MFG - Seismograph am Puls der Zeit
Seismograph  am Puls der Zeit


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St. Pöltens gute Seite

Seismograph am Puls der Zeit

Text Johannes Reichl
Ausgabe 09/2016

Mit ihrem Erstlingsprogramm, in dem es um Flucht, Heimat, Identität bis hin zur Frage unseres Verhältnisses zur Türkei geht, liegt die neue künstlerische Leiterin des Landestheaters, Marie Rötzer, derart am Puls der Zeit, dass es fast schon unheimlich ist. Insbesondere, wenn man weiß, dass es in Grundzügen bereits Anfang 2015 entstand, als wir uns hierzulande noch auf der Insel der Seligen wähnten.

Sie beginnen Ihre erste Saison mit einem Stück über ein Flüchtlingsschicksal: „Die Welt ist groß und Rettung lauert überall.“ Hat sich das angesichts der vorjährigen Entwicklungen aufgedrängt?
Bevor es im Sommer des Vorjahres zur ersten großen Flüchtlingsbewegung kam, hatte ich mir im Vorfeld überlegt, welche Themen und Inhalte für St. Pölten und Niederösterreich passen könnten, und bin dann schnell auf den wunderbaren Roman von Ilija Trojanow gekommen. Es geht darin um die Flucht einer Familie in den vermeintlich Goldenen Westen sowie die darauffolgende Desillusionierung. Das Ganze mündet aber zuletzt – was für das Theater dankbar ist – in eine wunderbare Fantasiereise, die den Protagonisten Alex und seinen Taufpaten rund um die Welt führt. Und erst auf dieser emanzipiert er sich, erfährt eine Art Befreiungsprozess und findet seine eigenen Wurzeln.
Hilft nur die Flucht in die Fantasie, um derlei Erfahrungen zu überstehen – und ist es wichtig, die Zuschauer damit zu konfrontieren?
Wenn man nicht in Not ist, kann man kaum nachvollziehen, was das wirklich heißt: flüchten müssen, die Heimat verlassen, eine neue Heimat suchen. Natürlich lesen wir davon in den Zeitungen, sehen die Bilder im Fernsehen, und verbinden oft Gefühle der Ohnmacht damit. Und da ist das Theater ein Ort, der uns individuelle Schicksale besser und unmittelbarer vermitteln kann. Zugleich hat mir bei Trojanow gefallen, dass sein Buch weder Anklage erhebt noch vor Moral oder Pathos trieft. Ganz im Gegenteil, er schildert in seiner wunderbar poetischen Sprache viele Szenen – etwa den Alltag im Flüchtlingslager – voller Humor. Das ist das pralle Leben! Und da ist diese schöne Botschaft am Ende, dass man keine Angst vor einer grenzenlosen Welt haben soll. Das trifft doch genau den Nerv unserer Zeit.
Begreifen Sie das als eine Grundaufgabe des Theaters, dieses Fühlen am Puls der Zeit?
Ich verstehe Theater nicht als Erziehungs- oder Moralanstalt, wo mit dem erhobenen Zeigefinger gewunken wird. Im Theater geht es ja nicht um eine Heilslehre oder einen Bildungsauftrag wie bei einer Volkshochschule, sondern es geht vor allem um ein sinnliches Erlebnis. Ich glaube aber sehr wohl, dass man aus einem Theater als ein anderer Mensch herauskommt als man hineingegangen ist. Wobei es ja am spannendsten wird, wenn das Gesehene im Unterbewusstsein nachwirkt und sich dadurch unmerklich das Bewusstsein, der Blick auf die Welt, verändert. Im Grunde, so geht es mir zumindest, erlebt man ja Stellvertretergeschichten. Man wird mit dem Unbekannten, mit dem Fremden konfrontiert, kann sich in andere Rollen denken, einen anderen Blickwinkel einnehmen und das Dargebotene auch aus dieser neuen Perspektive reflektieren. Ein bisschen wie bei einer Therapiesitzung, wo man begreift, dass das Leben vielfältig und vielschichtig ist, es also nicht nur die eine Tür gibt, sondern vielleicht auch noch eine zweite und dritte.
Ein weiterer zentraler Themenkreis Ihrer ersten Spielzeit dreht sich um „Heimat“. Das ist nicht minder aktuell, wenn wir uns anschauen, wie die zwei Präsidentschaftskandidaten aktuell um die Deutungshoheit gerade dieses Begriffs buhlen. Warum erlebt „Heimat“ eine solche Renaissance?
Ich glaube, das hängt zum Teil damit zusammen, weil es in unserer modernen Welt der Mobilität, der Digitalisierung, des Internets diesen einen fixen Bezugspunkt, wie man ihn früher kannte, oft nicht mehr gibt. Viele arbeiten anderswo, müssen wegziehen, die Welt ist stetig in Bewegung – dadurch ist der Begriff „Heimat“ in seiner Gesamtheit nicht mehr haltbar, was viele Menschen auch als bedrohlich empfinden.
Ich habe mich mit der Frage, was für mich Heimat ist, intensiv auseinandergesetzt, weil ich nach zehn Jahren in Deutschland jetzt wieder nach Österreich zurückgekehrt bin. Dabei habe ich festgestellt, dass es nicht nur eine Heimat, sondern viele verschiedenen Heimaten geben kann. Für mich hängt das vor allem mit Menschen zusammen, Heimat ist auch immer da, wo Freunde und Familie sind. Für einen anderen, das kann ich auch nachvollziehen, kann es auch eine Landschaft sein. Letztlich ist Heimat aber schwer zu definieren und im Grunde genommen für jeden etwas anderes.
Diese Heterogenität spiegelt sich ja auch in Ihrem Programm wider, durch das sich Heimat wie ein roter Faden zieht. Es scheint, als würden Sie sich an dem Begriff geradezu abarbeiten.
Ein Spielplan soll immer eine Art Rhizom sein, ein Geflecht, wo ein Thema ins andere übergeht und miteinander zusammenhängt. In unseren Stücken begegnen wir Menschen, die ihre Heimat verlassen müssen, und sich an einem anderen Ort ein besseres Leben erhoffen. Es gibt aber auch solche, wie etwa in „Roppongi“ von Josef Winkler, die ganz bewusst aus der Heimat ausbrechen, weil sie ihnen zu eng geworden ist.
Im „Goldenen Vlies“ wiederum begegnet uns mit Medea eine Frau, die aus Liebe ihre Heimat verlässt, alles aufgibt – auch ihren Status als Königin – und in der Fremde dennoch keine neue Heimat finden kann.
Wie war das in Ihrem ganz persönlichen Fall – Sie kommen ja aus Mistelbach, quasi aus der Provinz, und sind dann in die weite Welt hinausgezogen.
Ich bin zunächst zum Studium nach  Wien gegangen. Als ich mich dann für den Theaterberuf entschieden habe, war mir klar, dass ich mich damit für ein Vagabunden-Leben entscheide. Wenn man am Theater arbeitet, gibt es keinen längerfristig festen Wohn- und Lebensort, sondern man reist von einer Station zur nächsten. Es gibt aber glücklicherweise so etwas wie eine große Theaterfamilie.
Eine besondere, aus seiner Sicht idealtypische Welt hat auch Thomas Morus in „Utopia“ entworfen und damit gleich ein ganzes literarisches Genre begründet. Aber gibt es sie tatsächlich, diese Orte, oder ist die Utopie immer schon von vornherein zum Scheitern verurteilt?
Ich glaube, es gibt diese Orte, wo verschiedene Kulturen, Ethnien, Lebensweisen friedlich koexistieren. Für mich waren das immer Städte – insbesondere vor 9/11 – wie London, New York, lange Zeit auch Paris. Diese Selbstverständlichkeit des Zusammenlebens hat mich immer fasziniert. Da hat man sich keine Gedanken gemacht, dass jemand eine andere Kultur hat, eine andere Hautfarbe. Im Gegenteil. Man geht in ein indisches Lieblingsrestaurant, lässt sich beim türkischen Friseur die Haare schneiden und holt seine Zeitung beim  pakistanischen Kiosk. Für mich ist das eine schöne Form des Zusammenlebens.
Für derlei Utopien scheint aber aktuell kein guter Boden zu sein – wir erleben eher ein Rückschlagen des Pendels in Nationalismus, Abgrenzung, Rückwärtsgewandtheit. Kämpft das Theater da nicht in gewisser Weise gegen das Ende der Utopie an?
Mir kommt vor, dass sich mit dem Mauerfall der Kapitalismus auf allen Ebenen und als einziges Denkmus­ter durchgesetzt hat. Heute fehlt es vielfach an Utopien und Gegenentwürfen, dabei wäre es wichtig, auch andere Wege und Alternativen zumindest durchzudenken. Diesbezüglich kommt dem Theater eine durchaus wichtige Rolle zu, weil man hier diese anderen Welten und Zugänge eben spielerisch ausprobieren kann. Bei unserer Utopia-Aufführung bildet Thomas Morus Buch, das er 1516 verfasste und darin bereits die Werte der Aufklärung wie Freiheit, Gleichheit, Toleranz vorwegnahm, das Herzstück. Zugleich knüpfen wir aber auch an der Gegenwart an, werden uns im Vorfeld mit heutigen Utopien auseinandersetzen und Menschen in Niederösterreich besuchen, die alternative Lebensentwürfe und -modelle leben.
Für Auseinandersetzungen wird wohl auch das Stück „Die Eroberung des Goldenen Apfels“ sorgen, wo es u.a. um die Türkenbelagerungen geht – topaktueller hätte das Stück ja angesichts des angespannten Verhältnisses zur Türkei nicht ausgewählt werden können.
Ja, das war fast schon ein bisschen unheimlich, weil wir das Theaterprojekt lange vor dem EU-Türkei-Deal überlegt haben, und noch viel länger vor dem gescheiterten Putsch und den daraus resultierenden Folgen. Hakan Savas Mican, der türkischstämmig ist und in Berlin lebt, hat sich viele Gedanken zu diesen Themen, zu Heimat und Fremde gemacht, und wir haben überlegt, was hier in St. Pölten spannend sein könnte und sind auf die Türkenbelagerungen gekommen. Wien wurde von den Osmanen als der „Goldene Apfel“ bezeichnet, den man begehrte, den man aber zuletzt doch nicht einnehmen konnte. Die Osmanen zogen wieder ab, haben aber Spuren hinterlassen wie das Kipferl, den Kaffee, die wir heute als Bereicherung empfinden.
Aktuell wird aber nicht über die Kipferl diskutiert, sondern da begegnet man einander zusehends mit Misstrauen, auch hierzulande.
Die Frage ist, was bedeutet dieses historische Erbe für uns heute, was die Einladung der Gastarbeiter in den 60‘ern, was die aktuellen Entwicklungen? Wie steht es um unser Zusammenleben? Gibt es den viel zitierten clash of civilizations tatsächlich, oder wird er nur herbeigeredet? Was empfinden wir als Bereicherung dieser Beziehung, wo erodiert das Zusammenleben vielleicht, und welche Ängste bestehen auf der jeweiligen Seite? Mican wollte für sein Stück in die Archive gehen, um Dokumente aus der Zeit der Türkenbelagerung zu sichten, ebenso aber auch Briefe junger Dschihad-Sympathisanten einflechten. In der Zwischenzeit hat sich aber so enorm viel getan, gab es den Putsch in der Türkei und einen richtiggehenden Paradigmenwechsel: Eben war die Türkei noch EU Beitrittskandidat, jetzt erleben wir – wie es zumindest die Medien vermitteln – dass Grundrechte verletzt werden, dass Künstler, Journalisten, Richter und Bürger ins Gefängnis kommen. Das stellt uns als Theater vor die Frage, wie wir damit umgehen, wie wir diesen gesellschaftlichen Prozess widerspiegeln sollen. Da wird die Funktion der Kunst als Seismograph gesellschaftlicher Umwälzungen, die auch in die Wunden der Gesellschaft greift, regelrecht spürbar.
Umwälzungen, die im Grunde auf allen Ebenen zu spüren sind. Sie waren zuletzt in Großstädten wie Hamburg oder Berlin tätig, sind nun im kleinen St. Pölten. Macht das inhaltlich einen Unterschied?
Also prinzipiell baut man eine Verbindung zu der Stadt auf , in der man wirkt – auch mit ganz spezifischen Themen. Zum anderen sind aber durch die Globalisierung, durch unsere Mobilität die Themen und Herausforderungen tatsächlich vielfach nicht mehr so unterschiedlich. Weder zwischen Groß- und Kleinstadt, noch zwischen Stadt und Land.
Was ich prinzipiell für wichtig erachte – und das ist meine ganz persönliche Utopie von Theater – ist die Schaffung von Denk- und Spielräumen, wo Grenzen überwunden werden. Deshalb finde ich es so wichtig, dass auch internationale Künstler, Menschen aus anderen Kulturkreisen hierherkommen und uns ihren Blick auf die Welt vermitteln, der oft ein ganz anderer sein kann als der unsere. Es geht um kulturelle Vielfalt, darum, seine Herzen zu öffnen und sich auf Neues einzulassen, neue Blickwinkel zuzulassen – in diesem Sinne verstehe ich das Landestheater durchaus auch als ein Fenster zur Welt.
Ein solches Fenster könnte auch die Bewerbung St. Pöltens zur Europäischen Kulturhauptstadt 2024 sein. Was halten Sie davon?
Ich hab die Kulturhauptstadt ja schon einmal miterlebt, und zwar 2003, als ich am Schauspielhaus Graz engagiert war. Damals war die ganze Stadt in Bewegung, es hat sich kulturell enorm viel bewegt, ebenso aber auch in punkto Tourismus, Image und medialer Wahrnehmung. Vor allem aber wurde Nachhaltiges geschaffen, zum Beispiel das Literaturhaus oder Kunsthaus, die heute noch immer bestehen. Außerdem wehte ein richtiger Weltgeist durch die Stadt, die Besucher kamen aus aller Welt,  ebenso waren aber auch die Grazer und Steirer selbst mit dabei. Ich bin überzeugt, dass die Kulturhauptstadt auch für St. Pölten ein schönes, großes Fest werden könnte.
St. Pölten ist in Ihren Augen also schon so weit?
Ich bin absolut überzeugt, dass St. Pölten und Niederösterreich die Potenz für eine solche Herausforderung haben. Im Land ist ja durch die Zusammenführung der verschiedenen Kulturinstitutionen enorm viel passiert, man hat ganz bewusst nicht nur auf die Landschaft, auf Wein etc. gesetzt, sondern auch der Kultur ganz explizit einen wichtigen Stellenwert eingeräumt, und das hat sich auch überregional herumgesprochen.  
Anfang der 90er waren Sie – damals noch am Stadttheater unter Peter Wolsdorff – schon einmal als Dramaturgin in St. Pölten beschäftigt. Haben Sie die Stadt jetzt bei Ihrer Rückkehr wiedererkannt?
Die Stadt ist heute viel offener, lebendiger, multikutureller. Es gibt zahlreiche Cafés, die voll sind, es gibt Galerien, drei große Bühnen und kleinere Veranstalter, Museen, viele gute Restaurants. Das gesamte Stadtbild hat sich verändert: Es ist viel bunter als früher, man sieht junge und alte Leute, viele Familien und Leute mit verschiedenen Herkünften. Das genieße ich sehr. Und ich hoffe, dass wir viele dieser Menschen fürs Theater begeistern können!
Ich glaube aber sehr wohl, dass man aus einem Theater anders herauskommt als man hineingegangen ist.
Es geht um kulturelle Vielfalt, darum, seine Herzen zu öffnen und sich auf Neues einzulassen, neue Blickwinkel zuzulassen. (Marie Rötzer)