Auswege aus der Ausweglosigkeit
Text
Andreas Reichebner
Ausgabe
Eine Krise jagt die andere. Nicht nur, dass der Krieg wieder in Europa angekommen ist, sorgt auch die Unsicherheit der Energieversorgung und eine massive Teuerungswelle für permanenten Krisenmodus. Diese Faktoren und auch die andauernde CoV-Pandemie samt deren sozialen und gesellschaftlichen Verwerfungen treiben viele Menschen, vor allem junge, die noch keine derartigen beklemmenden Szenarien erlebt haben, in Krisensituationen, die allein oft nicht mehr gemeistert werden können.
Obwohl laut Suizidbericht 2021 des Bundesministeriums für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz die Zahl der Suizide nach wie vor rückläufig ist, verstarben im Jahr 2020 in Österreich 1.072 Menschen durch Suizid – mehr als dreimal so viele wie im Straßenverkehr. Die Anzahl der Suizidversuche liegt deutlich höher (nach Schätzungen 11.000 bis 32.000 pro Jahr). MFG sprach mit Expertin Evelyn Bremberger, Klinische Psychologin und Gesundheitspsychologin beim AKUTteam NÖ, über Gründe von Suizid und dessen Verhinderung.
Wann kommt es eigentlich zu Suizid?
Wesentlich ist, dass es keine klassische Suizidpersönlichkeit gibt. Allerdings lassen sich verschiedene Risikogruppen – z. B. psychisch erkrankte, chronisch kranke, getrennte und verwitwete Personen – sowie Risikofaktoren wie z. B. Suizide in der Familiengeschichte, Zugang zu letalen Mitteln, Suizidversuche in der Vergangenheit u. a. erkennen.
Das Suizidrisiko steigt bei Überschneidungen sowie bei einfacher Verfügbarkeit letaler Mittel. Zudem gibt es nicht nur einen Grund für den Suizid. Weshalb dieser auch nie ganz verstanden und oftmals das „Warum“ nicht aufgelöst werden kann. Die Suche nach dem Suizid vorangehender Prozesse, etwa Aussichtslosigkeit der Situation, psychiatrische Erkrankung, Einengung, kann hilfreich sein, da sich Angehörige oftmals fragen, warum sich die Person „aus freien Stücken für den Tod und gegen ein gemeinsames Leben“ entschieden hat. Bei der Entscheidung zum Suizid handelt es sich um einen einsamen Entschluss in aller Stille, ausgenommen die sehr selten auftretenden kollektiven bzw. Massensuizide. In vielen Fällen kann der Entscheidungsprozess einen Zeitraum von zwei Jahren übersteigen und zu Beginn der bewussten Wahrnehmung des später Betroffenen verborgen sein.
Suizid als selbstbestimmtes beziehungsweise freiwilliges Ereignis ist in Frage zu stellen, da z. B. eine psychotische oder depressive Person keine Wahlmöglichkeit und keine Möglichkeit einer rationalen Entscheidung, sondern Chaos und Hoffnungslosigkeit hat.
Wie kann man als Einzelner reagieren, wenn man sich Sorgen macht?
Kommt es seitens der Betroffenen zu offenen oder versteckten – z. B. „Ich möchte, dass das alles aufhört“; „Meine Lage wird sich nie bessern“; „Leb wohl statt auf Wiedersehen“ etc. – Mitteilungen, kann zuerst das Gespräch gesucht werden. Dadurch wird der Suizidhinweis als solcher erkannt und dem Betroffenen geholfen, diesen offen aussprechen zu können. Das kann zur Entlastung und Lockerung führen, die suizidale Einengung kann verhindert werden. Wenn man also das Gefühl hat, dass der Gesprächspartner Suizidgedanken hat, dann soll dies offen angesprochen und nachgefragt werden. Zudem ist folgendes zu beachten: Die Betroffenen nicht alleine lassen! Ihn oder sie ernst nehmen, und weitere Hilfe organisieren!
Was kann man als Gesellschaft tun?
Gesamtgesellschaftlich kann eine Enttabuisierung des Themas sowie Aufklärung diesbezüglich und zum Umgang mit suizidalen Personen hilfreich sein. Viele Familien sind plötzlich mit der Thematik Suizid konfrontiert und stoßen an ihre Grenzen, wobei auch der Umgang mit trauernden Kindern und Jugendlichen aufgrund von Tabuisierung sowie Stigmatisierung des Themas massiv erschwert ist. Positiv hervorzuheben ist, dass es altersentsprechende Aufklärungsbücher zu psychischen Erkrankungen wie z. B. „Mit dem schwarzen Hund leben“ sowie Suizid, z. B. „Leben ohne Mama Maus“, gibt. Zu negieren, dass Suizid eine, sogar sehr häufige Todesursache ist, kann als kontraproduktiv gewertet werden.
Wie sehen Sie in Ihrer Arbeit die Tendenz zu Suizid? Gibt es ein Ansteigen in Ihrem Bereich bezüglich Kontaktaufnahme, Einsätze etc.?
Aufgrund des Tätigkeitsfeldes des AKUTteams sowie einer entsprechend selektiven Sicht auf die Ereignisse kann diese Frage nicht eindeutig beantwortet werden, da nicht alle Alarmierungen Suizide betreffend auch beim AKUTteam einlangen. Nach wie vor gibt es eine Vielzahl an Hinterbliebenen, welche einer Betreuung skeptisch gegenüberstehen oder von dem Angebot keine Kenntnis haben. Dennoch kommt es wiederkehrend zu Einsätzen des AKUTteams aufgrund von Suizid, wobei es sich hierbei vordergründig um Postvention handelt.
Auch einige suizidale Personen kontaktieren Notruf NÖ und gelangen schließlich zum AKUTteam, wobei es einerseits zur Einschätzung der Suizidalität einschließlich entsprechender Maßnahmen kommt und andererseits ein Entlastungsgespräch angeboten sowie – bei Zustimmung der betroffenen Person – durchgeführt wird.
Welche Rolle spielen dabei Existenzängste, hervorgerufen durch medial thematisierte Krisen?
Die wiederkehrende mediale Thematisierung von Krisen kann zu Existenzängsten aufgrund eines ausgelösten Unsicherheitsgefühls sowie des Verlustes des Vertrauens in die Gesellschaft und deren Bewältigungsfähigkeiten führen, wobei Suizidalität vor allem durch kumuliert auftretende Belastungen verstärkt wird.
Letztlich bedeutet dies, dass bei vermehrt medial thematisierten Krisen ohne entsprechend propagierte Hilfsangebote die Belastung Betroffener steigt.
Wie stehen Sie zu dieser Verdrängung des Themas?
Die fachliche sowie wissenschaftlich klare Thematisierung, also Enttabuisierung, des Themas Suizid ist sowohl präventiv als auch postventiv dringend angeraten, da die offene Kommunikation für suizidale Personen die Möglichkeit schafft, ihre Gedanken angstfrei an- sowie aussprechen zu können. Postventiv wird einer Stigmatisierung und Isolation der Hinterbliebenen entgegengewirkt, wobei dies wiederum deren Schuldgefühle und Scham in Bezug auf den Suizidenten reduzieren kann. Auch die transparente Kommunikation sowie Förderung von Angeboten für Hinterbliebene nach Suizid kann hilfreich sein.
Zudem ist die mediale Berichterstattung zum Thema Suizid, welche wiederum gesamtgesellschaftliche Auswirkungen hat, ausschlaggebend, wobei der Papageno-Effekt, also Senkung des Suizidrisikos, dem Werther-Effekt, also Erhöhung des Suizidrisikos gegenübersteht. Dieser besagt, dass eine gewisse Berichterstattung über Suizide protektiv wirken kann. Zu beachten ist, dass Serien, welche sich mit dem Thema Suizid auseinandersetzen, wie z. B. „Tote Mädchen lügen nicht“, jedenfalls eine Trigger-Warnung vorangehen sollte.
Ein generelles Berichterstattungsverbot Suizide betreffend stellt keine Lösung dar, da die Thematik weiterhin tabuisiert und die Realität verzerrt wird, wobei der Zweck der Berichterstattung zu einem Suizid zu hinterfragen ist, etwa im Fall des Suizids der Ärztin aus Oberösterreich. Auch die Begriffe Selbstmord – bezüglich strafrechtlicher Tatbestand Mord – und Freitod aufgrund implizierter Freiwilligkeit sollten nicht mehr verwendet werden, besser ist Suizid im Sinne von Selbsttötung.
Empfehlenswert ist bei Zeitungsberichten, Büchern, Vorträgen u. ä. jedenfalls Kontaktadressen bzw. Telefonnummern der entsprechenden Hilfsangebote anzuführen, sollten im Zuge der Befassung mit genannten Inhalten Belastungsreaktionen oder suizidale Gedanken auftreten.
Wann sollte man in der Schule das Thema besprechen – soll man das überhaupt?
Aus entwicklungspsychologischer Sicht haben Kinder ab dem Alter von sieben Jahren ein realistisches Verständnis vom Tod und die Bewusstheit über den permanenten Verlust, sodass eine Auseinandersetzung mit den Themen Tod und Sterben jedenfalls möglich ist. Meist setzen schulische Präventionsprogramme ab dem Alter von zehn Jahren an. Generell ist empfehlenswert, die offene Kommunikation belastende Gedanken sowie Ereignisse betreffend bei Kindern und Jugendlichen von Beginn an zu implementieren. Dies kann im Regelunterricht, vor allem durch ein offenes wie wertschätzendes Klassenklima, gefördert werden.
Warum verüben Männer signifikant mehr Suizide gegenüber Frauen?
Betrachtet man die Auswertung der Suizidmethoden, lässt sich feststellen, dass Männer in einem höheren Ausmaß letale Suizidmethoden wählen, wodurch selbst Suizidversuche oftmals in einem tödlichen Geschehen enden.
Hinzu kommt, dass Männer bei psychosozialen Problemlagen weniger häufig bzw. kaum Hilfe entsprechender Fachkräfte und Institutionen des psychosozialen Versorgungssystems in Anspruch nehmen. Nach wie vor neigen Männer in Zusammenhang mit psychischen Problemen eher dazu diese mittels Alkohol- und Drogenkonsums selbst zu behandeln, wodurch sich suizidale Krisen sowie Suizidalität potenzieren können.
HILFE IN EINER KRISENSITUATION
Wenn Sie sich verzweifelt fühlen oder Hilfe benötigen, sprechen Sie mit anderen Personen darüber!
Kontaktdaten von Hilfseinrichtungen unter:
Für Jugendliche gibt es spezifische Angebote (z. B. Informationen unter www.bittelebe.at oder „Rat auf Draht“ unter der Nummer 147).
AKUTTEAM NÖ
Das AKUTteam NÖ ist eine soziale Einrichtung des Landes NÖ zur psychosozialen Unterstützung von Menschen, welche von plötzlichen Schicksalsereignissen betroffen sind. Das AKUTteam ist ein multiprofessionelles Team bestehend aus Fachkräften der Sozialarbeit sowie der Klinischen Psychologie und Psychotherapie. Das AKUTteam NÖ bietet über den Rettungsnotruf 144 rasche, unbürokratische und kostenfreie Unterstützung in Akutsituationen bei Erreichbarkeit rund um die Uhr (24 h pro Tag) an.