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Bewegte Zeiten


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St. Pöltens gute Seite

Bewegte Zeiten

Ausgabe 12/2012

Der Zeitraum zwischen den Weltkriegen brachte große Veränderungen für das ehemals so beschauliche Städtchen an der Traisen. Das Stadtmuseum widmet den wechselvollen Jahren aktuell die Sonderausstellung „Eine Stadt in Bewegung – St. Pölten 1918-1938“. Eine Überblick von Stadthistoriker Thomas Lösch.

Mit der Auflösung der österreichisch-ungarischen Monarchie und der Ausrufung der Republik „Deutsch-Österreich“ am 12. November 1918 war die alte Ordnung dahin. Dieser frische Wind wehte auch in St. Pölten. Endlich konnte das allgemeine und gleiche Wahlrecht auch auf kommunaler Ebene verwirklicht werden. Die  Wahlen zum Gemeinderat 1919 brachten eine absolute Mehrheit für die Sozialdemokratie und bedeuteten das Ende der liberalen Ära.
Das rote (Groß)St. Pölten
Mit dem aus der Metaller-Gewerkschaft stammenden Bürgermeister Hubert Schnofl an der Spitze ging die Sozialdemokratie daran, die Stadt neu zu gestalten und planvoll die Lebensumstände für die Masse der Bevölkerung zu verbessern: Bereits vor dem Wahlerfolg hatten sie ein kommunales Aktionsprogramm aus der Feder des späteren Finanzstadtrats Dr. Julius Fischer vorgelegt. In diesem waren die gesellschafts- und kommunalpolitischen Vorstellungen der SDAPÖ-St. Pölten auf 24 eng beschriebenen Seiten dargelegt. Kaum zu glauben: Hier wurde bereits die Forderung nach Gratis-Schulbüchern für alle, unabhängig vom Einkommen, erhoben.
Eine weitere Forderung war die Errichtung von Groß-St. Pölten durch die Eingemeindung von Umlandgemeinden und die Erhebung zur Stadt mit eigenem Statut. Dadurch sollte St. Pölten mehr Entscheidungskompetenz erlangen, und durch den Gebietszuwachs die Versorgung mit Grundnahrungsmitteln sowie die Expansion als Wirtschaftsstandort gewährleistet werden. Während die Erhebung zur Statutarstadt problemlos abgewickelt wurde, konnte die Stadtvergrößerung nicht im ursprünglich geplanten Gesamtausmaß verwirklicht werden, da viele bäuerlich geprägte Volksvertreter aus den Umlandgemeinden eine sozialdemokratische Dominanz befürchteten. Dennoch beschloss der niederösterreichische Landtag am 23. Februar 1922 die Eingemeindung von Spratzern mit Teufelhof, Ober- und Unterwagram, Stattersdorf, Viehofen ohne Ragelsdorf und Weitern bei gleichzeitiger Ernennung St. Pöltens zur Stadt mit eigenem Statut. Die Einwohnerzahl stieg auf über 30.000 bei einer Fläche von 27, 64 km². Wechselvolle Zeiten
Die Nachkriegsjahre waren von Versorgungsschwierigkeiten aller Art und galoppierender Inflation geprägt. Der leichte ökonomische Aufschwung nach Einführung des Schillings wurde durch die Weltwirtschaftskrise Ende der 20er-Jahre und durch die Ausschaltung der Demokratie in Österreich zunichte gemacht. Doch trotz aller Widrigkeiten gelang der Stadtverwaltung ein beachtliches Aufbauwerk: So wurden bis 1934 über 1.400 neue Wohnungen geschaffen. Mit dem Bau eines städtischen Wasserleitungsnetzes wurde den Typhusepidemien ein Ende bereitet. Städtische Betriebe wie das Ziegelwerk, der Schlachthof mit angeschlossener Eisproduktion oder die Gas- und Elektrizitätswerke wurden modernisiert, das E-Werk an der Erlauf überhaupt neu errichtet. Neue Schulen und auch Kirchen wurden gebaut und selbst ein Autobusunternehmen ins Leben gerufen.
Ein wichtiges Anliegen war es, die Not der Kinder zu lindern. So gelang es mit einer Vielzahl von Maßnahmen wie Schwangerenberatung, spezieller medizinische Versorgung, Ausgabe von Kleidungsstücken an Bedürftige und Aufbau eines funktionierenden Fürsorgewesens, die Säuglingssterblichkeit von 26 auf 4 Prozent zu senken. An Tuberkulose erkrankte Kinder wurden auf Gemeindekosten zur Kur geschickt. In den Schulen wurde spezielles Haltungsturnen unterrichtet und im Gesundheitsamt eine Schulzahnklinik eingerichtet. Aufmarschplatz St. Pölten
Freilich war das Leben in St. Pölten nicht vom übrigen Österreich abgelöst. So spielten viele der politischen Stadt-Protagonisten auch in Niederösterreich oder für das ganze Bundesgebiet eine Rolle. Hier sei stellvertretend für das christlich-soziale Lager der spätere Bundeskanzler Julius Raab erwähnt, Obmann der NÖ Heimwehr, der es in der letzten Regierung Schuschnigg bis zum Handelsminister brachte. Bürgermeister Hubert Schnofl war Mitglied des Bundesrates und des niederösterreichischen Landtages, dessen 2. Präsident er von 1926 bis 1927 war. Der spätere Gauleiter von Niederdonau Hugo Jury begann seine politische Kariere als Mitglied und Gemeinderatsabgeordneter der St. Pöltner NSDAP. Die Diözese St. Pölten bildete ein Bollwerk des politischen Katholizismus in Österreich, das in Form der St. Pöltner Zeitung über ein publizistisches Kampforgan verfügte.
St. Pölten wurde zum militärischen Aufmarschplatz der großen österreichischen paramilitärischen Verbände. Dank der Westbahn konnten sich sowohl die Heimwehr als auch der Republikanische Schutzbund über personelle Unterstützung aus der Bundeshauptstadt freuen. Februar ‘34 und die Folgen
Am 12. Februar 1934, nachdem Teile der Arbeiterschaft in einem verzweifelten Aufstand versucht hatten, die Demokratie wiederzuerrichten, senkte sich die Nacht des „Grünen Faschismus“ über Österreich herab. Unter der Leitung von Maria Emhart wurde St. Pölten zum Hauptkampfplatz in Niederösterreich. Es wurde auch zum Schauplatz zweier Justizmorde, begangen an den Schutzbündlern Johann Hoyss und Viktor Rauchenberger, die am 16. Februar nach einem Standgerichtsurteil gehängt wurden.
In St. Pölten übernahm Dr. Heinrich Raab als Statthalter des austrofaschistischen Systems die Amtsgeschäfte des Bürgermeisters. Er bemühte sich um einen Ausgleich mit der Bevölkerungsmehrheit. Da der Austrofaschismus in der Überwindung der Wirtschaftskrise versagte und Sozialmaßnahmen noch mehr kürzte, blieb die Zahl der Arbeitslosen und Ausgesteuerten bis 1938 enorm.
Einige der von den Sozialdemokraten begonnenen Bauvorhaben, wie die Errichtung der Schnofl-Siedlung, wurden unter Heinrich Raab fortgesetzt.
Nach der Ermordung von Bundeskanzler Dollfuß durch nationalsozialistische Putschisten setzte in der Stadt ein ausgeprägter Dollfuß-Kult ein. So wurden eine Reihe von Dollfuß-Gedenkstätten errichtet, allen voran die Dollfuß-Säule auf dem Domplatz.
Tausende Antifaschisten verschwanden österreichweit ab 1934 in den Anhaltelagern und Gefängnissen. Alle Initiativen des Austrofaschismus gegen seinen braunen Konkurrenten scheiterten. Statt sich mit der illegalen Arbeiterbewegung zu verbünden, kapitulierte Schuschnigg im März 1938 vor den Nazis. Noch bevor die deutschen Truppen die Stadt erreichten, hatten die bis dahin illegalen Nationalsozialisten die administrative Gewalt übernommen. So wie überall in Österreich gab es keinen Widerstand. Viele Sozialdemokraten wanderten abermals in Gefängnisse und Lager, nun aber gemeinsam mit ihren ehemaligen Gegnern.
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass in St. Pölten in jener kurzen Epoche viele Infrastrukturmaßnahmen gesetzt wurden, die bis heute von Bedeutung sind. Die Bautätigkeit jener Jahre prägt das Erscheinungsbild mancher Viertel bis heute und zeugt von den Intentionen der Stadtväter getreu des Spruchs des Wiener Bürgermeisters Karl Seitz: „Wenn wir nicht mehr sind, werden die Mauern für uns sprechen.“