Chicken

Mein großer Bruder R ruft mich prinzipiell während seiner Nachtdienste an. Schließlich braucht er da ein wenig Unterhaltung. Dass ich selbst eher tagsüber wach bin und nachts ab und zu gern schlafen würde, stört ihn dabei Gottseidank nicht. „Willst einen Witz hören?“ beginnt er das Gespräch, ohne durch einleitende Begrüßungsfloskeln kostbare Zeit zu verschwenden. „Nein“, gähne ich, „außerdem hab ich andere Sorgen und -“ – „Jaja. Also, willst jetzt den Witz hören?“ – „Nein.“ – „Dann halt nicht. Wurscht. Kennst Lacrimosa?“ – „Sicher, ganz toll“, halte ich meine Augen und Gedankenflüsse mühsam geöffnet, „ein Mann mit langen Fingernägeln, der gern Clowns malt.“ – „Du kennst dich ja leider nicht aus“, belehrt mich R, „die Texte sind gar net sooo deppad!“ – „Jaja, die Texte sind super“, mummle ich mich in meinen Garfieldpolster. „Mhm. Und? Was ist mit Pennywise?“ hakt R nach. „Diese Skater-Band?“ – „Nein, der Typ mit der roten Nase, der aus dem Klo rauskommt und dir die Kehle durchbeißt.“ – „Warum erinnerst du mich um so eine Uhrzeit an diesen Scheiß-Film?“ sitze ich nun aufrecht im Bett. R kichert abgrundtiefgemein. „Nur deshalb, weil ES dich demnächst holen wird. Wegen der Stiefel, die du letztens angehabt hast.“ - „Das waren schweineteure Diesel-Boots!“ – „Du schaust damit aus wie ein Callcowgirl. Und dann dieses ketzerische schmückende Beiwerk!“ – „Meine Schildkrötenkette?“ – „Hexe Hexe!! Verbrennt sie!!“ kreischt R und legt unvermittelt auf. An Schlaf ist nun nicht mehr zu denken: ich grüble über Schuhe und Scheiterhaufen nach. Es ist kurz vor 4 Uhr morgens. Ich hab meinen Bruder sehr lieb.