Chicken
Text
Althea Müller
Ausgabe
„Meine Güte, Himmelherrgott, Kind!“, begrüßt mich meine Mama wie meistens – diesmal aber wohl wegen der roten Haare. Und dem bisschen Zusatztinte in der Haut. „Mamilein“, wehre ich seriös und erwachsen ab, „ich muss mich halt grad dringend selbst finden! Denn wenn ich das jetzt nicht schaffe, schaff ich es erst mit 50. Und dann muss ich zu diesem Zweck sicher obszöne Figuren aus Ton machen, in weiten Leinenhosen Orchideen pflanzen und mit meinen Freundinnen ganz ernst über koreanische Massagetechniken referieren. Das will ich nicht!“ „Du hast eine seltsame Ansicht vom Leben“, sagt Mama und geht in den Garten, um weiter an ihren Orchideen rumzudoktorn. „Dafür hat mich Allen Carr gerade von der Nikotinsucht geheilt“, versuche ich mich doch noch ins rechte Licht zu rücken, „und wenn ich mich ranhalte, finde ich sicher auch bald Rotwein sowie Musik mit satanischen Texten pfui. Es zählen doch die inneren Werte!“ „Ja, eh wunderbar“, antwortet Mama, „aber was ham wir davon, wenn ich dich jetzt vor deinen Nichten verstecken muss, damit sie keine hysterischen Schreikrämpfe kriegen?“ „Aber ich bin am richtigen Weg. Ich spür’s! Der Trip der Selbstverwirklichung trägt mich gerade in ein völlig neues, freies Leben.“ „Das ist das Ende.“ „Ein Ende ist immer auch ein Anfang.“ „Der Anfang vom Ende“, grollt Muttern. „Na“, schaltet sich da Papa hämisch in unser gar weibisches Geplänkel ein, „haben die Damen mal wieder heimlich vom Ascorbin-Fässchen genascht?“ „Oder wart ihr einfach nur zu lang in der Sonne?“, fragt mein Schwager ungebeten aber wenigstens behutsam. „Gehen wir in den Keller - töpfern?“ fragt mich Mama resigniert. Und ob! Vielleicht finde ich mich doppelt. Oder so.