MFG - Damon Albarn kann kein Zufall sein
Damon Albarn kann kein Zufall sein


MFG - Das Magazin
St. Pöltens gute Seite

Damon Albarn kann kein Zufall sein

Text Johannes Reichl
Ausgabe 09/2018

Die Szene wirkt wie die Anfangssequenz aus einem Film des Neorealismo. Nach Norden hin laufen gut 200 Meter lang die nüchternen Verwaltungsgebäude der Neuen Herrengasse auf einen imaginären Fluchtpunkt zu, aus dem sich irgendwann ein schwarzer Punkt löst, der langsam und größer werdend auf uns zukommt, bis schließlich Michael Duscher, Geschäftsführer der NÖ Kulturlandeshauptstadt St. Pölten GmbH, in schwarzem Anzug vor uns stehen bleibt und vom Fahrrad steigt.

Bei einem deutungsschwanger aufgeladenen Thema wie der Kulturhauptstadt, über die wir plaudern möchten, drängt sich da natürlich sofort eine wunderbare Symbolik auf – Duscher, der sein Büro im Rathaus hat, kommt ins Regierungsviertel (ein kein sehr häufiger Weg für Einheimische) und verknüpft damit Altstadt mit Regierungsviertel, Historie mit Gegenwart, offizielles St. Pölten mit offiziellem Land, was er als Kopf der NÖ Kulturlandeshauptstadt St. Pölten GmbH mit ihren jeweils 50% Gesellschaftern Stadt St. Pölten und Land Niederösterreich quasi auch in persona repräsentiert und damit einhergehend auch für eine neue Form kooperativer Zusammenarbeit zwischen den Körperschaften steht.
Und selbstverständlich hat er auch den Klangturm nicht zufällig als Treffpunkt für unser Gespräch ausgewählt (s. auch S. 3), „denn natürlich möchten wir diesen in Zukunft wieder bespielen!“ Zudem gewährt er von seiner Plattform auf 45m Höhe aus einen herrlichen Blick auf St. Pölten und bis weit hinein ins Umland, was auch für eine neue Perspektive steht, die über den Tellerrand hinausgeht.
Die Handlungsfelder
Womit wir schon zu einem der großen Handlungsfelder kommen, die man in den letzten Monaten herausdestilliert hat und die Eingang in die Bewerbung finden. „St. Pölten bewirbt sich als Kulturhauptstadtregion! Es gibt ein unglaublich mit Kultur aufgeladenes Umfeld, das Teil der Bewerbung werden soll.“ Duscher führt diesbezüglich die „üblichen Verdächtigen“ wie Grafenegg, Krems, Göttweig, Schallaburg, Melk oder Lilienfeld an. Diese Region gelte es als kulturtouristische Marke zu etablieren und zu vermarkten, „mit der Kulturhauptstadt St. Pölten als Zentrum.“ Anknüpfungspunkte – die freilich in weiterer Folge erst von einer künstlerischen Leitung herausgearbeitet werden müssten –  würden sich zuhauf anbieten: „Etwa barockes Melk – barockes St. Pölten, Klangraum Krems – Klangturm St. Pölten, die Traisen als verbindendes Element.“
Zugleich – das ist der über den Motor Kultur ausgelöste und erhoffte Nachhaltigkeitseffekt – geht es damit um die Entwicklung einer starken Region an sich also auch um Fragen der Verkehrsanbindung in diesem Raum, der Vernetzung der Gemeinden untereinander, der regionalen Zusammenarbeit und Arbeitsteilung etc.
Das Thema „urbaner und ländlicher Raum“ wird ebenso eine gewichtige Rolle im Rahmen der Bewerbung spielen. „Wir erleben global ein sehr starkes Land-Stadt-Gefälle, ja eine zunehmende Verödung des ländlichen Raumes. Die Frage wird sein, wie man diesem Prozess entgegenwirken kann, welche positiven Wechselwirkungen man fördern und erzielen kann. Was kann das Land für die Stadt tun, was umgekehrt die Stadt für den ländlichen Raum – das wollen wir sehr stark ins Zentrum der Auseinandersetzung rücken und mögliche neue Wege gehen und aufzeigen.“
St. Pölten soll in diesem Sinne – wie auch in anderen Kontexten – Duscher zufolge eine Art, „Vorzeigemodell für eine lebenswerte europäische Mittelstadt werden. Zu diesem Zwecke müssen wir von Europa, von anderen lernen, umgekehrt soll aber auch Europa von St. Pölten lernen können.“ Duscher schweben daher, im Übrigen schon während des Bewerbungsprozesses und nicht etwa erst im Kulturhauptstadtjahr, „Versuchslabore und Experimentierfelder in St. Pölten vor, wo wir neue Ansätze ausprobieren, wo es etwa um die Stadt der Zukunft geht.“ Im Sinne eines open source-Ansatzes sollen diese Projekte transparent vonstattengehen und jederzeit verfolgt werden können „weshalb die Kulturhauptstadt nicht nur vorort, sondern auch virtuell stattfinden wird. Unser Wissen und unsere Erfahrungen sollen für alle in Europa abrufbar und nachvollziehbar sein.“
Einen weiteren Schwerpunkt bildet „Öffentlicher Raum. Da geht es etwa um die Verbindungen und Wege innerhalb der Stadt, um Plätze, um Verweilbarkeit.“ Duscher führt als Beispiele „Evergreens“ wie die Achse Altstadt – Regierungsviertel, Domplatz oder das Glanzstoff-Areal „als spannende Räume an, über die wir jetzt nachdenken müssen.“ Ein großes Anliegen sei dabei u. a. die Schaffung konsumfreier Zonen sowie Orte der Erholung, wie sich St. Pölten überhaupt – womit man auf die Markoebene der gesamten Bewerbung kommt – noch stärker von einer Nutzstadt, „wo man etwa studiert und arbeitet, dann aber wieder nachhause fährt, hin zu einer Stadt des Aufenthalts und des Verweilens entwickeln soll.“
Dazu bedürfe es vieler – teilweise schon heute funktionierender – Mosaiksteine, wobei einer ganz konkret in Kunst im öffentlichen Raum zu finden ist. Duscher schweben diesbezüglich „Interventionen oder temporäre Bespielungen vor, weil das gut zu St. Pölten passt und hier noch Freiräume bestehen.“ Außerdem könne damit wohl auch der „vorhandene Phantomschmerz der St. Pöltner in Sachen Bildender Kunst“ gelindert werden.
Bleibt als letzter und im Grunde genommen entscheidender Anspruch, „Kultur für möglichst alle“ zu ermöglichen. Es geht dabei um niederschwellige Zugänge zu Kunst und Kultur, gebündelte Kommunikation „des schon jetzt breiten Angebotes“ sowie noch besserer Vermittlung, wobei man diesbezüglich v. a. auch Kinder und  Jugendliche noch stärker ins Visier nehmen möchte. „Es war etwa spannend zu beobachten, dass in den Gesprächen mit den künstlerischen Leitern praktisch alle eine Art kulturelles Erweckungserlebnis in ihrer Kindheit hatten. Umso später man hingegen mit Kunst und Kultur in Kontakt kommt, umso weniger weiß man damit anzufangen.“

"St. Pölten soll ein Vorzeigemodell für eine lebenswerte europäische Mittelstadt werden." MICHAEL DUSCHER

Golden Nuggets
Herausgearbeitet, ja geradezu heraus geschürft wie Golden Nuggets aus einem breiten Fluss aus Ideen, bestehenden Grundlagen, Wünschen, Erwartungen etc., hat man all diese Ansätze in nicht weniger „als bislang 149 Gesprächen“ mit Stakeholdern aus den Bereichen Politik, Wirtschaft, Kultur und Verwaltung, im Rahmen von zwei  öffentlichen Kulturforen  (das dritte findet am 26.9. im Festspielhaus zum Thema „Europa“ statt), im Austausch mit der hiesigen Künstlerschaft und freien Szene, auf der KulturTOUR  sowie diversen Diskussionsforen.  
Eine schnöde Beschäftigungstherapie oder gar Alibihandlung, um quasi den in der Ausschreibung geforderten Partizipationsprozess abzuhaken – wie manche unken – war dies nicht, wie Duscher betont, sondern „das ist ein notwendiger dynamischer und lebendiger Prozess, aus dem sich letztlich ganz konkret unsere Handlungsfelder herauskristallisiert haben bzw. der uns darin bestärkt hat, dass wir uns auf dem richtigen Weg befinden.“ Wobei für Duscher bereits der Weg ein Ziel ist. „Schon der Prozess als solcher hat etwas bewirkt und macht sozusagen etwas mit der Stadt, weil sich die Leute mit St. Pölten aktiv auseinandersetzen, auch mit der Frage, wie die Kulturhauptstadt sein könnte, welche Errungenschaften sie bringen soll, was man erreichen will oder auch, was man von der Stadt und als Stadt überhaupt zeigen möchte. Da ist eine unglaubliche Dynamik spürbar und das ist ein ganz relevanter Faktor für die Bewerbung, denn den Zuschlag bekamen zuletzt jene Städte, die das größte Veränderungspotenzial sowie den größten Veränderungswillen zeigten.“
St. Pölten als hungrige Stadt im Aufbruch sei also geradezu prädestiniert, wobei Duscher mit manch Aha-Erlebnis insofern konfrontiert war, dass das vermeintlich Selbstverständliche bislang noch gar nicht so selbstverständlich war. „So sind etwa die künstlerischen Leiter der diversen Kulturhäuser erst im Zuge unserer Gespräche zum allerersten Mal überhaupt alle an einem Tisch vereint gesessen.“ Eines der Treffen bugsierte der Manager zudem bewusst auf den SKW83, der Heimstatt von Sonnenpark und Lames, was nicht minder für manch Überraschungseffekt sorgte: „Da waren Statements zu hören wie ‚Das könnte ja genauso gut in Berlin sein.‘“
Gerade die aktive Integration und der offene Dialog mit der freien Szene sei von Beginn an ein ehrliches Anliegen gewesen, „weil das lebensnotwendig für so eine Bewerbung ist.“ Man ging sogar soweit, dass man die Plattform KulturhauptSTART, die sich als erste organisiert und lange vor den offiziellen Körperschaften für eine Bewerbung St. Pöltens als Kulturhauptstadt stark gemacht hatte, quasi in freudiger Umarmung mit ins Boot geholt hat. „Es wird ja an verschiedenen Dossiers gearbeitet, und da sitzt nicht nur immer ein Vertreter von Stadt und Land drinnen, sondern auch einer von KulturhauptSTART“, so Duscher, der bekennt: „Wir haben keine verschlossenen Türen!“  
In stetem Austausch steht man logischerweise auch mit Verwaltung und Politik. „Das Gesprächsklima ist sehr positiv. Ohne Politik ginge ja gar nichts, und ich bin ehrlich froh, dass da alle in eine Richtung ziehen und uns unterstützen.“ Wie auch immer geartete politische Interventionen, was man wie einbringen oder berücksichtigen solle im Rahmen der Bewerbung, gibt es laut Duscher keine. „Nein, wir arbeiten sehr unabhängig.“ Umgekehrt würde auch hier das Kulturhauptstadtprojekt sozusagen die Reihen schließen und Stadt und Land näher zusammenrücken lassen. „Die Bewerbung macht schon jetzt viel mit Stadt und Land, weil ja in allen Gremien beide Seiten vertreten sind und ganz selbstverständlich miteinander arbeiten. Diese Gemeinsamkeit ist sicher eine der großen Stärken unserer Bewerbung!“, ist Duscher überzeugt. Wenn man nach Vorarlberg oder Oberösterreich blickt, wo die Bewerberstädte bislang eine Bewerbung ohne Landessanktus- und gelder hochziehen, weiß man, worauf Duscher hinauswill. So meinte etwa der in der Jury sitzende Ulrich Fuchs im Mai auf die Frage, ob er eine Kulturhauptstadt Bad Ischl ohne Landesgelder für denkbar halte: „Das kann ich mir gar nicht vorstellen. Das wäre ein Unikum in der Geschichte der europäischen Kulturhauptstädte.“
Dass Duscher aufgrund der zahlreichen Protagonisten mit teils sehr unterschiedlichen, bisweilen auch durchaus egozentrischen Erwartungen, wie ein Dompteur behutsam alle bei Laune halten muss, stört ihn nicht weiter „zumal wir bislang nirgends  auf Ablehnung stoßen. Alle ziehen mit und spüren, dass das eine große Sache ist.“
Ebenso nimmt er den Umstand, dass die Kulturhauptstadt aktuell bei jedem Thema aufpoppt, auch solchen, die gar nichts damit zu tun haben, und damit in der Wahrnehmung als Projektionsfläche für – frei nach Gunkl – „eh alles“ herhalten muss, nicht weiter schlimm. „Man kann das ja auch positiv sehen, weil es trotzdem mit Ideen einhergeht, mit der Vorstellung, wie etwas sein könnte.“
Duscher stellt aber unmissverständlich klar, dass die Kulturhauptstadt GmbH nicht die Politik als solche ersetzt. „Unsere Kommunikation ist da ziemlich klar. Wir denken über Kulturinfrastruktur nach, über Kulturpotenziale, über Verbindungen und Vernetzungen, versuchen auch eine Geografie möglicher Spielorte zu schaffen und natürlich geht’s um die Programmierung.“ Es werde aber klar differenzieren, wer wofür zuständig ist – kommen etwa Fragen des Verkehrsplanung, Straßen etc. ins Spiel, lägen die Kompetenzen und Entscheidungsbefugnisse anderswo.
Sehr wohl sei aber wichtig, dass man die Projekte in einem ganzheitlichen Kontext denke und begreift, wo dann eben verschiedene Protagonisten involviert sind. „Wir können also etwa nicht sagen, wir reden über die Anbindung Altstadt-, Regierungsviertel, dann über Wege, dann über den Domplatz und am Schluss über Verkehrslösungen, sondern das muss man klarerweise schon alles von Beginn an mitdenken.“
Bleibt zuletzt noch die Frage nach Europa, der auch das nächste KulturFORUM gewidmet ist. Diesbezüglich meint Duscher etwas kryptisch „dass wir Nachbarschaft wirklich leben und Gastfreundschaft so radikal wie möglich umsetzen möchten“ und verweist dann auf ein kürzlich erschienenes Interview von Blur- und Gorillaz Frontman Damon Albarn in der ZEIT, in dem dieser meinte: „Diese Idee mit den sogenannten Partnerstädten mag einem vielleicht lachhaft und antiquiert erscheinen, aber ich finde sie nach wie vor großartig. Diese Art von kulturellem Austausch hält Europa zusammen, wenn uns diese Gemeinsamkeiten abhandenkommen, fliegt uns die EU um die Ohren.“
„Das ist eine ganz starke Aussage und passt perfekt zu dem, was wir vorhaben und unser Anliegen ist!“, so Duscher! Und nach einer kurzen Pause fügt er zum Abschluss schmunzelnd hinzu: „Albarn war ja heuer am Frequency Festival in St. Pölten – vielleicht hängt ja alles irgendwie zusammen?!“ Ein gutes Omen also?
Danach schwingt sich Duscher wieder in den Sattel und radelt back in town – vom Regierungsviertel in die Innenstadt. 2024 vielleicht schon verabschiedet von einem Klangturm, der diesen Namen verdient, auf attraktiven Wegen, die die beiden Stadtteile nicht nur verbunden, sondern fusioniert haben, vorbei an flanierenden Besuchern aus ganz Europa, hinweg über einen genialen Domplatz, auf dem Autos nur stören würden, und durch eine City voller Lebendigkeit, die 2018 die richtigen Weichen für die Kulturhauptstadt St. Pölten gestellt hat.

Zur Person
Michael Duscher, 50, scheint the right man at the right place at the right time zu sein. Als Geschäftsführer der NÖ Kulturlandeshauptstadt St. Pölten GmbH, welche die Bewerbung vorbereitet und in Folge die Kulturhauptstadt abwickeln wird, scheint er dank seiner bisherigen Berufsstationen geradezu prädestiniert. So war Duscher im Marketing von Lauda Air tätig, zehn Jahre arbeitete er bei der Österreich-Werbung mit Schwerpunkt „Internationales Marketing“,  vier Jahre als Prokurist und Marketingleiter des  MuseumsQuartiers Wien, wo er u.a. fürs Standortmarketing sowie die Programmierung der Außenflächen zuständig war, und zuletzt als Geschäftsführer der NÖ Festival & Kino GmbH. Als Gitarrist der Band Villalog kennt er zudem auch die  Seite der Künstler.

So geht's weiter
Bis Ende des Jahres muss ein sogenanntes Bitbook abgegeben werden, das in groben Zügen die Ansätze der Bewerbung umreißt. Dieses wird im Jänner vor einer EU-Jury präsentiert, die entscheidet, welche Städte auf die Shortlist kommen und „weiterbattlen“ dürfen. In Folge wird – inklusive einer Kulturstrategie bis 2030 – bis November 2019 die finale Bewerbung aufbereitet, die in eine zweiten Präsentation mündet. Danach entscheidet die Jury, welche Stadt den Zuschlag als Europäische Kulturhauptstadt 2024 bekommt.
Die Chancen für St. Pölten stehen dabei – nicht zuletzt dank des klaren Bekenntnisses von Stadt und Land, die alleine für die Bewerbung drei Millionen Euro in die Hand nehmen – nicht schlecht. Aus Vorarlberg gehen die Städte Dornbirn, Hohenems, Feldkirch und die Region Bregenzerwald gemeinsam an den Start. Eine Unterstützung des Landes ist dort aber ebenso ausständig wie beim Bewerber Bad Ischl, das mit mehreren Salzkammergut-Gemeinden antritt. In den Ring dürfte zudem noch Klagenfurt.

Mittendrin statt nur dabei
Das nächste KulturFORUM #3, wo jeder Bürger mit dabei sein und sich einbringen kann, findet am 26. September 2018 im Festspielhaus St. Pölten statt. Diesmaliger Schwerpunkt: „Europa“.
www.st-poelten2024.eu