Redewettbewerb der achten Klasse erinnern. Es lautete ‚Rede über die gerechte Welt’ und endete mit einem flammenden Schlussappell: ‚Reden Sie nicht, handeln Sie!“
Gewaltloser Widerstand
Das tut der junge Mann auch. Er tritt ins Priesterseminar ein und studiert an der Philosophisch-Theologischen Hochschule in St. Pölten. Immer wieder – der Traum vom Missionar keimt nach wie vor - fährt er nach Osteuropa und in die ehemalige Sowjetunion, überbringt Spenden, lernt Studenten und Dissidenten kennen, erfährt hautnah die Mechanismen totalitärer Regime: „Ich hab begonnen, solche Länder zu hinterfragen und mir ist klar geworden, dass hinter diesen Systemen auch nur Menschen stecken, und dass gewisse Rechtslagen und Doktrinen auf Dauer kein Fundament haben.“ Dabei ist Rottenschlager aber kein Verfechter von Gewalt, wenngleich er überraschend einräumt „dass ich eigentlich vom Typ her hochaggressiv bin. Aber mit Gewalt kann man nichts verändern, kann man nicht zusammenleben. Sie ist ein untaugliches Mittel“.
Das gilt für die kleine Emmaus-Welt, wo die Gäste sich vertraglich zur gewaltlosen Konfliktlösung verpflichten müssen, ebenso wie im großen Maßstab für die ganze Welt, weshalb Rottenschlager die Philosophie des passiven Widerstandes für die effektivste hält. „Letztlich geht es um die Botschaft Jesu, Gandhis, Martin Luther Kings. Das hab ich kapiert durch Leute, die das gelebt haben. Gewaltfreier Widerstand! Es ist möglich, etwas zu verändern!“
Und Rottenschlager lebt es selbst, wobei er im Laufe der Jahre zur Erkenntnis gelangt, dass für seinen persönlichen Weg des Widerstandes jener über das Priesteramt der ungeeignete ist. „Ich hab das Priesteramt ernsthaft geprüft, bin aber zum Schluss gekommen, dass das nicht meine Berufung ist! Meine Aufgabe ist nicht die Predigt, sondern die Diakonie.“
An der Front
Die „Handarbeit“ an der Front also, könnte man es anders formulieren. Und so wird Rottenschlager Sozialarbeiter, geht dorthin, wo die Armen und Benachteiligten leben.
Zu Beginn seiner Laufbahn arbeitet er als Erzieher und Pfleger in Wien, Kalksburg, bei den „Barmherzigen Brüdern“ in Korneuburg, „die aber damals den Ruf der ‚Unbarmherzigen Brüder’ hatten. Ich hab gesehen, wie viel Watschen ausgeteilt wurden und hab mir gedacht: Das kanns ja nicht sein. Wie kannst du alternative Erziehungsmodelle entwickeln? Weg von der Gewalt.“
Mein Afrika - Die Steiner Jahre
Schließlich landet er am Jugendamt Wien. Zwei Jahre lang arbeitet er dort, durchdringt die Untiefen der Gesellschaft, lernt das Leid hautnah kennen, ebenso die Gewalt und die vermeintliche Hoffnungslosigkeit verzwickter Lebenssituationen. „Ich hab sicher über 1.000 Haushalte zu betreuen gehabt, von Kindern, die Drogen genommen, Diebstähle verübt haben, orientierungslos waren. Sie kamen aus den unterschiedlichsten Milieus, Kinder vom ORF-Topmanager über Gastarbeiterkinder bis hin zu jenen von Prostituierten.“
Rottenschlager erfährt, wie zerrüttete Familienverhältnisse Menschen prägen, wo der Ursprung für die schiefe Bahn beginnt, wie wenig Chancen und Alternativen man bisweilen hat. „Ich hab die ganze Bandbreite von Schicksalen kennengelernt. Da wird man sehr sensibel in der Beurteilung von Menschen und Schicksalen!“
Schließlich, Rottenschlager ist 25, tut sich eine neue Aufgabe vor ihm auf. „Nach dem Studium hatte ich schon den Vertrag für Malawi in der Tasche, aber mir wurde klar, dass ich nicht tropentauglich bin. Als ich hörte, dass Stein einen Sozialarbeiter sucht, war das wie ein Zeichen Gottes und ich wusste: Das ist mein Afrika!“
Dienstantritt ist der 30. April 1973. „Ich bin in den Westhof gekommen, es wurde salutiert, und ich dachte mir: Du bist angekommen. Hier bleib ich bis zum Ende meiner Arbeitstätigkeit.“ Rottenschlager, so scheint es, ist jetzt „ganz unten“ angelangt, bei jenen, mit denen man nichts zu tun haben will, die man wegsperrt, die „sowieso selber schuld sind, wie die meisten Leute meinen. Und natürlich sind fast alle Täter - ebenso sind aber auch fast alle Opfer!“, relativiert er. Immer wieder trifft er bei den Häftlingen auf das selbe Vergangenheits-Muster, das auch schon bei seiner Tätigkeit fürs Jugendamt evident wurde: Vater unbekannt, Mutter völlig auf sich allein gestellt, Alkohol, Prostitution. Es ist, als setzt sich hier die Spirale der Jugendjahre fort – das ist die oftmalige Konsequenz, die Endstation. Und noch eines erkennt der Sozialarbeiter, was ihm auch heute in der Emmaus immer wieder begegnet. „In der Emmaus hatten wir Gäste, die haben zusammen über 7.000 Jahre Schmalz, also Gefängnis abgesessen. Aber diese vermeintlich harten Jungs haben vor allem eines – Angst. Angst vor der Nacht, Angst vorm Wochenende, Angst vor den Feiertagen – kurzum Angst vorm Alleinsein!“ Deshalb bedürfen sie Begleitung, Betreuung. Auch im Gefängnis, wie Rottenschlager bald bewusst wird. Er setzt das Problem dem damaligen Justizminister Broda auseinander – mit Erfolg! „100 neue Dienstposten wurden daraufhin für die Gefängnisse im Sozialbereich geschaffen!“
Rottenschlager macht weitere Beobachtungen. So beschäftigt ihn die Frage, warum es eine derart hohe Rückfallsquote gibt, was da draußen, nach der Entlassung der Häftlinge, schief läuft. Die einfache Erkenntnis: Es hapert an einem „Auffangnetz“ und an entsprechender Infrastruktur. „Ich hab mitbekommen, dass zwei von drei Häftlingen am Tag der Entlassung nicht wissen, wohin sie gehen sollen. Ich kann mich gut erinnern, dass ich einmal einen bei der Entlassung gefragt hab. ‚Und wohin führt dich jetzt dein Weg?’ Da hat er den Finger nass gemacht, in die Höh gehalten und gemeint. ‚Je nach Windrichtung!’. Acht Tage später war er wieder da!“
Die Regel, nicht die Ausnahme. Weshalb Rottenschlager weiterforscht, der Sache auf den Grund geht. „Die meisten wussten gar nicht, wohin – und das wundert nicht. Denn wie ist es denn wirklich? 1/3 der Häftlinge hat nie Besuch im Gefängnis bekommen. 1/3 hin und wieder, wobei viele Beziehungen über die Jahre zerbröseln. Das heißt, diese Leute sind völlig allein, wenn sie rauskommen!“
Und damals auch seitens der Gesellschaft völlig aufs Abstellgleis gestellt und isoliert. Etwas wie Emmaus gibt es ja noch nicht. „Einer hatte etwa schon 18 Vorstrafen, ist immer wieder zurückgekommen, und da hab ich ihn gefragt: ‚Was tust du schon wieder da?’ Und da zeigte sich eines. Entweder die Leute kamen bei ‚Freunden’ unter, die als Gegenleistung dafür aber verlangten, dass sie beim nächsten Bruch ‚eh nur Schmiere stehen müssen!‘ Klar, dass die bald wieder gefasst wurden. Anderen wiederum wurden, weil man Ex-Häftlinge ja sonst nirgends wohnen haben wollte, Löcher zu horrenden Preisen angeboten, 3.000 Schilling und mehr. Das konnte auf Dauer auch nicht gutgehen. Es war also klar: Es bedarf Wohnungsangeboten, die seriös sind, um einen fairen Wiedereinstieg überhaupt erst zu ermöglichen!“
Der Weg zur Emmaus St. Pölten
Damit war Rottenschlager von einer neuen Idee, einer Mission beseelt – das waren die Antworten für „sein Afrika“. Antworten, die er nicht innerhalb der Gefängnismauern, sondern nur außerhalb dieser geben und lösen konnte: Ein Wohnheim für ehemalige Häftlinge! Wo man gemeinsam wohnt, also keiner isoliert und allein ist. Wo man den Tisch miteinander teilt und – in weiterer Folge – auch wo man gemeinsam arbeitet, wo man gebraucht wird, etwas wert ist – die Emmaus-Idee!
„1979 hab ich begonnen, wobei ich wusste, ich muss clever vorgehen. Ich legte ein Konzept vor. Oberflächlich war helle Zustimmung, aber subkutan hat sich fast jeder gedacht: ‚De Gfraster sind selber schuld.’ Oder ‚Ja, das ist eine gute Idee, aber nicht bei uns, weil da sind ja Frauen und Kinder, die sind dann gefährdet.’
Als er ein erstes Projekt ins Auge fasst, veranstaltet Rottenschlager ein Symposium in einem Wirtshaus – eine schlimme Erfahrung. „Ein Mann ist aufgestanden und hat gemeint. ‚Ich war ein Nazi und steh dazu. Die einzige Lösung des Problems: Rübe ab für solche Menschen.’ Auch ein Lehrer hat sich gemeldet, ein gut distinguierter Mann, und hat doziert: ‚Diese Menschen sind ein Geschwür am Körper der Gesellschaft, das gehört ausgemerzt’ Er hat Applaus dafür geerntet! Und hinten sind 30 Jugendliche gesessen und haben keinen Muckser gemacht!“ Rottenschlager schüttelt nachdenklich den Kopf bei diesen Erinnerungen.  „Ich war wie vor den Kopf gestoßen. Nachher bin ich zu den jungen Menschen hin, hab sie gefragt, warum sie still halten? Achselzucken. ‚Bitte Leutl’n, so hat es unter Hitler auch angefangen. So ist der an die Macht gekommen!’, hab ich ihnen zu erklären versucht. Und so ist es: Der Hitler steckt in jedem von uns, ist unterschwellig immer da.“ Aber es gibt auch die andere Seite. So kommt nach der Veranstaltung ein junges Paar zu Rottenschlager: „Sie haben gemeint, sie sind so aufgewühlt, dass sie ein Heimkind adoptieren werden!“
1982 - Vision wird Wirklichkeit
Rottenschlager lässt sich nicht entmutigen. Beharrlich sucht und kämpft er weiter – und wird „belohnt“. In einer ehemaligen Pferdefleischhauerei in der Herzogenburgerstraße eröffnet er mit Hilfe der Caritas 1982 das erste Wohnheim. „Ich hab damals gesagt, sieben Leut nehm ich, mehr nicht!“, muss er angesichts der nachfolgenden Entwicklung schmunzeln. Die Emmaus-Prinzipien sind schon damals die selben: „Wohn- und Tischgemeinschaft, das war die erste Erfordernis!“ Und Arbeit. Diese findet man zunächst in der Sanierung des Gebäudes. Bald wird die Umgebung aufmerksam. Vorurteile fallen, irrationale Ängste verschwinden, Solidarität keimt auf. „Die Leute haben gesehen, dass da was Gutes entsteht und haben Spenden vorbeigebracht: Alte Möbel, Vorhänge, Essen.“ Menschen helfen Menschen – der Funke ist übergesprungen! Die Zivilisation der Liebe wird Realität.
Der Rest ist Geschichte. Erfolgsgeschichte! 25 jährige! Aus dem ersten Haus werden bis heute acht Wohnheime! Den ersten sieben Gästen folgen fast 5.000 bis heute nach! Es entstehen sechs Emmaus-eigene Betriebe (von der Tischlerei bis hin zum Altwarenhandel). Und aus der ersten verschworenen Gruppe um Charly Rottenschlager wird ein Netz von fast 90 Angestellten, 135 ehrenamtlichen Helfern und 25 Zivildienern!
Der nimmermüde Rottenschlager mutiert zum so immens wichtigen Flickmeister im Sozialnetz der niederösterreichischen Zentralregion. Es gibt so viele Menschen, die Hilfe bedürfen, die bislang übersehen, ausgegrenzt wurden: Ehemalige Häftlinge, psychisch Angeschlagene und Kranke, Gesellschaftsverlierer, Alkoholkranke, Drogensüchtige, Gewaltopfer, Flüchtlinge, Obdachlose, Leute, die dem Druck der Leistungsgesellschaft nicht standhalten. Sie alle finden in der Emmaus Heimat, in Charly Rottenschlager ihren Kämpfer und Fürsprecher. „Niemand ‚reißt’ sich um diese Gruppe, das ist sozusagen eine ‚Traumkombi’“, lächelt er. Zum Beweis führt er eine Statistik über die Spendenaffinität der Österreicher an: „Unter den Top Ten sind Kinder, Behinderte, Tiere. Unsere Klienten hingegen kommen gar nicht vor! Das sind wieder die Außenseiter. In all den Jahren bin ich der kleine Catcher geblieben, hab gespürt, dass ich mich für diese Menschen einsetzen muss, damit sie von der Gesellschaft eine faire Chance bekommen, um eine menschenwürdige Existenz aufzubauen!“ Wenn man banal fragt, warum er das alles macht, so verweist Rottenschlager auf das biblische Emmaus, auf das Vorbild von Jesus Christus. „Emmaus ist eine Leidens- und Hoffnungsgemeinschaft, im biblischen Sinne auch eine Weggemeinschaft. Die Gäste sollen spüren, dass sie geliebte Kinder Gottes sind. Und diese Liebe ist eine, die nicht ausgrenzt!“
Grenzenlos
Für ihn persönlich aber durchaus eine, die auch mit Verzicht, Entbehrungen verbunden ist. Wollte er nie eine eigene Familie gründen? „Natürlich hab ich mir das gewünscht. Aber letztlich verhielt es sich wie im Falle der Frage, ob ich Pfarrer werden möchte: es war eine Grundsatzentscheidung. Und man kann in einer solchen Gemeinschaft nicht voll mitleben, wenn man selbst kleine Kinder hat – das konnte ich in anderen Emmausgemeinschaften beobachten!“ So wird die Emmausgemeinschaft zur Ersatzfamilie. Zwar baut sich Rottenschlager auch außerhalb der Emmaus ein Netz von Freunden auf, um von Zeit zu Zeit den nötigen Abstand zu gewinnen, aber die Familie ist tatsächlich Emmaus. „Erst letzte Woche war ich mit einem Gast höheren Alters, der lange Jahre im Häfen gesessen ist, in Dürnstein. Oben angekommen, wie wir auf die Donau runterblicken, sind ihm plötzlich die Tränen in die Augen gestiegen und er hat gemeint: ‚Dass ich das noch erleben darf!’ Der blüht auf bei uns, und man sieht, dass es nie zu spät! Man kann das Leben immer noch einmal beginnen!“
Gute Menschen wie Rottenschlager machen Mut und Hoffnung dazu. Und sie tragen durch ihr Vorbild sowie ihr unermüdliches Schaffen Sorge, dass die Gesellschaft Mitmenschen diese Chance überhaupt erst einräumt! Ein harter, immerwährender Kampf, der aber wert ist gekämpft zu werden. Mit Emmaus hat Rottenschlager den Beweis angetreten. Und er lehrt eines: Die Zivilisation der Liebe beginnt im Herzen jedes einzelnen von uns! 
Emmaus DIE IDEE
Emmausgründer ist der französische Geistliche Abbé Pierre. Als im Winter 1953/1954 in Paris 90 Obdachlose erfrieren, lässt er entlang der Seine Zelte aufbauen. „Seine Botschaft war: ‚Notleidender. Wer immer du bist, du bist willkommen! Komm  und schlaf dich aus bei uns. Hier wirst du geliebt. Du wirst radikal angenommen, so wie du bist!’ Das ist die Emmaus-Philosophie, und das spüren die Menschen, die zu uns kommen. Es geht um Liebe, radikale Annahme, Begleitung. Tisch-, Wohn- und Arbeitsgemeinschaft bis hin zur Freizeit!“, so Rottenschlager.
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