Was bleibt vom Mai 1968?
Text
Florian Müller
Ausgabe
Erinnerungen, Erzählungen und Erkenntnisse von Menschen, die damals dabei waren.
Wer die vor mehr als einem Vierteljahrhundert erschienene und von dem weit über die Landesgrenzen bekannten und geschätzten Historiker Karl Gutkas, mehr als vier Jahrzehnte lang Leiter des Kulturamtes der Stadt St. Pölten, edierte „Landeschronik Niederösterreich“ zur Hand nimmt, der findet im Kalender zum Jahr 1968 genau 31 Eintragungen. Bei den vier Ereignissen, welche den Monat Mai betreffen, geht es um die Eröffnung des Kongresshauses Baden, den Beschluss des Raumordnungsgesetzes, die Eröffnung der Landeskunstausstellung „Romantik und Realismus“ in Laxenburg und um den Prozessbeginn gegen den ehemaligen ÖVP-Politiker Viktor Müllner. Im Jahr 1968 gab es nur drei internationale Ereignisse, die einen Blick über die Landesgrenzen und eine Eintragung in die Landeschronik wert waren: die Unterzeichnung eines Gas-Importvertrages mit der Sowjetunion, Liese Prokops olympische Fünfkampf-Silbermedaille in Mexiko und der Einmarsch von Warschauer-Pakt-Truppen in die Tschechoslowakei.
„Die Augen geöffnet“
1968 war das Jahr der weltweiten Studentenproteste, Österreich spielte dabei nur eine kleine Nebenrolle. Im Vergleich zu den Ereignissen in den USA, in Frankreich, Deutschland und Italien seien die Proteste in Österreich „relativ harmlos“ gewesen, auf lange Sicht hätten sie aber „unglaublichen Einfluss auf das Leben“ gehabt, bilanziert Karl Vocelka, ehemaliger Vorstand des Instituts für Geschichte an der Universität Wien, 50 Jahre danach. Die Studentenproteste hätten „die Augen geöffnet“ und zu einem „Perspektivenwechsel“ in gesellschaftspolitischen Belangen geführt. „Als ich 1965 mit dem Germanistikstudium begonnen habe, hatten die meisten Professoren noch eine braune Vergangenheit. Aber wir sind ganz naiv und brav in den Hörsälen gesessen und haben ihnen zugehört. Zehn Jahre später hätten wir mit Tomaten und faulen Eiern geworfen.“
Der Autor Wilhelm Pevny, der in den 1970er-Jahren gemeinsam mit Peter Turrini u. a. die „Alpensaga“ für den ORF schrieb, war im Mai 1968 Sprachlehrer an der Berlitz-School im Quartier Latin in Paris, vis-a-vis der Sorbonne, die am 3. Mai 1968 besetzt worden war. „Wenn ich also in der Pause auf den Balkon getreten bin und eine Zigarette geraucht habe, habe ich sowohl auf die Sorbonne als auch auf die Kreuzung Boulevard Saint Michel/Boulevard Saint Germain gesehen“, erzählt der heute in Retz lebende Schriftsteller. Im Mai 1968 sei der damals 23-Jährige von einem linksliberalen-humanistischen Zuschauer des Geschehens „fern jeder Gruppierung oder jedweden -ismusses“ zu einem engagierten Linken geworden.
1968 war das Jahr der weltweiten Studentenproteste, Österreich spielte dabei nur eine kleine Nebenrolle. Im Vergleich zu den Ereignissen in den USA, in Frankreich, Deutschland und Italien seien die Proteste in Österreich „relativ harmlos“ gewesen, auf lange Sicht hätten sie aber „unglaublichen Einfluss auf das Leben“ gehabt, bilanziert Karl Vocelka, ehemaliger Vorstand des Instituts für Geschichte an der Universität Wien, 50 Jahre danach. Die Studentenproteste hätten „die Augen geöffnet“ und zu einem „Perspektivenwechsel“ in gesellschaftspolitischen Belangen geführt. „Als ich 1965 mit dem Germanistikstudium begonnen habe, hatten die meisten Professoren noch eine braune Vergangenheit. Aber wir sind ganz naiv und brav in den Hörsälen gesessen und haben ihnen zugehört. Zehn Jahre später hätten wir mit Tomaten und faulen Eiern geworfen.“
Der Autor Wilhelm Pevny, der in den 1970er-Jahren gemeinsam mit Peter Turrini u. a. die „Alpensaga“ für den ORF schrieb, war im Mai 1968 Sprachlehrer an der Berlitz-School im Quartier Latin in Paris, vis-a-vis der Sorbonne, die am 3. Mai 1968 besetzt worden war. „Wenn ich also in der Pause auf den Balkon getreten bin und eine Zigarette geraucht habe, habe ich sowohl auf die Sorbonne als auch auf die Kreuzung Boulevard Saint Michel/Boulevard Saint Germain gesehen“, erzählt der heute in Retz lebende Schriftsteller. Im Mai 1968 sei der damals 23-Jährige von einem linksliberalen-humanistischen Zuschauer des Geschehens „fern jeder Gruppierung oder jedweden -ismusses“ zu einem engagierten Linken geworden.
Kunst und Revolution
Jubiläen und Gedenktage seien große „Aide-Memoires“, also Gedächtnishilfen und -stützen, an denen man den Soll-Zustand einer Gesellschaft mit dem Ist-Zustand vergleichen kann, so der Medienkünstler und -theoretiker Peter Weibel, Jahrgang 1944. Er war einer der Organisatoren der Aktion „Kunst und Revolution“ am 7. Juni 1968 im Hörsaal I des Neuen Institutsgebäudes in Wien, die als „Uni-Ferkelei“ (eine Wortkreation des damaligen „Express“-Journalisten Michael Jeannée) auch heute noch bekannt ist. „Was waren die Versprechen und Ziele vor 50 Jahren und inwieweit hat man die erreicht? Was wir oft übersehen ist, dass 1968 nur ein Signaturjahr für ein ganzes Jahrzehnt, also die 60er-Jahre, war. Die 1960er kann man mit den 1920er-Jahren vergleichen. Die beiden waren politisch sowie künstlerisch die revolutionärsten Dekaden in Europa. Der entscheidende Punkt dabei ist, dass die 20er mit dem Aufstieg des Faschismus in einer Katastrophe geendet haben. Das Tolle ist, dass das in den 60er-Jahren nicht passiert ist“, so Weibel im Interview mit Sonja Harter.
„Wie kaum ein anderes Nachkriegsjahrzehnt werden die 60er-Jahre gemeinhin als Einschnitt in die Politik, Gesellschaft, Wirtschaft, Technik und Kultur empfunden“, so der Kulturhistoriker und Publizist Hannes Etzlstorfer, Kurator der Ausstellung „Die 60er. Beatles, Pille und Revolte“, die 2010 auf der Schallaburg gezeigt wurde. Vieles – wie etwa die Studentenrevolte von 1968 oder die sogenannte 68er-Generation – sei als kontroversiell instrumentierter Mythos längst abgefeiert, alle Phänomene seien auf dieses Protestmoment ausgerichtet worden. „Zweifellos bescherten die 60er-Jahre der westlichen Welt ungeahnten Wohlstand. Dem Motto von Modernisierung, Automatisierung und Beschleunigung schien alles zu gehorchen. Vielleicht sahen viele Beobachter im Aufbegehren der Jungen gerade deshalb eine solche Provokation, weil sie damit ausgerechnet in einer Periode des noch nie dagewesenen Wohlstandes die Legitimität der Gesellschaftsordnung so massiv und lautstark in Frage stellten“, so Etzlstorfer.
Wie erlebte Wilhelm Pevny die Verhältnisse, die zu so einem Widerstand und einem Willen zur Veränderung bei jungen Menschen geführt haben? War der Staat damals wirklich so autoritär? „In Frankreich sicher noch mehr als in Österreich. Es waren ganz verkrustete, alte Strukturen, in Österreich und Deutschland kam noch der Umgang mit dem Nationalsozialismus dazu, wo die gleichen Leute wieder nach oben gespült wurden, sowohl in der Schule als auch im universitären Bereich oder im ORF, wo ich lange gearbeitet habe. Wir haben als junge Menschen das Gefühl gehabt, wir kommen nicht vorbei an denen. Die versuchen, uns zu unterdrücken und klein zu halten. Es war klar, dass das irgendwann einmal in die Luft fliegen muss“, so die Analyse Pevnys.
Dass Wien nicht so im internationalen Mittelpunkt stand wie andere europäische Städte, führt der Historiker Vocelka auf die speziellen österreichischen Rahmenbedingungen zurück. In anderen Ländern seien die Studenten mit ihrer Protestbereitschaft nicht allein gewesen. In den USA gab es die schwarze Bürgerrechtsbewegung, in Frankreich und Italien verbanden sich die Studentenproteste mit Arbeitskämpfen. Diese Überschneidungen hätten in Österreich gefehlt – der Klassenkonflikt sei etwa durch die Sozialpartnerschaft „zugedeckt“ worden. Die relativ geringe Proteststimmung habe auch etwas mit tieferen historischen Strukturen zu tun: „Seit ewigen Zeiten, und seit dem Vormärz noch stärker, ist der Österreicher zum Untertanen erzogen worden, der nicht aufmüpfig sein darf. Dafür war es eh sehr aufmüpfig, was ’68 passiert ist“, meint Vocelka.
"Die beiden [20er und 60er Jahre] waren politisch sowie künstlerisch die revolutionärsten Dekaden in Europa." Peter Weibl
Zeitzeugen-Forum
„Ich habe ganz unrevolutionär in Deutschland einer Bimssteinfabrik gearbeitet und davon geträumt, von meinen schriftstellerischen Werken zu leben. Die Verlage haben aber gesagt, ich soll in der Bimssteinfabrik bleiben“, so Schriftsteller Peter Turrini im Zuge des Zeitzeugen-Forums im Museum Niederösterreich über „seinen“ Mai 1968 und seine Erfahrungen mit der Literaturbranche. Erst drei Jahre später sollte sein 1967 entstandenes erstes Theaterstück „Rozznjogd“ am Wiener Volkstheater uraufgeführt werden und ihn berühmt machen.
Seinen ersten Gruppensex, mit vier Männern und vier Frauen in einem Berliner Bett, beschrieb der Schriftsteller als „misslungen – und schön“. Turrini ist überzeugt, dass es damals die Mauer des Schweigens von Eltern und Lehrern zu durchbrechen galt: „Jede Frage war eine Irritation, weil es um den Wiederaufbau ging.“ Schon damals war ihm aber auch klar, dass Otto Mühl nicht den richtigen Weg ging, er verließ daher dessen Kommune nach sechs Monaten: „Ich wollte meine Qualen an der Kunst und nicht an den Menschen abarbeiten.“ Auf Mitstreiter habe er nie gewartet: „Ich habe mich nie gefragt, warum die anderen nicht aufgebracht sind, sondern: Bin ich aufgebracht genug?“ Ohne die Revolution in Frage zu stellen, erinnerte Turrini daran, dass der revolutionäre Tatendrang leider vor dem Leben anderer Menschen nicht Halt machte und führte den deutschen Terrorismus an, der viele Tote zur Folge hatte.
„Als niederösterreichische Landpomeranze in Wien hatte ich gerade mein Studium abgeschlossen und begonnen, als Volkswirtin in der Nationalbank zu arbeiten“, schilderte Rotraud A. Perner ihren Einstieg in die „Wiener Szene“, in der sich die Revolution abspielte. Sie kam in die Kreise, die das Café Savoy in Wien frequentierten, in dem Otto Mühl Hof hielt. Vieles, was damals passierte, kann sie heute analytisch verstehen, wenn auch nicht gutheißen. Zur sogenannten „Uni-Ferkelei“ meint sie: „Ich hätte nicht mitgemacht und hatte auch kein Verständnis dafür.“ Um zu schockieren und Aufsehen zu erregen, gäbe es andere Wege. Damals ging es aber vor allem darum, zu zertrümmern, was unwidersprochen akzeptiert wurde.
Allgemein wäre die Bedeutung von vielen Themen und Ereignissen erst später klar geworden: „Was damals gefehlt hat, waren Erklärungen.“ Das Verdienst der 1968er-Bewegung sieht sie heute darin, dass sie die Strukturen der Macht aufzeigte, nämlich „Machtstrukturen in der Beziehung und in der Gesellschaft. Darüber zu reden war bis dahin ein Tabu. Wir wären also heute nicht so weit, hätte es 1968 nicht gegeben.“
Hannes Etzlstorfer war im Mai 1968 neun Jahre alt. Auf das Jahr 1968 angesprochen, erinnert er sich an im August 1968 durch Freistadt im Mühlviertel rollende Panzer und an das große Blumenbukett, das den eigentlich unübersehbaren Babybauch seiner älteren Schwester bei der Hochzeit kaschieren sollte. „Das Uni-Happening ‚Kunst und Revolution‘ im Juni im Audimax ist natürlich ein Skandal als punktuelles Ereignis. Im Bogen, der Kokoschka und Schiele als Ausgangspunkt hat, ist es aber eine logische Weiterentwicklung“, bot Etzlstorfer die entsprechenden Kontextualisierungen.
Es musste damals alles ausgereizt werden, was die bürgerliche Moral brüskierte: Eine Picasso-Ausstellung in Wien hatte 1968 zur Folge, dass eine „Liga gegen entartete Kunst“ gegründet wurde, Picasso war für viele ein Feindbild. VALIE EXPORT erregte mit ihrem „Tapp- und Tastkino“ Aufsehen, und Etzlstorfer erzählte von einer Aktion eines Mannes, der an 32 Verlage Fragmente von Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“ schickte und nur von einem eine positive Antwort bekam – und das war ein Erotik-Verlag. „Was jemand 1968 gemacht hat, ist bis heute ein Reibebaum“, ist er sich sicher. Der Titel einer damaligen Radiosendung für Kinder ist symptomatisch für dieses Jahrzehnt: „Seid mucksmäuschenstill“.
Peter Turrini ergänzt: „Das Theater war zur Abonnentenhure verkommen, die Menschen konnten darinnen beruhigt einschlafen. Es ist kein Wunder, dass Peter Handke mit seiner ‚Publikumsbeschimpfung‘ die Leute aufrüttelte. Was heute eine ästhetische Gaudi ist, war damals eine Revolution: ‚Es gibt kein Theater mehr, Sie das Publikum, Anm. sind das Theater.‘“ Rotraud A. Perner: „Die Reife einer Gesellschaft erkennt man am Umgang mit dem Widerspruch.“
"Es war klar, dass das irgendwann einmal in die Luft fliegen muss." Wilhelm Pevny
Was bleibt?
Was blieb und bleibt von 1968? Die 68er seien in Österreich im Rückblick „erfolgreich gescheitert“, meint Karl Vocelka, zwar hätten sie eine gesellschaftspolitische Öffnung bewirkt die Grünen-Bewegung wäre ohne die 68er ebenso wenig vorstellbar gewesen wie die Demokratisierung der Universitäten in den 1970ern, oder die späte Aufarbeitung der Rolle Österreichs im Nationalsozialismus. Das politische System, gegen das man angekämpft habe, sei aber dasselbe geblieben. „Nach 1968 hat man in Österreich weitergewurstelt wie vorher“, so der Historiker.
Was würde an der heutigen Gesellschaft ohne 1968 ganz anders aussehen? „Die Beziehung zwischen Mann und Frau fällt mir als Erstes ein. Und dass es überhaupt ein soziales Bewusstsein gibt. Dass man sagt, der Gap zwischen Arm und Reich ist so groß, das war ja vorher kein Thema. Dass die Gerechtigkeit immer wieder noch eine Rolle spielt. Ich glaube, in ganz vielen Bereichen hat ’68 seine Spuren hinterlassen“, ist hingegen Autor Wilhelm Pevny überzeugt.
"Die Reife einer Gesellschaft erkennt man am Umgang mit dem Widerspruch." Rotraud A. Perner
Die Autoren
Dr. Reinhard Linke, Redakteur beim ORF Niederösterreich in St. Pölten,
Autor mit den Schwerpunkten Geschichte und Kultur.
Mag. Florian Müller, Pressesprecher des Museum Niederösterreich in
St. Pölten, Journalist und Universitätslektor.
Erzählte Geschichte
Die nächste Veranstaltung der Gesprächsreihe „Erzählte Geschichte“ im Haus der Geschichte in St. Pölten ist am 16. Oktober. Zum Thema „100 Jahre Frauenwahlrecht in Österreich“ diskutieren die Publizistin Elfriede Hammerl, die Autorin und Schauspieler-in Chris Lohner und der Wissenschaftliche Leiter des Hauses der Geschichte, Christian Rapp.
Jubiläen und Gedenktage seien große „Aide-Memoires“, also Gedächtnishilfen und -stützen, an denen man den Soll-Zustand einer Gesellschaft mit dem Ist-Zustand vergleichen kann, so der Medienkünstler und -theoretiker Peter Weibel, Jahrgang 1944. Er war einer der Organisatoren der Aktion „Kunst und Revolution“ am 7. Juni 1968 im Hörsaal I des Neuen Institutsgebäudes in Wien, die als „Uni-Ferkelei“ (eine Wortkreation des damaligen „Express“-Journalisten Michael Jeannée) auch heute noch bekannt ist. „Was waren die Versprechen und Ziele vor 50 Jahren und inwieweit hat man die erreicht? Was wir oft übersehen ist, dass 1968 nur ein Signaturjahr für ein ganzes Jahrzehnt, also die 60er-Jahre, war. Die 1960er kann man mit den 1920er-Jahren vergleichen. Die beiden waren politisch sowie künstlerisch die revolutionärsten Dekaden in Europa. Der entscheidende Punkt dabei ist, dass die 20er mit dem Aufstieg des Faschismus in einer Katastrophe geendet haben. Das Tolle ist, dass das in den 60er-Jahren nicht passiert ist“, so Weibel im Interview mit Sonja Harter.
„Wie kaum ein anderes Nachkriegsjahrzehnt werden die 60er-Jahre gemeinhin als Einschnitt in die Politik, Gesellschaft, Wirtschaft, Technik und Kultur empfunden“, so der Kulturhistoriker und Publizist Hannes Etzlstorfer, Kurator der Ausstellung „Die 60er. Beatles, Pille und Revolte“, die 2010 auf der Schallaburg gezeigt wurde. Vieles – wie etwa die Studentenrevolte von 1968 oder die sogenannte 68er-Generation – sei als kontroversiell instrumentierter Mythos längst abgefeiert, alle Phänomene seien auf dieses Protestmoment ausgerichtet worden. „Zweifellos bescherten die 60er-Jahre der westlichen Welt ungeahnten Wohlstand. Dem Motto von Modernisierung, Automatisierung und Beschleunigung schien alles zu gehorchen. Vielleicht sahen viele Beobachter im Aufbegehren der Jungen gerade deshalb eine solche Provokation, weil sie damit ausgerechnet in einer Periode des noch nie dagewesenen Wohlstandes die Legitimität der Gesellschaftsordnung so massiv und lautstark in Frage stellten“, so Etzlstorfer.
Wie erlebte Wilhelm Pevny die Verhältnisse, die zu so einem Widerstand und einem Willen zur Veränderung bei jungen Menschen geführt haben? War der Staat damals wirklich so autoritär? „In Frankreich sicher noch mehr als in Österreich. Es waren ganz verkrustete, alte Strukturen, in Österreich und Deutschland kam noch der Umgang mit dem Nationalsozialismus dazu, wo die gleichen Leute wieder nach oben gespült wurden, sowohl in der Schule als auch im universitären Bereich oder im ORF, wo ich lange gearbeitet habe. Wir haben als junge Menschen das Gefühl gehabt, wir kommen nicht vorbei an denen. Die versuchen, uns zu unterdrücken und klein zu halten. Es war klar, dass das irgendwann einmal in die Luft fliegen muss“, so die Analyse Pevnys.
Dass Wien nicht so im internationalen Mittelpunkt stand wie andere europäische Städte, führt der Historiker Vocelka auf die speziellen österreichischen Rahmenbedingungen zurück. In anderen Ländern seien die Studenten mit ihrer Protestbereitschaft nicht allein gewesen. In den USA gab es die schwarze Bürgerrechtsbewegung, in Frankreich und Italien verbanden sich die Studentenproteste mit Arbeitskämpfen. Diese Überschneidungen hätten in Österreich gefehlt – der Klassenkonflikt sei etwa durch die Sozialpartnerschaft „zugedeckt“ worden. Die relativ geringe Proteststimmung habe auch etwas mit tieferen historischen Strukturen zu tun: „Seit ewigen Zeiten, und seit dem Vormärz noch stärker, ist der Österreicher zum Untertanen erzogen worden, der nicht aufmüpfig sein darf. Dafür war es eh sehr aufmüpfig, was ’68 passiert ist“, meint Vocelka.
"Die beiden [20er und 60er Jahre] waren politisch sowie künstlerisch die revolutionärsten Dekaden in Europa." Peter Weibl
Zeitzeugen-Forum
„Ich habe ganz unrevolutionär in Deutschland einer Bimssteinfabrik gearbeitet und davon geträumt, von meinen schriftstellerischen Werken zu leben. Die Verlage haben aber gesagt, ich soll in der Bimssteinfabrik bleiben“, so Schriftsteller Peter Turrini im Zuge des Zeitzeugen-Forums im Museum Niederösterreich über „seinen“ Mai 1968 und seine Erfahrungen mit der Literaturbranche. Erst drei Jahre später sollte sein 1967 entstandenes erstes Theaterstück „Rozznjogd“ am Wiener Volkstheater uraufgeführt werden und ihn berühmt machen.
Seinen ersten Gruppensex, mit vier Männern und vier Frauen in einem Berliner Bett, beschrieb der Schriftsteller als „misslungen – und schön“. Turrini ist überzeugt, dass es damals die Mauer des Schweigens von Eltern und Lehrern zu durchbrechen galt: „Jede Frage war eine Irritation, weil es um den Wiederaufbau ging.“ Schon damals war ihm aber auch klar, dass Otto Mühl nicht den richtigen Weg ging, er verließ daher dessen Kommune nach sechs Monaten: „Ich wollte meine Qualen an der Kunst und nicht an den Menschen abarbeiten.“ Auf Mitstreiter habe er nie gewartet: „Ich habe mich nie gefragt, warum die anderen nicht aufgebracht sind, sondern: Bin ich aufgebracht genug?“ Ohne die Revolution in Frage zu stellen, erinnerte Turrini daran, dass der revolutionäre Tatendrang leider vor dem Leben anderer Menschen nicht Halt machte und führte den deutschen Terrorismus an, der viele Tote zur Folge hatte.
„Als niederösterreichische Landpomeranze in Wien hatte ich gerade mein Studium abgeschlossen und begonnen, als Volkswirtin in der Nationalbank zu arbeiten“, schilderte Rotraud A. Perner ihren Einstieg in die „Wiener Szene“, in der sich die Revolution abspielte. Sie kam in die Kreise, die das Café Savoy in Wien frequentierten, in dem Otto Mühl Hof hielt. Vieles, was damals passierte, kann sie heute analytisch verstehen, wenn auch nicht gutheißen. Zur sogenannten „Uni-Ferkelei“ meint sie: „Ich hätte nicht mitgemacht und hatte auch kein Verständnis dafür.“ Um zu schockieren und Aufsehen zu erregen, gäbe es andere Wege. Damals ging es aber vor allem darum, zu zertrümmern, was unwidersprochen akzeptiert wurde.
Allgemein wäre die Bedeutung von vielen Themen und Ereignissen erst später klar geworden: „Was damals gefehlt hat, waren Erklärungen.“ Das Verdienst der 1968er-Bewegung sieht sie heute darin, dass sie die Strukturen der Macht aufzeigte, nämlich „Machtstrukturen in der Beziehung und in der Gesellschaft. Darüber zu reden war bis dahin ein Tabu. Wir wären also heute nicht so weit, hätte es 1968 nicht gegeben.“
Hannes Etzlstorfer war im Mai 1968 neun Jahre alt. Auf das Jahr 1968 angesprochen, erinnert er sich an im August 1968 durch Freistadt im Mühlviertel rollende Panzer und an das große Blumenbukett, das den eigentlich unübersehbaren Babybauch seiner älteren Schwester bei der Hochzeit kaschieren sollte. „Das Uni-Happening ‚Kunst und Revolution‘ im Juni im Audimax ist natürlich ein Skandal als punktuelles Ereignis. Im Bogen, der Kokoschka und Schiele als Ausgangspunkt hat, ist es aber eine logische Weiterentwicklung“, bot Etzlstorfer die entsprechenden Kontextualisierungen.
Es musste damals alles ausgereizt werden, was die bürgerliche Moral brüskierte: Eine Picasso-Ausstellung in Wien hatte 1968 zur Folge, dass eine „Liga gegen entartete Kunst“ gegründet wurde, Picasso war für viele ein Feindbild. VALIE EXPORT erregte mit ihrem „Tapp- und Tastkino“ Aufsehen, und Etzlstorfer erzählte von einer Aktion eines Mannes, der an 32 Verlage Fragmente von Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“ schickte und nur von einem eine positive Antwort bekam – und das war ein Erotik-Verlag. „Was jemand 1968 gemacht hat, ist bis heute ein Reibebaum“, ist er sich sicher. Der Titel einer damaligen Radiosendung für Kinder ist symptomatisch für dieses Jahrzehnt: „Seid mucksmäuschenstill“.
Peter Turrini ergänzt: „Das Theater war zur Abonnentenhure verkommen, die Menschen konnten darinnen beruhigt einschlafen. Es ist kein Wunder, dass Peter Handke mit seiner ‚Publikumsbeschimpfung‘ die Leute aufrüttelte. Was heute eine ästhetische Gaudi ist, war damals eine Revolution: ‚Es gibt kein Theater mehr, Sie das Publikum, Anm. sind das Theater.‘“ Rotraud A. Perner: „Die Reife einer Gesellschaft erkennt man am Umgang mit dem Widerspruch.“
"Es war klar, dass das irgendwann einmal in die Luft fliegen muss." Wilhelm Pevny
Was bleibt?
Was blieb und bleibt von 1968? Die 68er seien in Österreich im Rückblick „erfolgreich gescheitert“, meint Karl Vocelka, zwar hätten sie eine gesellschaftspolitische Öffnung bewirkt die Grünen-Bewegung wäre ohne die 68er ebenso wenig vorstellbar gewesen wie die Demokratisierung der Universitäten in den 1970ern, oder die späte Aufarbeitung der Rolle Österreichs im Nationalsozialismus. Das politische System, gegen das man angekämpft habe, sei aber dasselbe geblieben. „Nach 1968 hat man in Österreich weitergewurstelt wie vorher“, so der Historiker.
Was würde an der heutigen Gesellschaft ohne 1968 ganz anders aussehen? „Die Beziehung zwischen Mann und Frau fällt mir als Erstes ein. Und dass es überhaupt ein soziales Bewusstsein gibt. Dass man sagt, der Gap zwischen Arm und Reich ist so groß, das war ja vorher kein Thema. Dass die Gerechtigkeit immer wieder noch eine Rolle spielt. Ich glaube, in ganz vielen Bereichen hat ’68 seine Spuren hinterlassen“, ist hingegen Autor Wilhelm Pevny überzeugt.
"Die Reife einer Gesellschaft erkennt man am Umgang mit dem Widerspruch." Rotraud A. Perner
Die Autoren
Dr. Reinhard Linke, Redakteur beim ORF Niederösterreich in St. Pölten,
Autor mit den Schwerpunkten Geschichte und Kultur.
Mag. Florian Müller, Pressesprecher des Museum Niederösterreich in
St. Pölten, Journalist und Universitätslektor.
Erzählte Geschichte
Die nächste Veranstaltung der Gesprächsreihe „Erzählte Geschichte“ im Haus der Geschichte in St. Pölten ist am 16. Oktober. Zum Thema „100 Jahre Frauenwahlrecht in Österreich“ diskutieren die Publizistin Elfriede Hammerl, die Autorin und Schauspieler-in Chris Lohner und der Wissenschaftliche Leiter des Hauses der Geschichte, Christian Rapp.