MFG - 5.000 Morde, ein Berg und sein Mythos
5.000 Morde, ein Berg und sein Mythos


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St. Pöltens gute Seite

5.000 Morde, ein Berg und sein Mythos

Text Michael Müllner
Ausgabe 03/2005

Weder Jahrhunderte, noch einen Dichter der Antike sind nötig um einen streitbaren Mythos zu schaffen. Den Stoff liefern unsere Großeltern, der Schauplatz des Schreckens liegt gleich ums Eck.

60 Jahre später. In Erinnerung schwelgen wird zur hohen Kunst der gekonnten Ausblendung, geht es doch um jene Zeit, in der Österreich am NS-Staat „partizipiert“ hatte. Auf Vergessen folgt zögerliches Aufarbeiten. Wissen schafft sich da nur schwer seinen Weg ans Tageslicht, erst recht durch kilometerlange unterirdische Stollen. Treffen dann Wissenschaft und Gerüchteküche aufeinander, so wird es spannend: Willkommen in Roggendorf!    Geheimprojekt Quarz  Der Zeithistoriker Dr. Bertrand Perz erforschte in den frühen 90er Jahren die Geschichte des Steyr-Daimler-Puch-Konzerns. 1944 stellte dieser derart kriegswichtige Produkte her, dass die SS in Melk ein Außenlager des KZ Mauthausen errichten ließ. Unter höchster Geheimhaltungsstufe, mörderisch-brutalem Einsatz tausender Zwangsarbeiter und höchstem Tempo wurde im nahe gelegenen Wachberg der Bau einer Stollenanlage mit gigantischen Ausmaßen vorangetrieben. Die kriegswichtige Kugellager- und Flugmotoren-Produktion sollte vor alliierten Bombardierungen geschützt werden. Auf über 500 Seiten lieferte Perz die wesentlichste Publikation zur Geschichte jener Stollenanlage, die von den Nazis „Quarz“ getauft wurde. Zeitreise in den Wachberg „Jeder meint etwas zu wissen, in Wahrheit weiß aber keiner, was wirklich geschah.“ So erklärt der pensionierte Geschichtsprofessor Dr. Gerhard Flossmann die Hintergründe um den „Mythos Quarz“. Noch immer ist vielen die Gedenkstätte in der Melker Kaserne, wo das KZ-Außenlager untergebracht war unbekannt. Heute informiert dort eine ständige Ausstellung über das menschliche Leid, das mit der Stollenanlage untrennbar verknüpft ist. Zahlreiche Schulklassen führte Flossmann zuerst ins ehemalige Krematorium, um seine Zeitreise dann in den gigantischen Stollen enden zu lassen: „Ich wollte den Zusammenhang zwischen dem menschlichen Leid, fünftausendfacher Ermordung und den mehr als 15.000 Quadratmetern bombensicherer Industrienutzfläche aufzeigen.“   Schon in seiner Jugend fesselten die gigantischen Ausmaße der Anlage den St. Pöltner Mag. (FH) Markus Schmitzberger. Über Jahre hinweg trug er Gerüchte, Widersprüche und offene Fragen zusammen. Über das Wettrennen von US-Army und Roter Armee nach St. Pölten, die verbitterte Verteidigung der Melk-Mank-Linie und die Beschaffenheit der Stollenanlage.  Irgendwann entstand daraus ein Buch: „Meine Theorie ist ein reines Modell, mit dem ich versucht habe Fragen zu beantworten, die meiner Meinung nach bisher unbeantwortet geblieben sind. Dass es notwendig ist, gewisse Grenzen und Regeln zu überschreiten, um Neuland zu finden, liegt in der Natur der Sache.“ Was das „Neue“ ist? Er stellt die Theorie auf, dass in Quarz bis zum Kriegsende an der deutschen Atombombe geforscht wurde. Mit für Laien durchaus schlüssigen Argumenten und faszinierenden Fragen.  Fantasy für ewig gestrige? Perz findet klare Worte: „In Kenntnis der historischen Dokumente zur Errichtung der Stollenanlage und nach der ersten Lektüre des Buches war mir klar, dass es die Druckkosten nicht wert ist. Außer man liest es als Fantasy. Dazu ist das Thema aber wohl zu ernst.“ Zur Untermauerung pickt der Zeitgeschichtler einen Aspekt heraus, zitiert aus den historischen Baubesprechungen und liefert Gegenargumente. Ganz so, wie man es sich von einem Wissenschaftler erwartet: seriös, fundiert, analytisch. Was bleibt ist typisch menschlich: War das wirklich alles? Gibt es nicht doch geheime Unterlagen, von denen man offiziell nichts wissen darf? Schmitzberger steht zu seinem Werk. „Ich führe einen Indizienprozess und behaupte zu keinem Zeitpunkt im Besitz der historischen Wahrheit zu sein. Ich wollte mein gesammeltes Wissen dokumentieren. Wenn sich neue Diskussionen ergeben, so ist das ein Erfolg.“ „Arbeiten wie jene von Schmitzberger bekommen so viel Aufmerksamkeit, weil sie die Faszination der Geschichte des Dritten Reiches bedienen“, spielt Perz auf den besonders in Deutschland starken Markt an Publikationen an, die aus dem rechten Eck kommen, und die NS-Zeit „schön schreiben“ wollen. Schmitzberger ist sich der Problematik bewusst: „Es gibt so viel rechten Müll, da wird man leicht in eine Schublade gesteckt. Aber wer mich kennt und das Buch liest, weiß, dass mich mit diesen rechten Autoren nichts verbindet.“  Mahnen statt Tourismus? Emotionen weckte vor einigen Jahren das Projekt zur Errichtung eines Mahnwegs, der den Weg der Zwangsarbeiter vom KZ zum Stollen, nehmen hätte sollen. Der Stolleneingang war als öffentlich zugängliche Erinnerungsstätte geplant, die Finanzierung gesichert. Gescheitert ist es am Widerstand der Anrainer. Als der Stollen vor mehreren Jahren noch offen war, litten sie unter regelrechtem Nazi-Tourismus. „Besonders gerne marschierten die Glatzen rund um den 20. April zu Saufgelagen und Schießübungen auf“, wissen sie zu berichten. Ein erneutes Öffnen sorgt so für ehrliche Angst. Außerdem fühlen sich manche Anrainer als „Hüter eines großen Geheimnisses“. Wer die Anlage wie seine Westentasche kennt, der will dieses Wissen nicht mit jedermann teilen. Und: Der geschlossene und „vergessene“ Stollen verträgt sich vorzüglich mit wirtschaftlichen Interessen: Am Wachberg wird Sand abgebaut. Morde und Beweise Der Wachberg ist ein Beispiel für den schwierigen Umgang mit der eigenen Geschichte. Werden 5.000 Morde an Zwangsarbeitern zu einer Fußnote der Geschichte? Dr. Flossmann lädt am 1. Mai zu einem Vortrag, Schmitzberger’s Theorie will er auch präsentieren, denn „sie ist gut recherchiert, auch wenn sie mich nicht überzeugt hat“. Der Mahnweg bleibt bei den Akten. Im Herbst bringt Dr. Perz im Studienverlag in Innsbruck eine Neuauflage seines Buches über das Projekt Quarz heraus – die Einleitung wird auch auf Schmitzberger eingehen, denn „letztlich bleibt es Historikern wie mir nicht erspart, die angeblichen ‚Beweise’ zu dekonstruieren“. Mehr zum Thema Dr. Bertrand Perz: „Projekt Quarz. Steyr-Daimler-Puch und das Konzentrationslager Melk“, Verlag für Gesellschaftskritik, vergriffen (Das Buch wird im Herbst im Studienverlag in Innsbruck herauskommen.) Mag. (FH) Markus Schmitzberger: „Was die US-Army in der Alpenfestung wirklich suchte“, Kopp-Verlag (Neuauflage 2004)  1. Mai 2005, Losensteinhalle in Loosdorf, 19:00 Uhr, Vortrag von Dr. Gerhard Flossmann über den Mythos der Stollenanlage in Roggendorf 18. März 2005, Tagung des Instituts für Zeitgeschichte der Universität Wien („Perspektiven einer Wissenschaftsgeschichte der europäischen Kernforschung“) mit Vorträgen und Buchpräsentation („Hitlers Bombe“ von Rainer Karlsch), Details unter www.univie.ac.at/zeitgeschichte.  Die Bücher stehen – sofern verfügbar – in der Amadeus-Filiale St. Pölten (Kremsergasse) für Leseproben bereit.