MFG - Die lange Stille der Vergessenheit
Die lange Stille der Vergessenheit


MFG - Das Magazin
St. Pöltens gute Seite

Die lange Stille der Vergessenheit

Text Michael Müllner
Ausgabe 03/2022

In einer regnerischen Nacht Anfang Mai holen Uniformierte wehrlose Zivilisten aus ihrer Baracke und treiben sie in Gräben aufs freie Land. Mit Maschinengewehrsalven richten sie 228 Menschen hin. Der Massenmord von Hofamt Priel, auf halber Strecke zwischen St. Pölten und Mauthausen, ist bis heute ungeklärt. Im Dokumentarfilm „Endphase“ lässt Hans Hochstöger Zeitzeugen erzählen.


Hans Hochstöger wuchs in Hofamt Priel auf, im Laufe der Kindheit zog seine Familie in den Nachbarort nach Persenbeug. Ybbs-Persenbeug – ganz Österreich denkt dabei an das Donaukraftwerk, ein Symbol des neuen, fortschrittlichen Österreichs, das die dunklen Kriegswirren hinter sich gelassen hat. Er ist ungefähr vierzehn Jahre alt, da fragt ihn sein Vater, ob er eigentlich weiß, „was da oben passiert ist?“ 
In der Nacht des 2. Mai 1945 holen bewaffnete Uniformierte hunderte Menschen aus einer Baracke in Persenbeug. Es handelt sich um ungarische Zwangsarbeiter, Juden, die zuvor in der Ostmark ausgebeutet wurden und die nun von den Nazis in Richtung Mauthausen getrieben werden – weg von der anrückenden Roten Armee. Die Bewaffneten bilden drei Gruppen und treiben diese der Reihe nach nach Hofamt Priel, wo die Menschen in Gräben kaltblütig erschossen werden. Am Ende sind noch ein paar in der Baracke über, auch sie werden erschossen. Die Täter verschwinden, ein paar Menschenseelen überleben. Sechs Tage später kapituliert Hitler-Deutschland, der Krieg ist zu Ende. Das ist es, was dort oben passiert ist. 
Hans Hochstöger kannte damals weder die Ausmaße des Massakers, noch dass es sich so spät ereignete. Doch er begann sich zu interessieren. „Ein Schlüsselerlebnis war das Buch von Manfred Wieninger“, erzählt der Fotograf und Filmemacher. Der St. Pöltner Autor Wieninger hatte die Geschichte des Massakers in Form eines Kriminalromans aufgearbeitet („223 oder das Faustpfand“, Residenz Verlag). „Plötzlich las ich da Namen, die ich aus meiner Kindheit kannte. Mir wurde beispielsweise klar, dass die Oma meiner Schulfreunde damals ein kleines Mädchen war, die Tochter jener Familie, die einen elfjährigen Buben, der das Massaker knapp überlebt hatte, bei sich versteckte und so womöglich sein Leben rettete.“
Der Kriminalroman war für viele Menschen in der Gegend ein wichtiger erster Kontakt mit den Geschehnissen der Vergangenheit. „Als ich mit meinem Bruder die Recherchen begann und auf die Suche nach Zeitzeugen ging, hörten wir oft, dass das eh alles im Buch vom Wieninger steht. Dabei verlangt der Roman natürlich nach einer anderen Erzählweise als ein Dokumentarfilm. Wir mussten die Leute erstmal dazu bringen, ihre eigene Geschichte zu erzählen. Viele haben ja jahrzehntelang geschwiegen.“ Es war viel Arbeit aus all den Berichten vom Hörensagen jene Zeitzeugen rauszufinden, die wirklich selber etwas wahrgenommen hatten. Umso glücklicher ist Hochstöger mit dem Erfolg des Films: „Meine größte Sorge war, dass die Menschen aus der Region den Film ignorieren würden, nach dem Motto die Vergangenheit soll man ruhen lassen. Jedoch sind gerade aus der Region sehr viele Reaktionen gekommen. Viel Familien nehmen den Film als Anlass um über die Zeit zu sprechen und ihre eigene Geschichte zu hinterfragen.“
Der Dokumentarfilm lässt die Zeitzeugen erzählen und berührt damit, ganz ohne groß angelegte Inszenierung. Die jahrelange Beschäftigung mit der Materie hat die beiden Brüder zu Experten gemacht. Tobias, der Politikwissenschafter, schrieb sogar eine akademische Arbeit über das Massaker. Auch wenn sich im Rahmen der Recherchen immer wieder neue Vermutungen ergeben, bleibt der Kriminalfall ungelöst. Stichhaltige Beweise, wer die Täter waren, gibt es nicht. Unmittelbar nach der Tat ließ man es so aussehen, als seien es unbekannte Uniformierte gewesen, sinngemäß eine Mörderbande von weit weg, wahrscheinlich aus Deutschland. Die effiziente Tatausführung legt nahe, dass die Täter nicht das erste Mal an Massenerschießungen teilnahmen. Es scheint auch gewiss, dass sie gute Ortskenntnisse hatten. Zumindest eine Mitbeteiligung von Menschen aus der Region liegt nahe. Beschäftigt man sich mit dem Geschehenen, wird auch die ambivalente Rolle der damaligen Akteure sichtbar: Das Nazi-Regime kollabiert, die russische Besatzungsmacht steht kurz vor der Machtübernahme. So zeigte sich der stellvertretende Kommandant der örtlichen Gendarmerie sehr couragiert indem er das Verbrechen penibel dokumentierte, lokale Persönlichkeiten als Verdächtige benannte und lange um Aufklärung kämpfte. Andererseits schiebt er in seinen Protokollen viel Verantwortung von der lokalen Bevölkerung weg, wohl aus Angst, in Zukunft Rechenschaft ablegen zu müssen. Bis heute ist eines der schlimmsten Verbrechen der letzten Kriegsphase unaufgeklärt. Haben die Täter ihr Geheimnis mit ins Grab genommen? Hans Hochstöger wäre da nicht so sicher. Für Historiker erschließen sich laufend neue Quellen, viele Archive werden erst jetzt geöffnet, in Protokollen zu Kriegsverbrecherprozessen könnten sich noch Hinweise finden, die eines Tages die Täter von Hofamt Priel entlarven.
Unterdessen erinnert an den Tatorten lediglich ein Gedenkstein an die Opfer. Er ist dem privaten Engagement des Holocaust-Überlebenden Ernst Fiala zu verdanken, der ihn letztlich sogar aus der eigenen Tasche bezahlte, die Platzierung des Steins aber nicht mehr erlebte. Die Inschrift spricht von „Hinrichtungen durch ein deutsches Rollkommando“. Kritiker sehen darin wiederum den Versuch Verantwortung weit wegzuschieben. Und auch von einem Mindestmaß an Rechtsstaatlichkeit, die eine formelle Hinrichtung bräuchte, fehlt jede Spur. Es war schlicht und einfach ein Massaker an wehrlosen Arbeitssklaven, ein Massenmord fast ausschließlich an Frauen mit ihren Kindern. (Schon im Jänner 1945 hatte man arbeitsfähige Frauen und Männer dieser Gruppe separiert und zwang sie im Burgenland am Südostwall zu schuften.)
In Sachen Erinnerungskultur und Aufklärung gäbe es genug zu tun. In den 60er Jahren wurden die Leichen auf den jüdischen Friedhof in St. Pölten überstellt, seither erinnert dort ein Gedenkstein an die Namen der Opfer (siehe Seite 20). Der Bürgermeister von Hofamt Priel, Friedrich Buchberger, erzählt: „Im Frühjahr 2020 mussten wir pandemiebedingt einen Sternmarsch mit tausend Schülerinnen und Schülern zum Mahnmal absagen, das wollen wir heuer nachholen.“ In der Fastenzeit sei eine Vorführung von „Endphase“ geplant, gerade um die Jungen geht es ihm: „Die Alten reden darüber nicht viel. Umso wichtiger ist es, dass die Jüngeren nicht vergessen, sondern hinschauen und daraus für die Zukunft lernen.“
„ENDPHASE“ - Ein Film von Hans Hochstöger (2021) 
Seit 2015 recherchierte der Filmemacher und Fotograf Hans Hochstöger gemeinsam mit seinem Bruder Tobias, einem Politikwissenschafter, zum Massenmord im niederösterreichischen Hofamt Priel, der Nachbargemeinde von Persenbeug. Im Dorf wo sie aufwuchsen, suchten sie nach Augenzeugen jener Nacht, kurz vor Kriegsende, in der 228 wehrlose Menschen erschossen wurden – und nach einer Erklärung für das jahrzehntelange Schweigen. „Endphase“ kommt ohne große Inszenierung aus, der Film berührt durch die Kraft der Erzählung jener, die dabei waren. 

Wo kann man den Film sehen? 
Aktuelle Vorstellungen, etwa im Cinema Paradiso oder im Stadtkino Grein, werden hier gelistet: www.filmdelights.com/verleih/endphaseverleih