MFG - Die Briefe der toten Kinder
Die Briefe der toten Kinder


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St. Pöltens gute Seite

Die Briefe der toten Kinder

Ausgabe 09/2010
Den Tod oder die Verschleppung nach Mauthausen vor Augen verabschieden sich Anfang April 1945 alle zwölf Kinder der informellen Schule des Lagers für ungarisch-jüdische Zwangsarbeiter im St. Pöltner Viehofen von ihrer Lehrerin Greta Balog. Sie tun dies auch schriftlich, schreiben mit dem einzigen vorhandenen Schreibgerät, einem Bleistift, in stammbuchartiger Form auf ungarisch in ein kleines Notizbuch ihrer Lehrerin, die mit 16 Jahren nicht viel älter ist als sie selbst. Im Nachlass von Greta Balog, die Ende vorigen Jahres in Israel verstorben ist, sind die Grußbotschaften ihrer einstigen Schülerinnen und Schüler nun aufgetaucht.

„Für Greti! Wenn ich dann anstatt der Hacke und der
Schaufel wieder Buch und Stift in die Hand nehmen darf, werde ich mich gerne an diese „Lehrerin“ zurückerinnern,
die uns mit Kleinigkeiten vergessen ließ, dass wir aus
 der menschlichen Gemeinschaft gefallen waren.
Mit Liebe Könyvesi Judith
 Szeged, Viehofen, 7.4. 1945
(Internierungslager)


Das aus drei Baracken sowie einigen kleineren Nebengebäuden wie etwa einem Bunker für die Wachmannschaft bestehende Lager mitten in der Viehofener Au besteht seit Juli 1944. Die Internierten, darunter viele alte Menschen, müssen Tag für Tag schwere Zwangsarbeit am Ufer der nahen Traisen leisten, in dem sie den mäandernden, zu Hochwässern neigenden Fluss in ein gerades Bett zu zwingen haben. „Ich war mit meinen Eltern gemeinsam in Viehofen. Zusammengepfercht in einer Holzbaracke, in der Mitte eines Waldes. Von dort aus gingen wir auf zwei Holzbrettern ohne Geländer über den Fluss Traisen. Dann verluden wir Schienen, hackten mit Pickeln und verlegten Rasenziegel. Die vielen traurigen Erinnerungen sind in mir sehr lebendig“, erinnert sich die damals 24-jährige Rózsi Wolf aus Szeged, die ihre Befreiung im KZ Mauthausen erlebte. Die Verpflegung für die schwer schuftenden Zwangsarbeiter ist mangelhaft, besteht Tag für Tag nur aus 18 Broten für 180 (!) Menschen. Acht alte Insassen erliegen der Erschöpfung und dem ständigen Hunger und sterben im Lager.
Die Lagerkinder mussten zwar nicht an der Traisen Schotter schaufeln, aber Arbeiten innerhalb des Lagers verrichten. Die zwölfjährige Olga Balog etwa hat gemeinsam mit einem Buben den ganzen Tag lang Holzklötze zu zersägen, mit einer für die beiden viel zu großen Doppelsäge für Erwachsene. Trotzdem fürchtet der „Lagerführer“ Kubitschek - ein älterer Mann, den man mit zwei Kollegen namens Seif und Losleben aus der Pension zurückgeholt und als Wachpersonal in Dienst gestellt hat - , dass bei einer der häufigen, scharfen Kontrollen der SS im Lager unbeschäftigte Kinder vorgefunden würden und richtet daher in einer der Baracken eine Art Lagerschule ein. Zur Lehrerin und Aufsichtsperson bestimmt er die halbwüchsige Greta Balog.

„1945, IV. 7. Samstag
Teure Grete! Niemals im Leben werde ich deine
 Lehrstunden und Betreuung hier im Lager vergessen.
Das werde ich niemals vergessen.
Viel Liebe, deine Schülerin
Seidner Anni
Kecel


Anfang April nähert sich die Front von Osten her der „Gauwirtschaftshauptstadt“ St. Pölten, der Geschützlärm ist auch im Lager zu hören. Viele der erwachsenen Insassen glauben aber nicht mehr an eine Befreiung und rechnen damit, noch im letzten Moment von der SS liquidiert zu werden.
„Ich war sieben Jahre alt. Wir haben in der Austraße gewohnt bei den Großeltern. Im 44er Jahr, wie die Bombardierung begonnen hat, sind wir dort [in die Viehofener Au in die Nähe des Lagers; M. W.] immer hin. In die Stauden sind wir hin mit dem Großvater und haben uns dort versteckt, immer wenn es gebüht hat [wenn Sirenen zu hören waren; M. W.]. So haben wir die Juden getroffen. Die haben sich auch dort versteckt bei Bombenangriffen. Es waren da drei Baracken. Hie und da waren Aufsichtspersonen da, Soldaten. Die Juden, das waren eher ältere Personen, mussten Schotter herausgraben aus der Au. Der Schotter wurde in die Böschung [des Traisenflusses; M. W.] eingearbeitet. [..]. Meine Großeltern haben viel geredet mit den Juden, weil wie die Russen gekommen sind, haben die Juden immer gewusst, wo sie sind. Die Juden haben immer gesagt: „Die putzen uns weg.“ Gemeint haben sie die SS. Die Juden haben meinen Großeltern sogar eine Tuchent geschenkt, weil sie gesagt haben „Wir leben eh nicht mehr lang“, erinnert sich heute ein Zeitzeuge aus St. Pölten-Viehofen.
Im Gegensatz dazu ist in den Kindern noch Hoffnung.

„Teure Grete! Wir stehen nahe unserer Befreiungsstunde.
 Und wie es eben im Leben ist, werde ich niemals die Bemühungen vergessen, die du uns entgegengebracht hast.
In Liebe Kohn Györgyi
Kecel, 1945. IV. 8., St. Pölten
Viehofen
Viele der Kinder träumen von der Rückkehr in ein Zuhause, das es in den meisten Fällen wohl nicht mehr gibt.

„Teure Grete! Wenn ich nach Hause komme,
werde ich mich gerne deiner erinnern und
dankbar daran denken, wie du unsere
Eintönigkeit belebt hast.
Herzlichst deine Schülern
Szabolcs Olga


Geträumt wird auch vom Besuch einer richtigen Schule.

„An Greti zur Erinnerung! Wenn ich dann unter
ordentlichen Umständen in die Schule gehen werde,
werde ich meine lagerinterne Lehrerin
Greti Balog auch nicht vergessen.
Katz Edit

Nur in der Eintragung eines Buben scheint eine Vorausahnung des tragischen Kommenden vorhanden zu sein.

„Zur Erinnerung. Ob man bedauert, ob man sich
gehen lässt,das Leben ist eben nur vorübergehend.
Freundlichst gewidmet der Grete
Seidner György


In der Nacht von 8. auf den 9. April 1945 desertieren die drei Wachen Kubitschek, Losleben und Seif und lassen die Lagerinsassen in Angst und Verzweiflung zurück. Am nächsten Morgen verlassen einige wenige Familien das Lager und versuchen, sich auf eigene Faust durch die Hauptkampflinie östlich von St. Pölten zu schlagen oder sonst wie zu überleben. Nicht allen gelingt das.

Die fünfköpfige Familie des Lagerarztes Dr. Ernst Balog, darunter die ‚Lehrerin‘ Greta und ihre vier Jahre jüngere Schwester Olga Balog, werden im nahen Krankenhaus St. Pölten von dem Chirurgen Dr. Weber und der geistlichen Krankenschwester Ursula Skafar – vulgo Schwester Andrea bis zur Eroberung St. Pöltens durch die Rote Armee am 13. April 1945 versteckt und so vor dem Tod gerettet.
Die Budapesterin Klara Kraus flieht mit ihrem wenige Monate alten Baby Paul und ihrem zweijährigen Sohn Peter in Richtung Hauptkampflinie – und überlebt wie durch ein Wunder mitsamt ihren Kleinkindern.
Edi Weizenhoffer und seine Mutter, die akzentlos Ungarisch sprechen können, trennen die Judensterne von ihrer Kleidung ab und schließen sich ungarischen Flüchtlingen in den Wäldern und Fluren rund um St. Pölten an. Die misstrauischen Ungarn wundern sich zwar, dass die Weizenhoffers völlig ohne Hab und Gut unterwegs sind und nicht einmal Leintücher haben, lassen sich aber schließlich durch Ausreden beruhigen. Gemeinsam mit anderen ungarischen Flüchtlingsbuben bricht Edi während der häufigen Bombenalarme in Häuser ein und stiehlt Essen, um nicht zu verhungern.

Irgendwann am 9. April 1945 rückt die SS, die im nahen Schloss Viehofen westlich des Lagers bzw. am Schlossberg eine letzte Verteidigungslinie aufgebaut und die Lagerinsassen schon in den Tagen zuvor immer wieder zum Bau von Panzergräben geholt hat, in die Viehofener Au ein, erschießt alle kranken und schwachen Lagerinsassen und treibt die übrigen in einem grausamen Todesmarsch in Richtung KZ Mauthausen. Besonders Kinder und ältere Menschen sind diesen Anstrengungen nicht gewachsen und finden bereits am Weg den Tod.