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Verunsicherung durch Migration


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Verunsicherung durch Migration

Text Biffl Gudrun
Ausgabe 06/2016

Das diesjährige Symposium Dürnstein beschäftigte sich mit der Frage „Vertrauen in unsicheren Zeiten“. Univ. Prof. Gudrun Biffl setzte sich mit der Frage „Verunsicherung durch Migration“ auseinander. Anbei ihr Vortrag in gekürzter Form.

Der massive Ansturm von Flüchtlingen im Sommer 2015, der bis zum Jahresende anhielt, hat vieles in Europa verändert. Zwischen August und Dezember erreichten mehr als 100.000 Flüchtlinge monatlich über den Seeweg Europa, vorwiegend über die Türkei und die Balkanroute. Insgesamt kamen 2015 an die 1,4 Millionen Flüchtlinge nach Europa, Großteils nach Deutschland (1,1 Millionen), Schweden (163.000) und Österreich (90.000) – im Vergleich dazu waren es rund 570.000 im Jahr 2014. In der Folge gewannen Migrationen einen neuen Stellenwert in der öffentlichen Meinung.
Seit dem Herbst 2015 sieht eine Mehrheit der Bevölkerung aller EU-Mitgliedsstaaten (58% in der EU-28 gemäß Eurobarometer vom November 2015) in den Migrationen das größte Problem Europas, aber auch das größte im eigenen Land. Deutlich dahinter lagen der Terrorismus (25% der Befragten), die wirtschaftliche Lage (21% der Stimmen), und die Arbeitslosigkeit ex aequo mit der finanziellen Situation der Staatshaushalte mit jeweils 17% der Befragten.
Die Stimmung in der Bevölkerung ist zwiespältig: Einerseits gibt es und gab es ein noch nie da gewesenes Ausmaß an ziviler Hilfsbereitschaft und Herzlichkeit, angeführt von Bundeskanzlerin Angela Merkel’s Spruch „Wir schaffen das“, der an den Ausspruch von US-Präsident Obama „Yes we can“ erinnerte, andererseits gibt es eine abweisende Haltung, die seitens der Politik von Ungarns Premierminister Viktor Orbán angeführt wird, aber auch in allen Mitgliedsländern zunehmend Anhängerschaft findet.
Die Länder, wo die Bevölkerung in der Migration ein besonders großes EU-Problem sieht, sind Estland, Tschechien, Dänemark und Deutschland, knapp gefolgt von Malta, Niederlande, Slowenien, Schweden und der Slowakei (mit über 70%). Österreich liegt mit 66% der Befragten im oberen Mittelfeld. Am geringsten ist die Besorgnis über die Migrationen in Spanien (39%) und Portugal (31%). Damit rückte zum ersten Mal seit der EU-weiten Erfragung der öffentlichen Meinung ein Thema in den Vordergrund, das nicht direkt mit der Wirtschaft in Verbindung gebracht wird.
Dabei gilt es zwischen der Zuwanderung aus anderen EU-Mitgliedsstaaten und aus Drittstaaten zu unterscheiden. Während die Einwanderung von Menschen aus anderen EU-Mitgliedsstaaten bei einer zunehmend breiten Bevölkerung positiv bewertet wird, und zwar von 55% der Bevölkerung (gegenüber 38% ablehnender Stimmen), ist das bei Personen aus Drittstaaten in viel geringerem Maße der Fall (34% positiv gegenüber 59% negativ). Dabei weist die öffentliche Meinung eine große Bandbreite auf. Es gibt Länder, die die Zuwanderung von Menschen aus anderen EU-Mitgliedsstaaten stark befürworten, nämlich Schweden (80%), Finnland (74%) und Luxemburg (77%), während es am anderen Ende des Spektrums mehrheitlich eine Ablehnung gibt, so etwa in Tschechien und Zypern (jeweils 56%) und Griechenland (50%). In Österreich überwiegt zwar die positive Bewertung der EU-Zuwanderung (55%), jedoch ist die Ablehnung ebenfalls vergleichsweise hoch und steigend (40%).
Was die Zuwanderung aus Drittstaaten anbelangt, so ist die Ablehnung in den Mittel-Osteuropäischen Ländern besonders hoch, angeführt von der Slowakei und Lettland (beide 86%), Ungarn (82%), der Tschechischen Republik und Estland (beide 81%). Am anderen Ende des Spektrums stehen Länder, in denen die Mehrheit der Bevölkerung die Zuwanderung von Drittstaatsangehörigen positiv bewertet, etwa in Schweden (70%) und in Spanien (53%). In Österreich ist die positive Bewertung der Zuwanderung aus Drittstaaten im EU-Vergleich leicht unterdurchschnittlich (31% gegenüber 34%) während die positive Bewertung der Zuwanderung aus EU-Mitgliedsstaaten dem Durchschnitt entspricht.
Verunsicherung greift um sich
Diese Ausführungen zeigen, dass sich in der Bevölkerung im Gefolge der jüngsten Flüchtlingswelle Unsicherheit breit gemacht hat, was die Auswirkungen der Einwanderung auf die EU bzw. das eigene Land anbelangt. Die Unsicherheit wird nicht zuletzt durch das zeitliche Zusammentreffen der Flüchtlingsströme mit einer geänderten Terrorismusstrategie von ISIS verstärkt. Letztere schlägt sich in brutalen Terroranschlägen in Europa nieder, wobei nicht selten hier sesshafte Migranten von Terroristen in physische und psychische Geiselhaft genommen werden.
Daraus entstehen Misstrauen und Vertrauensverlust in der Gesellschaft, und zwar sowohl in Bezug auf die Handlungsfähigkeit der Politik als auch auf die hier ansässigen Migranten sowie die Flüchtlinge. Deren ethnisch-kulturelle Vielfalt, die damit verbundenen unterschiedlichen Verhaltensmuster sowie die unterschiedliche rechtliche Situation führt zu Verwirrung – allein schon die verschiedenen Formen der Migration: Arbeitsmigration, Familienmigration, Fluchtmigration sind nicht allseits bekannt, noch viel weniger die Differenzierung im Aufenthaltsrecht: Flüchtling, Asylwerber, subsidiär Schutzberechtigter, Niederlassungsrecht, Aufenthaltsbewilligung etc. Das mehr oder weniger offene Misstrauen der Aufnahmegesellschaft gegenüber den Zugewanderten löst wiederum Ablehnung bei Migranten aus, die sich fragen müssen, warum sie sich oder ihre Herkunfts- bzw. Glaubensgenossen verteidigen oder sich von ihnen distanzieren sollen. Gerade Letzteres ist angesichts der Vielfalt und der Komplexität der Migrationsgründe schwierig. Auch sind nicht wenige der Migranten nicht nur wegen der Hoffnung auf eine Verbesserung ihrer wirtschaftlichen Lage nach Europa gekommen, sondern weil sie Konflikten in ihrer Herkunftsregion entkommen wollten oder der Diskriminierung und Verfolgung.
Daraus wird die Janusköpfigkeit der Verunsicherung im Zusammenhang mit Migrationen ersichtlich: Sie betrifft die Aufnahmebevölkerung ebenso wie die zugewanderte und gefährdet den sozialen Zusammenhalt, der ein wesentlicher Garant für das Wohlbefinden in einer Gesellschaft ist. Darüber hinaus geht es um das Vertrauen in Dritte, insbesondere die Handlungsfähigkeit des Staates.
Das Vertrauen reduziert im Wesentlichen den Grad der Komplexität von Entscheidungen in unserem Alltag. Auch die Vertrauenswürdigkeit der EU hängt davon ab, welche Kompetenzen sie hat und in welchem Maße die Einhaltung von Verträgen sichergestellt werden kann.
Es geht aber auch um psychologische Aspekte, die das Vertrauen von Individuen in das Verhalten anderer betreffen, insbesondere in gesellschaftlich relevantes Verhalten, wie den Umgang mit Frauen, Kindern und Jugendlichen oder dem Alter. Diesbezügliche Verhaltensmuster sind kulturell geprägt, und auch wenn sie dieselbe Wertigkeit haben mögen, so unterscheiden sich doch die Ausdrucksformen. Zum besseren gegenseitigen Verständnis braucht es daher in einer Migrationsgesellschaft Orientierungshilfen für alle sowie einen Diskurs darüber, der durchaus auch konflikthaft sein kann. Er ist die Voraussetzung dafür, dass man das jeweilige Gegenüber erkennt und akzeptiert. Diese kommunikationswissenschaftliche Perspektive kann auf Medien und die dort transportierten Informationen ausgeweitet werden. Die Herausforderung besteht darin, mittels Kommunikation das Vertrauen zu vergrößern, unterstützt durch eine geeignete Organisationsform und rechtliche Rahmenbedingungen.
In dem Zusammenhang kommt den sozialen Netzwerken eine besondere Bedeutung zu. Je größer das Vertrauen in das Sozialnetz, desto geringer der Bedarf an staatlicher Unterstützung. Das lebt uns die Einwanderungspolitik der USA vor, die sich voll auf die ethnischen und familiären Netzwerke bei der wirtschaftlichen und sozialen Integration verlässt. Es sollte uns daher auch nicht verwundern, dass viele Flüchtlinge aus Syrien nach Deutschland und Schweden wollten. Beide Länder hatten bereits vor Beginn des Bürgerkriegs in Syrien eine recht umfangreiche syrische Herkunftsgemeinschaft, die zumindest zum Teil unterstützend wirken kann. Dieser Aspekt wird in der öffentlichen Diskussion um Flüchtlinge häufig übersehen. Eine Verteilung der Flüchtlinge innerhalb der EU oder innerhalb eines EU-Mitgliedsstaates kann nicht nur nach administrativen Erwägungen entlang von Aufnahmekapazitäten erfolgen, sondern sollte auch die sozialen Netzwerke der Migranten berücksichtigen. Und noch etwas: Vertrauen kann sich nur in einem Dialog aufbauen, und daher spricht viel für die Unterbringung in kleinen Wohneinheiten mit Kontakt zur Nachbarschaft und nicht für große, abgeschottete Heime.
Europäische Migrationspolitik
Und das bringt mich wieder zurück zur öffentlichen Meinung, die im Eurobarometer im November 2015 abgefragt wurde. Angesichts der Erkenntnis, dass irreguläre Migration nicht planbar ist und dass sich Nationalstaaten in der derzeitigen Flüchtlingskrise sehr unterschiedlich verhalten, steht die Frage im Raum, was sich die EU-Bürger eigentlich wünschen: eine gemeinsame europäische Einwanderungspolitik oder eine nationalstaatliche? Die Befragung zeigt, dass eine überwältigende Mehrheit der EU-Bürger (68%) für eine gemeinsame Migrationspolitik ist.
In allen EU-Mitgliedsstaaten außer in Tschechien ist die Mehrheit der Bevölkerung der Meinung, dass es eine gemeinsame EU-Migrationspolitik geben sollte. Es gibt aber vorwiegend in den neuen EU-Mitgliedsstaaten – Tschechien (55%), Ungarn und Estland (39%), Lettland (38%), Slowakei (37%), Slowenien (32%), Polen (31%) – aber auch in Österreich (37%), dem Vereinigten Königreich (36%) und Finnland (31%) eine relativ große Zahl von Personen, die den Verbleib der Migrationsagenden in den Nationalstaaten sehen wollen.
Diese nationalen Positionierungen spiegeln auch die politische Position der Nationalstaaten in den derzeitigen Krisensitzungen der EU wider, wobei allerdings darauf aufmerksam zu machen ist, dass auch in den Ländern, in denen ein vergleichsweise hoher Prozentsatz für den Verbleib der Migrationspolitik im Nationalstaat ist, doch die Mehrheit eine gemeinsame Politik vorziehen würde.
Angesichts der politischen Brisanz der Flüchtlingssituation, die die Gefahr birgt, dass demokratische Strukturen in Nationalismen untergehen und einige der wesentlichsten Errungenschaften der EU zerbrechen, etwa die freie Mobilität in der EU, sind demokratiefördernde und die Menschenrechte sichernde Aktivitäten angesagt. Hierzu gehören vertrauensbildende Maßnahmen, die die Integration der neu zugewanderten Flüchtlinge fördern, und in die die hier lebenden Migranten eingebunden werden. Letztere können als Vermittler fungieren, da sie oft die Herkunftssprache und die Mentalität der Flüchtlinge kennen. Wichtig ist aber auch, dass das Vertrauen in den Staat und das Rechtssystem entwickelt oder gestärkt wird. Viele der Migranten kennen keine unabhängige Justiz und haben eher schlechte Erfahrungen mit der Staatsmacht gemacht. Nicht zuletzt deshalb haben sie ja den Weg zu einem Europa der Wertegesellschaft gesucht, in dem die Menschenrechte hoch gehalten werden. Die Frage stellt sich nur: Wie lange können sie angesichts der derzeitigen politischen Entwicklungen noch an den Europäischen Wertekanon glauben?
In dem Zusammenhang ist auf das Paradoxon zu verweisen, dass wirtschaftlich schwächere Länder, die Herkunftsländer von Fluchtmigranten sind oder die als Korridor für (Flucht-)Migration dienen, eine so starke Verhandlungsposition gegenüber der EU, und vor allem auch gegenüber den einzelnen EU-Mitgliedsstaaten, haben, dass sie Europa unter Druck setzen können. Wie kann es möglich sein, dass Länder wie Österreich oder Ungarn eine Defensivstrategie der Schließung der Grenzen einer gemeinsamen europäischen Lösung vorziehen? Tragen sie nicht mit ihrer Vorgangsweise zur Schwächung der Verhandlungsposition der EU bei? Wäre es nicht sinnvoller, dass mit den wichtigsten Herkunftsländern, die allerdings nicht in einer Bürgerkriegssituation verfangen sein sollten, auf EU-Ebene im Namen aller EU-Mitgliedsstaaten Entwicklungsabkommen geschlossen werden, die auch ein Rücknahmeabkommen von abgewiesenen Asylwerbern beinhalten? Ich bin davon überzeugt, dass eine derartige Vorgangsweise nicht nur das Vertrauen der EU-Bürger in die Handlungsfähigkeit der EU steigern würde, sondern auch ein Signal nach außen wäre, dass Europa keine Kompromisse eingehen will, die einem Ausverkauf der europäischen Werte zugunsten einer ‚verängstigten‘ Wählerschaft gleichkommt.  
Wenn die Politik das Vertrauen ihrer Bevölkerung im Bereich der Migrationen zurückgewinnen will, dann muss es dazu auch einen öffentlich geführten Dialog geben, in den sie eingebunden wird. Dabei ist es nicht hilfreich, nur Extrempositionen zu bringen, in denen die Einen nur auf die positiven Aspekte der Migrationen verweisen und die Anderen nur auf die Probleme mit Parallelgesellschaften, Diskriminierung und Ausgrenzung. Das gilt für die (ideologische) Position von Politikern ebenso wie für Stimmen von Migranten oder Einheimischen. Häufig zählen die Extrembefürworter der Migration zu den Gewinnern des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wandels, in dem die Migrationen keine unwesentliche Rolle spielen, und die Ablehnenden zu den Verlierern. Die große Masse der Bevölkerung liegt aber dazwischen und hat eine differenziertere Meinung als ihr oft von der Politik zugestanden wird. Sie ist sehr heterogen und hat unterschiedliche Probleme, und damit verbunden auch unterschiedliche Vorstellungen über den Effekt der Migrationen auf ihr Leben. Sie sieht Vor- und Nachteile und erkennt den umfassenden Wandel, der mit Migrationen und Globalisierung Hand in Hand geht, und dem sie sich nicht wirklich entgegen stemmen kann.
Es gilt daher einen Kompromiss zu finden, der den sozialen Zusammenhalt und das gegenseitige Vertrauen stärkt. Dafür braucht es den Dialog, in dem auf den verstärkten Wettbewerb eingegangen wird, den Migrationen in dem einen oder anderen Bereich mit sich bringen und wofür eine Lösung gefunden werden muss, etwa über die Förderung der Aus- und Weiterbildung, vermehrten Wohnbau und den Ausbau des öffentlichen Verkehrs. Wichtig ist auch die Erkenntnis, dass Menschen zwar kein ‚Bollwerk Europa‘ haben wollen, dass sie aber auch nicht für die Abschaffung von Grenzen und Grenzkontrollen sind, wobei die Grenzen definiert sein müssen, etwa die Schengengrenze. Und dazu gibt es Rechtsakte, deren Einhaltung von der EU gefordert werden kann und muss, sonst wird das Vertrauen in die EU untergraben.