Ein (Gerichts)Drama in Kassel
Text
Johannes Reichl
Ausgabe
05/2025
Die fristlose Entlassung von Schauspielleiterin Patricia Nickel-Dönicke am Staatstheater Kassel löste in der hessischen Großstadt ein kleineres Erdbeben aus, dessen Schockwellen sogar bis nach St. Pölten zu spüren waren. Wenig verwunderlich: Die gebürtige Potsdamerin tritt 2026 die Nachfolge von Marie Rötzer als künstlerische Leiterin des Landestheaters Niederösterreich an.
Wenn man etwas bei einem Arbeitsplatzwechsel so sehr braucht wie einen Kropf, dann sind das Negativschlagzeilen. Fristlose Entlassungen sind (zumal wenn sich die Streitparteien über den/die Gründe in Schweigen hüllen) ein besonderer Overkill, weil sie rasch ein dem persönlichen Ruf wenig zuträgliches Spekulationskino anwerfen von wegen „Was ist da los? Gabs Unregelmäßigkeiten, persönliche Vorteilnahme, Pflichtverletzungen …?“ Der Kurier etwa thematisierte, obwohl dies in keinem Kontext zur Entlassung stehen dürfte: „Gegenüber dem KURIER haben ehemalige Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen unter anderem eine hohe Personalfluktuation erwähnt. Ihre häufigen Job-Wechsel hätten ihre Gründe – unter anderem in der Mitarbeiterführung.“ Der Schaden ist also angerichtet, wobei Anwalt Marcus Baum auf Nachfrage betont, dass die wahren Gründe „eine Lapalie“ seien welche eine fristlose Entlassung in keiner Weise rechtfertigen würden. Der Arbeitsrechtler wurde von Patricia Nickel-Dönicke sodenn beauftragt, juristisch gegen die Kündigung vorzugehen – im Raum steht eher ein persönliches Zerwürfnis mit Intendant Florian Lutz. In einem Statement hält die Schauspielleiterin fest: „Die vom Staatstheater Kassel behaupteten Kündigungsgründe sind entweder in tatsächlicher Hinsicht unzutreffend oder rechtlich nicht geeignet, eine außerordentliche Kündigung zu rechtfertigen. Daher werde ich gegen die Kündigung vorgehen“
Ein Einzelfall ist Nickel-Dönickes Gang zum Kadi dabei nicht, sorgte das Staatstheater Kassel in den letzten Jahren in Sachen Personal doch mehrmals für negative Schlagzeilen. Lotte Thaler kam 2024 in der FAZ zum Befund: „Was derzeit am Staatstheater Kassel aufgeführt wird, ist große Oper und Posse zugleich. Aber nicht auf, sondern hinter der Bühne. Ein kulturpolitisches Debakel, neubürgerliches Hoftheater über Manipulation von Belegschaft und Presse, Täuschung der Öffentlichkeit und einen verheerenden Führungsstil.“
Für Thaler scheint der „Schurke“ des Dramas rasch ausgemacht: „Der Intendant Florian Lutz gibt sich nach außen als Chefideologe der Wokeness. Intern benehme er sich wie ein ‚Zar‘, heißt es aus der Belegschaft.“ Auch die HNA berichtete „Im Orchester, aber auch in anderen künstlerischen Abteilungen des Theaters herrsche derzeit ein Klima der Angst – dieses Bild bestätigen übereinstimmend Gespräche der HNA mit Insidern.“ Axel Brüggemann von „Backstage Classical“ hingegen vermutet als Auslöser der Querelen einen Kulturkampf zwischen Modernisierern und Bewahrern und verwies in seinem Beitrag „Kampf um Kassel“ darauf, dass es „in Gesprächen mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Hauses durchaus Stimmen gab, die sich für den Kurs des Intendanten begeistern.“
Faktum ist: Zwischen Generalmusikdirektor Francesco Angelico und Lutz kam es mehr oder weniger zum offenen Bruch. Angelico gab schließlich bekannt, seinen Vertrag nicht zu verlängern, zudem zog er sich aus dem Musiktheater-Bereich zurück und begnügte sich mit der Rolle des Chefdirigenten, in Wahrheit ein Desaster. Im Zuge der Suche nach einem Nachfolger eskalierte der Konflikt zwischen Intendanz und Orchester und gipfelte darin, dass Lutz – wie es die Gewerkschaft Visio formulierte – einen „Maulkorb-Erlass“ an die Mitglieder verteilte sowie einige Vorstandsmitglieder wegen angeblicher Indiskretion ab- bzw. ermahnte. Die Betroffenen klagten dagegen vorm Arbeitsgericht – und bekamen recht. Das Orchester versagte dem Intendanten auch in der Frage einer frühzeitigen Vertragsverlängerung die Gefolgschaft und sprach sich mit 98 % dagegen aus – verlängert wurde er trotzdem.
Für das ferne St. Pölten wäre all dies natürlich weit entfernter Theaterdonner, wenn da nicht – als letzter Akt – eben die fristlose Entlassung von Nickel-Dönicke hereingeschneit wäre. Auch sie hatte nach eigener Darstellung wie Angelico aufgrund des allgemeinen schlechten Klimas ihren Vertrag nicht verlängern wollen. „Zu Recht weist die aktuelle Veröffentlichung der lokalen Tagespresse auf die unter der aktuellen Hausleitung geschehenen ‚personelle(n) Wechsel, die nicht konfliktfrei verlaufen sind‘ hin“, und weiter „Ich hatte mich bereits vor den aktuellen Ereignissen bewusst entschieden, meinen Vertrag in Kassel nicht zu verlängern.“ An Nickel-Dönickes Kompetenz dürfte der Bruch im Übrigen nicht liegen, verweist das Staatstheater Kassel in seiner Erklärung zur Fristlosen doch auf den „künstlerisch hochkarätige und erfolgversprechende Schauspiel-Spielplan 2025/26“, der auch nach Abgang der Schauspielleiterin so umgesetzt werde.
Diese Erfolge, zuvor schon auf ihren Vorstationen Darmstadt, Heidelberg, Mainz oder Oberhausen unter Beweis gestellt, hatten nicht zuletzt die NÖKU-Führung im Vorjahr davon überzeugt, die 47-jährige Theatermacherin aus einem Bewerberfeld von 49 KandidatInnen zur Nachfolgerin von Marie Rötzer zu küren. Von den Vorfällen in Kassel sei man dann von Nickel-Dönicke selbst unmittelbar in Kenntnis gesetzt worden – und sieht keinen Grund an der vorjährigen Entscheidung zu zweifeln. „Wir haben natürlich auch zu den Vorfällen in Kassel mit ihr und auch einigen ihrer ehemaligen und aktuellen KollegInnen Gespräche geführt, um uns selbst ein Bild zu machen“, so Landestheater-Geschäftsführer Georg Kandolf und NÖKU-Boss Paul Gessl, „aufgrund dieser – mit großer Transparenz – geführten Gespräche sind wir überzeugt, dass Patricia Nickel-Dönicke die Umstände aufklären kann, arbeiten weiterhin konstruktiv an der Vorbereitung ihrer ersten Spielzeit am Landestheater Niederösterreich, halten an der Personalentscheidung fest und haben Patricia Nickel-Dönicke das Vertrauen ausgesprochen.“
Selbstverständlich haben wir auch beim Staatstheater Kassel nachgehakt, bekamen auf unsere Anfrage aber nur jenes dürre Statement, das man schon im April lanciert hatte: „Aus personalrechtlichen Gründen können zum jetzigen Zeitpunkt dazu keine weiteren Details kommuniziert werden.“ Aufklärung bringt also wohl erst der nächste Akt im (Gerichts)Drama in Kassel.