Ein Buch für Julia
Text
Althea Müller
Ausgabe
„Julia kann nicht sprechen, also bin ich ihre Stimme.“ Das schreibt Kimberley Reinberger über ihre schwer- und mehrfachbehinderte Tochter Julia. Wo? In ihrem Blog und mittlerweile auch in ihrem ersten Buch. Warum? Um das Schweigen zu brechen.
Eine Standard-Untersuchung im Krankenhaus, 2016. Gegen Ende der bis dahin unauffälligen Schwangerschaft mit ihrem zweiten Kind. Ein Assistenzarzt offenbart dem in St. Pölten lebenden Paar Kimberley und Stefan Reinberger eine Entdeckung, die ihnen das Blut gefrieren lässt: Ihrem ungeborenen Mädchen fehle ein Gehirnbalken. Es würde in jedem Fall mit Behinderungen unbekannten Ausmaßes zur Welt kommen. Und die Welt? Steht still.
„Nach der Geburt war ich mit dem Baby im Zimmer, habe nur geheult und gedacht, ich wäre im falschen Film“, erzählt Kim im Herbst 2024 an der liebevoll gedeckten Familientafel im Kreis ihrer vier Kinder, während ihr Mann noch in der Spätschicht ist. „Da kam der junge Arzt von damals weinerlich an mein Bett gestürmt und rief: ‚Dass es so schlimm sein würde, hätte ich nicht gedacht!‘ Das war genau, was ich nicht gebraucht habe.“ Julia leidet an einer komplexen cerebralen Fehlbildung mit kompletter Balkenagenesie und dem Lennox-Gastaut Syndrom, sprich: Epilepsie. Auf dem rechten Auge ist sie fast blind.
Unqualifizierte Meldungen
Der überbordende Arzt war nur der Beginn eines Konglomerats aus unsensiblen Meldungen, ungefragten Meinungen einerseits und Verurteilung und Ignoranz andererseits – als wäre die Familie etwas, an dem es sich hochzuschaukeln oder zu messen gilt. „Auf der Straße erlebe ich mit Julia von-bis“, erzählt Kim als gebürtige Australierin, die mit ihren Eltern als Vierjährige nach Österreich kam. „Mitleid, Ekel, Spott. Einmal hat eine Frau ihre Tochter lautstark auf uns hingewiesen: ‚Schau, a behinderts Kind!‘ Am liebsten hätte ich da meinen Kindern gesagt: ‚Schaut! Eine depperte Frau!‘ Aber ich habe mich beherrscht.“ Beherrschen darf sich die engagierte Mutter auch in anderen Smalltalks, die sie nie anzettelt, aber häufig nicht schnell genug abwehren kann. „Da reden dich fremde Menschen zwar auf dein Kind im Rollstuhl an, aber bevor du selbst noch was erzählen kannst, scheinen sie regelrecht in einen Wettstreit zu verfallen, dass sie selbst oder irgendjemand, den sie kennen, ‚auch etwas hat‘: etwas gleich Arges oder viel Schlimmeres – wie ein Nierenproblem oder was mit dem Herzen. Ich frage mich dann immer, was das mit Julia zu tun hat. Und stehe als emotionaler Mülleimer zum Zuhören und Nicken da – mein schwerkrankes Kind vor mir, über das wiederum ich bitte lieber nicht sprechen soll.“
Viele Leute wollen zwar Kontakt aufnehmen – „aber mehr, um über ihre eigenen Schicksale zu reden, und besonders auch, um Julias Schicksal zu relativieren“, fasst es Kim schulterzuckend zusammen.
Alltag: Achterbahn
Das Leben mit Julia in ihrer Mitte gleicht für die zusammengeschweißte Familie einer Achterbahnfahrt. Das Implantat eines sogenannten Vagus-Nerv-Stimulators wird ärztlich dringend angeraten, um Julias lebensbedrohliche epileptische Anfälle einzudämmen. Nach monatelanger Tortur rund um den Eingriff und die Nachbehandlung sowie Schulung kristallisiert sich heraus, dass die in Aussicht gestellten Effekte aber leider nicht eintreten.
Mithilfe amerikanischer Fachliteratur und stundenlangen weiteren Recherchen führt Kim bei Julia auf Verdacht die ketogene Diät ein, weil sie über Umwege erfahren hat, dass sie bei Epilepsie helfen kann. Diese Ernährungsumstellung – privat in der eigenen Küche – ist aufwändig und komplex, Zutaten müssen akribisch abgewogen und zusammengestellt werden. Der Speiseplan ganz ohne Kohlehydrate, dafür im richtigen Fett-Verhältnis ist schon für gesunde Erwachsene schwierig einzuführen. „Bei einem nonverbalen, kranken Kind musst du noch unendlich mehr aufpassen“, ergänzt Kim. Das Positive aber: Die Hoffnung bestätigt sich. Die Anfälle reduzieren sich maßgeblich.
Dreieinhalb Jahre lebt Julia ketogen, zeigt Entwicklungsfortschritte. Im Sommer 2024 folgen erneute Rückschläge: Zum einen kann Julias Körper nicht mehr schwitzen. An heißen Tagen wandert Kim – mittlerweile mit viertem Kind in der Rückentrage – darum stundenweise mit ihr in den kühleren Keller. Zum anderen verweigert Julia plötzlich Getränke, schließlich das Essen. Sie verlernt in kürzester Zeit, zu schlucken. Zur Sicherheit lässt ihre Mutter daraufhin die Keto-Diät ausschleichen. Die Epilepsie-Anfälle? Nehmen wieder massiv zu.
Akzeptieren, was nicht zu ändern ist
Eine Operation und viele Stunden an Bangen, Nachbetreuung und Einschulungen später gilt Julia als PEG-Kind: Sie wird nun über eine perkutane endoskopische Gastrostomie-Sonde ernährt. Getränke und Essen werden mittels Spritze durch einen Schlauch in ihren Magen gespritzt. „Julia hat sich das nicht ausgesucht“, konstatiert Kim in ihrer trockenen Art, mit der sie Unabänderliches ganz direkt kommentiert, während sie die Spritze mit Saft aufzieht, „niemand hat sich das ausgesucht. Auch, wenn manche Leute meinen, wir hätten das getan.“ Kränkung huscht über ihr Gesicht, ganz kurz. Die Buben rennen in die Küche, das Baby lacht – und Julia braucht noch mehr Flüssigkeit via Sonde. Für Trauer über verletzende Meldungen bleibt da kaum Zeit.
Die Stimme wiederfinden
Nachdem sie ab Julias Geburt im Sommer 2016 fast nur noch mit ihrer Familie und medizinischem Personal gesprochen hat, findet Kim im August 2021 ihre Stimme wieder – und die ist laut.
In den ersten Wochen schreibt sie noch zaghaft an ihrem Blog – „meist mit einer Hand am Handy“, weil sie mit der anderen den damals Kleinsten zum Stillen festhält. Doch rasch öffnet sich das so lang verschlossene Ventil ganz. Und es sprudelt nur so raus. All die medizinischen, rechtlichen, amtlichen und gesellschaftlichen Schwierigkeiten, Unverschmtheiten, Irrwege und Enttäuschungen haben hier, auf Kims eigener Plattform, endlich Raum. Aber auch die schönen Emotionen, die Liebe zu ihrem Kind und ihrer Familie, das Erkennen der eigenen Stärke und all die Hoffnungen können hier raus. Schnell findet der „Hoffen gegen Hoffnung“ betitelte Blog Gehör: Tausende Zugriffe, zahlreiche Zuschriften von Betroffenen und Angehörigen und Interviews folgen.
Heute, nur drei Jahre später, hat sich die Sechsunddreißigjährige eine wachsende Community über Blog und gängige Social Media-Kanäle erschaffen. Und ihr erstes Buch herausgebracht: „Hoffen gegen Hoffnung – Julia enabled, not disabled“ rollt auf 279 Seiten die Jahre von der späten Schreckensmeldung in der Schwangerschaft bis kurz vor Julias Schul-Eintritt auf. Klar und ungefiltert. In mehreren Lesungen hat die Neo-Autorin, die bis dato noch nie vor Publikum gesprochen hatte, das seit kurzem im Handel erhältliche Buch bereits präsentiert. Die nächste Lesung ist am 23.01.2025 in der Lesewelt Obergrafendorf.
„Unsere nonverbale Tochter spricht auf ihre Weise so oft zu uns“, schließt Kim unser Interview ab. „Und mein Buch ist ihre Geschichte, die ich für sie erzähle.“
Der Blog
Das Buch
Hoffen gegen Hoffnung – Julia enabled not disabled (Buchschmiede)
Raiffeisenbank-Spendenkonto lautend auf Julia Reinberger
AT39 3258 5000 0855 6318
Kennwort: Julia