MFG - Sagenhaft!
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MFG - Das Magazin
St. Pöltens gute Seite

Sagenhaft!

Text Thomas Fröhlich
Ausgabe 06/2022

Sagen aus St. Pölten? Gibt es diese überhaupt? Während etwa Wien über Ikonisches wie den Lieben Augustin, das Donauweibchen oder den Basilisken verfügt, bleibt für St. Pölten scheinbar nicht viel übrig. Der gebürtige St. Pöltner Autor und Satiriker Michael Ziegelwagner beweist allerdings derzeit in seinem Buch „Als der Teufel gegen den Bischof Krenn beim Schnapsen verlor“ das Gegenteil.

„Bei Michael Ziegelwagner ist man in guter Gesellschaft, lernt was und amüsiert sich doch.“ 
(Harry Rowohlt, 2011)

St. Pölten hat ja tatsächlich keine Sagentradition. Aber als ich wieder einmal durch die Stadt ging, fiel mir dieser Haken am Eck des Hauses Herrenplatz Nr. 6 auf, der wie ein zu hoch gehängter Garderobehaken aussieht. Ich dachte, woher kommt das? Das könnte doch ein Freiluft-Haken für die Jacke eines Riesen sein; und daraus entstand die Sage vom Riesen am Herrenplatz. Ich nehme an, in Wirklichkeit hat der Haken etwas mit der Stromversorgung und irgendwelchen Kabeln zu tun. Ich habe diese Gedanken dann weitergesponnen. Und mir gesagt, tun wir so, als ob St. Pölten eine Sagenstadt wäre.“ Das war dann der Startschuss für Michael Ziegelwagners neustes Buch „Als der Teufel gegen den Bischof Krenn beim Schnapsen verlor“. Denn wer genauer hinsehe, könne auch hier jede Menge Sagenpersonal entdecken.
Der gebürtige St. Pöltner Schriftsteller und Kolumnist des Satiremagazins Titanic hat sich auf die Suche begeben und schildert auf überaus unterhaltsame Weise, wie die St. Pöltner den Wienern ihr Donauweibchen abluchsen wollten, warum das Rathaus rosa ist, welcher Fluch auf der Stadt lastet und wo der Teufel, Till Eulenspiegel, Richard Löwenherz, ein exhibitionistischer Riese und Franz Schubert ihre Spuren hinterlassen haben. „Ich hatte im Grunde zwei Zugänge. Der erste: Man geht durch die Stadt und schaut, was kann man bearbeiten. Da kommen sogar Sagen aus dem 20. und 21. Jahrhundert dabei heraus, etwa übers Regierungsviertel. Der zweite Zugang: Man nimmt sich die Sagen von woanders und transferiert sie, etwa das Donauweibchen aus Wien.“ Auf meine Frage, wie sich Bischof Krenn auf den Buchtitel verirrt habe, lacht Ziegelwagner: „Wahrscheinlich ist er der berühmteste St. Pöltner, der nicht aus St. Pölten stammt!“ 
Wir sitzen im Wiener Kaffeehaus Weidinger, einem der letzten nicht zu Tode renovierten traditionellen Wiener Kaffeehäuser. Der frisch gebackene Sagenerzähler lebt seit einigen Jahren in Wien, besucht aber regelmäßig seine Heimatstadt. „Ich hab‘ als Baby in St. Pölten gewohnt, dann in St. Georgen und Obergrafendorf. Als Jugendlicher sagte ich mir, nichts wie weg! Inzwischen mag ich St. Pölten wieder recht gern. St. Pölten gilt für viele als Witz-Platzhalter, als automatische Pointe. Da muss man schon dagegenhalten.“
Ziegelwagner wurde 1983 geboren und studierte Journalismus in Wien. Nach seinem Diplom begann er, für das deutsche Satiremagazin Titanic zu schreiben, war bis vor Kurzem dort als Redakteur tätig, ist nun Feuilleton-Chef und verfasst regelmäßig Kolumnen und Beiträge. Außerdem schreibt er für den österreichischen Standard und die TAZ. 2011 veröffentlichte er mit „Café Anschluss“ sein erstes Buch. Ziegelwagners Romandebüt „Der aufblasbare Kaiser“ befand sich auf der Longlist des Deutschen Buchpreises. 
„Unbekannt in deutschem Land sind Café und Würstelstand“ nennt sich die Neuauflage von „Café Anschluss“ – und nicht nur wegen Ziegelwagners Mitarbeit im Titanic wirft das die Frage auf, inwieweit sich deutscher und österreichischer Humor voneinander unterscheiden. Die Antwort mag überraschen: „Die Grenzen existieren eigentlich gar nicht.“ Allerdings: „Geschriebene Satire gibt’s in Österreich eigentlich nimmer. Diese findet dafür flächendeckend auf der Bühne und im Film statt.“ Doch er räumt ein Ausnahmetalent ein: „Antonio Fian.“ Und was mögliche Vorbilder betrifft, ergänzt er: „Eckhard Henscheids Sagen- und Märchenton, den er neben vielen anderen Tönen auch draufhat, hat bestimmt eine Rolle gespielt, dass ich Lust bekommen habe, dieses Sagenbuch zu schreiben.“
Was kann und darf eigentlich Satire? „Alles, was man künstlerisch behandeln kann, kann man auch satirisch behandeln.“ Gibt’s für ihn persönliche Schmerzgrenzen? „Wo ich mich nicht auskenn‘, da lass‘ ich’s.“ So gebe es auch zwei Weisen, an Satire heranzugehen: „Froschperspektive versus Adlerperspektive. Für Letztere musst du halt schon sehr gut sein.“ Bei ersterer schlüpfe man mitunter eben in einen Charakter hinein, den man nicht mag, „bisweilen bis zum Erbrechen. Das nennt man dann Überidentifikation.“ Obgleich Ziegelwagner angesichts der derzeitigen Weltlage ein wenig seufzt: „Wenn du heute rausgehst, kannst du im Grunde anfangen, ‚Die letzten Tage der Menschheit‘ neu zu schreiben.“ Der Wunsch nach Literatur und Satire sei bei ihm schon immer vorhanden gewesen. „Ich mag diese ‚uneigentliche‘ Art des Sprechens. Ich weiß nicht, wer sich noch an die satirische Comic-Zeitschrift MAD erinnert. Die mochte ich sehr. Deren Chef, der österreichstämmige Herbert Feuerstein, erzählte mir übrigens einmal, Helmut Qualtinger chauffiert zu haben.“ Humortransfer, sozusagen. „Und dann, mit zwölf, schrieb ich meinen ersten Roman. Es war die Geschichte eines (noch dazu schottischen) Milliardärs, recht epigonal Don Rosas toller ‚Onkel Dagobert‘-Lebensgeschichte nachgebildet. Nennen wir‘s mal Hommage. Da wusste ich: Ich habe potenziell den Atem zu längerem Schreiben.“ Der Roman wurde allerdings nicht veröffentlicht, wie Ziegelwagner grinsend anmerkt. 
Bei seinem aktuellen Sagenbuch mischen sich die Formen: „Manches hat einen satirischen Touch, manches kommt als Märchen daher. Es geht hier einerseits um eine Mystifikation des Ortes, zugleich beinhaltet es auch einen aufklärerischen Aspekt: Verzauberung und Entzauberung in einem.“ Es gebe dann zwei Arten von Rezipienten, „jene, die sich lokalpatriotisch verzaubern lassen, und jene, die der Entzauberung huldigen.“ Und er meint: „Beide haben recht.“ Dann denkt Ziegelwagner kurz nach: „Oder auch nicht.“
Als abschließende Empfehlung gibt der Autor den MFG-Lesern noch eine mit auf den Weg: „Füllt eure Orte mit Sagen auf!“
Alles klar! Da gibt es doch diesen pittoresken Innenhof, der sich ausschließlich beim Höfefest materialisiert und den Rest des Jahres geheimnisvoll in anderen Dimensionen zu weilen scheint.
Von diversen Haken ganz zu schweigen …