MFG - Kleine Oase im Welttheater
Kleine Oase im Welttheater


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St. Pöltens gute Seite

Kleine Oase im Welttheater

Text Johannes Reichl
Ausgabe 09/2015

Es gibt da eine Geschichte, die Rainer Handlfinger gern symbolisch anhand der in seinem Ort situierten restaurierten Dampflokomotive Mh.6 erzählt. „Mit einem kleinen Zündholz zündest du den Heizkessel an, und am nächsten Tag ist daraus ein Feuer entstanden, mit dem du sechs Waggons einen Berg hinaufziehen kannst. So ist es auch mit Ideen. Da ist anfangs nur ein kleiner Funke, aber dann entsteht etwas Großes.“

Nichts ist mächtiger als eine Idee, deren Zeit gekommen ist“, zitiert Handlfinger diesbezüglich Victor Hugo, und damit ist man schon nah an dem, was man seinen Lebenszugang nennen kann. Auch wenn Handlfinger als Bürgermeister von Ober-Grafendorf einer Gemeinde mit „nur“ 4.600 Seelen vorsteht, sieht er gerade darin – oder gerade deswegen – eine Art Laboratorium der Weltverbesserung. „Auf Kommunalebene, auch wenn du selbstverständlich hier ebenfalls in die Großwetterlage eingebunden bist, fällt das politische Gestalten noch leichter als auf höheren Ebenen der Macht.“ Im Hinblick auf die Bundespolitik ortet er etwa vielfach einen zunehmend beengten Aktionsradius, viel werde auf EU-Ebene oder global determiniert. Die Politiker selbst scheinen bisweilen, als hätte sie der Mut verlassen. „Unsere Regierung agiert vielfach nicht mehr, sondern scheint nur mehr zu reagieren, auf Dinge, die auf sie hereinbrechen.“
Die aktuelle Asyldebatte mag dafür paradigmatisch stehen, wenngleich in diesem Kontext Handlfinger sich bisweilen nicht des Eindrucks erwehren kann, dass – Stichwort Traiskirchen – möglicherweise politisch bewusst versucht werde, ein schlimmes Bild von Österreich als Asylland zu zeichnen: „Die Botschaft soll sein: Das Boot ist voll.“ Dass Österreich auch in dieser Situation freilich in einem globalen Gesamtkontext zu betrachten ist, versteht sich von selbst, wobei Handlfinger mit Blick auf diverse Falllinien manches zumindest für fragwürdig hält. „Man ist, wenn man sich vieles durchdenkt, sehr rasch im Fahrwasser von Verschwörungstheorien – aber es befremdet jedenfalls, dass man einst im Irak einmarschierte und sich zurückzog, und jetzt das syrische Regime gewähren lässt, ohne zu intervenieren. Und auch die Nichtreaktion auf die Türkei, die unter dem Aspekt des Angriffs auf IS gleich auch die bis dato stärksten Widersacher eben desselben, nämlich die Kurden, angreift, ist eigenartig. Manchmal kann ich mich nicht des Eindrucks erwehren, dass hier – von welchen Kreisen auch immer – versucht wird, Europa zu destabilisieren. Aber das ist alles sehr theoretisch.“
Praxis
Dabei ist Handlfinger alles andere als ein Theoretiker, sondern definitiv Praktiker. In der Diskussion um „säumige“ Gemeinden, die nicht bereit seien, ihren Teil zu einer Entlastung der Asylsituation beizutragen, hat er selbst beim Land Niederösterreich ein Areal in Ober-Grafendorf angeboten. „Man war dort ganz perplex und meinte – obwohl ich mir das kaum vorstellen kann – ich sei erst der zweite Bürgermeister, der sich selbst meldet.“ Wobei Handlfinger den Gemeinden keinen Vorwurf machen möchte. „In vielen Kommunen gibt es tatsächlich keine Möglichkeiten der Unterbringung. Hätte ich kein leer stehendes Gebäude zur Verfügung, ich wüsste auch nicht, wo wir die Asylwerber unterbringen könnten – dann blieben nur Container, und das ist keine sinnvolle Lösung.“ So bringt man aber auf Eigeninitiative im ehemaligen Postgebäude rund 15 Asylwerber unter, auf Ersuchen der Polizei und des Roten Kreuzes werden zudem Plätze für sogenannte Akutfälle – also jene Aufgegriffenen, die die ersten Stunden von der Polizei betreut werden – geschaffen, die im Bedarfsfall bereitstehen.
Diesen Schritt, von dem Handlfinger vollends überzeugt ist, macht er freilich nicht ohne breite Konsensbildung. „Du kannst nicht gegen die öffentliche Meinung etwas durchsetzen. Wir haben daher einen Gipfel mit den anderen Fraktionen, den Vereinen, den Blaulichtorganisationen, der Kirche durchgeführt – wichtig ist, dass alle diesen Schritt mittragen, und es freut mich, dass über alle Grenzen hinweg verantwortungsbewusste Menschen in unserer Gemeinde am Werken sind. Ich habe zu ihnen gesagt: Die Gemeinde ist für euch da. Diesmal brauchen wir eure Hilfe. Die Solidarität war unglaublich!“
Partizipation
Auf den Konsens, auf Zusammenarbeit setzt Handlfinger ganz prinzipiell. Obwohl er etwa Anfang des Jahres die absolute Mehrheit errang und – entgegen des Landes-SP-Trends – vier Mandate dazu gewann, möchte er nach wie vor mit den anderen Fraktionen, die bis vor kurzem noch seine Koalitionspartner waren, zusammenarbeiten. „Ich merke selbst, dass man mit einer Absoluten Gefahr läuft, in der Kommunikation mit den anderen nachzulassen, weshalb ich die vorherige Koalition fast sinnvoller fand“, stellt er, für den Zuhörer etwas überraschend, fest. Aus dem Munde des Landeshauptmannes oder des St. Pöltner Bürgermeisters, beide ebenfalls mit einer Absoluten ausgestattet, bekäme man derlei nie zu hören. „Ich bin da durchaus selbst gefordert, denn wir hatten und haben eine sehr gute Kooperation.“ Natürlich freue er sich über die Anerkennung durch die Wähler, „weil du ja soviel Zeit investierst, und es schön ist, wenn das auch anerkannt wird“, umgekehrt könne Politik aber auch ein undankbares Geschäft sein. „Mein grüner Vizebürgermeister etwa hat wirklich viel gearbeitet und sich reingehängt, trotzdem haben die Grünen verloren – das war sicher nicht verdient.“
Mit seiner neu gewonnenen absoluten Macht möchte er jedenfalls behutsam umgehen und interpretiert sie im Vergleich zu manch anderem mächtigen Bürgermeister auch mehrdimensional. „Der Auftrag ist damit ja nicht, jetzt nur rote Ideen umzusetzen und alles, was von den anderen Fraktionen kommt, abzulehnen, sondern der Auftrag ist, die richtigen Ideen für die Gemeinde umzusetzen.“ Vom vielfach in der Politik praktizierten Trittbrettfahren mit Zeitverzögerung, dass man also parteifremde Ideen vorweg einmal ablehnt, um sie dann nur ein paar Monate später als die eigenen zu verkaufen, hält Handlfinger demzufolge gar nichts. „Ich glaube Zusammenarbeit über Parteigrenzen hinweg – so sie möglich ist, und in Ober-Grafendorf funktioniert das gut – ist der eigentliche demokratische Auftrag!“
Selbstverständlich und vor allem ist aber auch die Zusammenarbeit mit, das Eingehen auf die eigene Bevölkerung von größter Bedeutung – und auch hier bemüht sich Handlfinger um direkte, partizipatorische Wege. So wurde für das Standort-Entwicklungskonzept mit Thomas Egger zwar professioneller Support für die Aufbereitung und Begleitung an Bord geholt, im Zuge der Stadterneuerung wurde aber die Bevölkerung direkt nach ihren Wünschen befragt „weil wir wissen wollten, was die Bürger überhaupt wollen, was ihnen wichtig ist. Was für eine Kommune wollen wir sein?“ Mit dem Rücklauf des (im Unterschied zu manch ähnlichen Aktionen anderer Städte durchaus substanziellen) Fragebogens von 28% war Handlfinger mehr als zufrieden. „Immerhin musste man sich schon eine halbe Stunde dafür Zeit nehmen.“ Und die Ergebnisse überraschten ihn teils. „Dass sich 72% einen Wochenmarkt wünschen, kam doch überraschend.“ Den hat man nunmehr bereits umgesetzt – seit Juni ist er in Betrieb und ein Riesenerfolg, v.a. weil Regionalität, Authentizität und Nachhaltigkeit im Vordergrund stehen. Für Handlfinger in seinem gesamten Lebenszugang Schlüsselbegriffe. „Manch Landwirt war skeptisch, ob sich das sozusagen auszahlt. Aber jetzt sieht man, dass es ein toller Erfolg ist, und für manchen ist es auch ein befriedigendes Erlebnis, mit eigenen Produkten, die abseits der reinen Weizen- und Kukuruzbewirtschaftung, wie wir sie wohl zu 80% in der Gemeinde haben, zu punkten. Das führt teils zum Umdenken im gesamten Zugang, auch zu Nachahmern.“ Da ist wieder die Idee vom Funken, der sich zu etwas Größerem auswachsen kann.
Ein anderes diesbezügliches Beispiel ist das Selbsterntefeld mitten im Ort. Ein Landwirt baut dort 20 verschiedene Sorten Gemüse an, welche die Bürger – vergleichbar den Blumenpflückfeldern – selbst ernten können. „Das ist ein wirklich cooles Projekt, das auch den Nachhaltigkeitsgedanken unterstreicht, weil er dort nur Biogemüse anbaut.“
Autonomie
Nachhaltigkeit, auch im Sinne von Autonomie von übergeordneten Systemen, die fernab des Kommunalen blühen oder dieses in seiner Existenz gar bedrohen, ist ein explizites Ziel von Handlfinger für Ober-Grafendorf. Das allererste Projekt, das in gewisser Weise auf den Versuch hinauslief, sich von größeren Ebenen zum Teil zu entkoppeln, war diesbezüglich die Photovoltaikanlage des Wasserwerkes. Die Bürger konnten sich direkt als Investor am Projekt beteiligen und erhalten im Gegenzug dafür auf eine Laufzeit von 13 Jahren eine fixe Rendite. „Damit decken wir heute den Strombedarf für unsere Pumpen ab“, freut sich Handlfinger, und hat damit das zum Teil von ihm selbst skeptisch beäugte „sale & lease back“-Modell auf eine lokale, so betrachtet nachhaltige Ebene heruntergebrochen. „Die Anteile der Bürger mieten wir zurück, bis sie nach 13 Jahren in den Besitz der Kommune übergehen.“ Der Partner ist also vor Ort, ist Teil der Kommune und zugleich selbst Nutznießer der Investition – nicht irgendein ferner Hedgefonds, dem es rein um die Rendite und sonst gar nichts geht.
Für Handlfinger werden derlei Zugänge, die auf Autonomie hinauslaufen, in Zukunft noch wichtiger. Im Grunde genommen versucht er damit die zum Teil für kleine Räume bedrohlichen Entwicklungen mit ihren eigenen Waffen zu schlagen. Aus seinen Vorbehalten gegenüber TTIP etwa macht er keinen Hehl. „Ich halte das für eine ganz gefährliche Entwicklung. Ein Konzern kann dann vielleicht dagegen klagen, wenn die Politik Mindestlöhne einfordert? Damit gäbe die Politik endgültig ihre Möglichkeiten aus der Hand.“ Und dem versprochenen Nutzen und Wirtschaftswachstum für alle misstraut er zutiefst. „Ganz im Gegenteil – Profite werden die Konzerne machen, aber die kleinen Unternehmer vor Ort, der kleine Fleischhauer ums Eck, werden als erste zumachen. Damit werden kommunale Strukturen unwiederbringlich zerstört.“
Ziel von Kommunen, auch kleinen, müsse daher ganz im Gegenteil das „resilience“-Prinzip sein, „dass also unsere Systeme widerstandsfähiger, dass wir unabhängiger werden – das ist das Gebot der Stunde!“ Aspekte wie Energieautarkie, aber auch nachhaltige Nahrungsmittelproduktion vor Ort seien Aspekte dieses Ansatzes, „der uns wirklich weiterbringen könnte und für die Region gut und nachhaltig ist. Das ist im Grunde genommen unser Ziel für Ober-Grafendorf: Eine kleine Oase zu sein, wo die kommunalen Mechanismen noch funktionieren. Wo man zeigt, dass es auch anders geht!“