Pac-Man in der Wunderbar
Text
Johannes Reichl
Ausgabe
Für gewöhnlich sind die Tore des Vinzenz Pauli zu Wochenbeginn ja geschlossen – außer es ist der erste Montag im Monat, dann wird die Gastwirtschaft nicht von den Gourmets, sondern den Game-Aficionados des Vereins „Videospiel & Technikkultur Verein St. Pölten“ geentert. Ein – im wahrsten Sinne des Wortes – Lokal-Augenschein.
Als ich gegen 20 Uhr eintrudle, empfängt mich in der „Wunderbar“ im hinteren Teil des Lokals gedämpftes Licht. Rund zehn Personen sitzen rund um zusammengeschobene Tische und lauschen Asdren, der gerade einen Vortrag über japanische Spieleklassiker hält.
Ich platziere mich in einer Ecke des Raumes und lasse meinen Blick ein bisschen umherschweifen, akustisch begleitet von der Erkennungsmelodie des Spielklassikers „The Secret Of Mana“, die hinter mir im Standbymodus in Dauerschleife läuft. Sofort ins Auge sticht natürlich der Pac-Man Standautomat, der mir unweigerlich ein Grinsen ins Gesicht zaubert – um es mit Hans Krankl zu formulieren: LE-GEN-DÄR! Sonst sind mehrere „Spieleinseln“ vorbereitet, die aufs anschließende Zocken warten und schon ein bisschen die historische Bandbreite des Vereins erahnen lassen: es geht von den Ursprüngen des Gamings bis hinauf in die Gegenwart. Auf einem Tisch steht etwa ein moderner Gaming PC in HD-Qualität, auf einem anderen frohlockt die legendäre Nintendo 64 Konsole und hinter mir flimmert ein Röhrenfernseher „weil nicht alle Spiele auf modernen TV-Geräten laufen“, wie ich aufgeklärt werde. Dazwischen stapeln sich verschiedene Games auf CD-Roms in klassischen Schubern und … Cartridges! Ja, das waren jene Teile, die man noch in die Konsole steckte! Heute sorgen sie nicht nur für Retro-Spiele-Spaß, sondern sind zu heiß begehrten, auch monetär äußerst wertvollen Sammlerstücken geworden und Zeugen einer Zeit – aus der ich komme! Und so ernte ich – wenngleich absoluter Gaming-Dilettant – beim späteren Plausch zumindest mildes Zunicken der Experten, als ich von meiner Gaming-Initiation an der Atari Konsole – damals noch als Video Computer System beschrieben – sowie am legendären Commodore C64 erzähle (die 64 im Namen stand übrigens für die imponierende Leistung des Arbeitsspeichers – 64 … KB!).
Gezockt wurde im Haushalt der Herausgeberfamilie dieses Magazins, weil diese (der Papa war IT-ler bei Kika, die Speicher dort füllten den gesamten Dachboden) als einzige im Freundeskreis Mitte der 80er bereits einen Computer hatte, was die Adresse zu einem sehnsuchtsvollen Pilgerort für alle Freunde machte. Noch heute bekommt mein Arm beim Gedanken an die „Summergames“ am C64 einen Tremor-Flashback, wenn es galt, beim Sprint den Joystick in der Hand möglichst schnell hin- und herzupendeln, man könnte es auch malträtieren nennen. Die Goldmedaille habe ich trotzdem nie gewonnen, dafür hallen in mir noch die berühmten Takte aus Chopins berühmtem „Trauermarsch“ nach, wenn ich bei „Digger“ wieder einmal mein letztes Leben verloren hatte und der Grabstein mit der Inschrift RIP erschien! Angesichts der vorigen Hintergrundmusik des Spiels, deren Titel mir nicht mehr einfällt, war der „Tod“ aber bisweilen ohnedies eine Erlösung, weil sie sich in ihrem Staccato gnadenlos in die Gehirnwindungen bohrte.
Die Eltern sind schuld
So alt wie ich sind die Anwesenden zwar nicht, aber die älteren Semester bewegen sich auch schon Richtung Enddreißiger zu. Dazwischen finden sich auch youngsters wie Benjamin, 20 Lenze jung, oder Alina, die 27-jährige Schriftführerin des Vereins. Sie sind Beweis eines „Phänomens“, das sich zumindest hier wie ein roter Faden durchzieht: „80 bis 90 Prozent unserer Mitglieder sind erblich vorbelastet“, formuliert es Präsident Alexander. Soll heißen: Während etwa in meiner Generation und in vielen Haushalten bis heute eher der erhobene elterliche Zeigefinger, untermalt von einem vorwurfsvollen „du sitzt schon wieder viel zu lange vorm Computer“ an der Tagesordnung steht, waren im Fall vieler Vereinsmitglieder die Eltern nicht nur dem Spielen der Kinder gegenüber aufgeschlossen, sondern häufig auch soetwas wie Role Models. „Bei uns gab es nie fixe Zeiten, von wegen du darfst nur eine Stunde spielen“, erinnert sich etwa Vinzenz Pauli Hausherr und Vorstandsmitglied Maurice „im Gegenteil, meine Mutter ist sehr technikaffin und hat oft mit uns mitgespielt.“ Maurice seinerseits hat seine Schwester Alina infiziert, was sie mit einem augenzwinkernden „er ist schuld“ quittiert. Mr. President Alexander wiederum bekommt noch heute glänzende Augen, wenn er an die Weihnachtsfeiertage seiner Kindheit zurückdenkt, „weil mein Vater und ich dann immer die neuen Spiele, die unterm Weihnachtsbaum als Geschenk gelegen sind, gezockt haben.“ Dem ging in der Regel eine lange Vorfreude auf den Tag X voraus, „weil man damals ja noch nicht die Spiele einfach jederzeit im Netz runterladen konnte, sondern neue Titel nur zweimal im Jahr rausgekommen sind – da hat man vorher Kataloge studiert. Gekauft wurden die Teile dann im Gamestore“. Auch Neo-Mitglied Florian wurde von seinem Vater gametechnisch sozialisiert „der hatte eine Nintendo 64 Konsole, auf der wir spielten, wobei ich in Folge – das war so ab 10 herum – dann den Fortschritt in dem Bereich so richtig mitbekommen habe: Playstation, Handy, Gaming PC – das war eine Revolution.“ Eine, die für seinen Sohn Benjamin schon wieder schnödeste Normalität bedeutete. Mittlerweile ist Gaming absoluter Mainstream, ein weltweites Massenphänomen mit über drei Milliarden Spielern. Alina bekennt sodenn freimütig „Ich bin ein absoluter Nerd!“, und heute ist der Begriff positiver besetzt als noch zu meiner Zeit, als der klassische „Nerd“ in der Vorstellung der pickelige, übergewichtige, sozial isolierte Außenseiter mit dicker Hornbrille war, der nur daheim vorm Computer hockt und nie ein Mädchen abbekommt. „Also ich habe tatsächlich noch den Computer versteckt, wenn ich ein Mädchen mit nachhause gebracht habe, um keinen falschen Eindruck zu erwecken“, wirft Alexander lachend ein.
Dass das Nerd-Klischee in den meisten Fällen freilich schon damals nicht stimmte, stellt Florian klar. „Sicher haben wir viel gespielt, aber das war eher erst am Abend – am Tag waren wir dahingegen viel draußen unterwegs.“ Die Dauer-Bildschirmjunkies sowie die damit einhergehenden Probleme seien eher ein heutiges Phänomen, wobei viele Vereinsmitglieder – zumal jene, die schon Eltern sind – das Dilemma weniger im Zocken, als vielmehr im überbordenden Handykonsum orten. „Das Gift ist das Smartphone“, ist Florian überzeugt „weil es die Kids schlicht überall in Gebrauch haben, es als Kommunikationsmittel nutzen. Dadurch hängst du wirklich immer und überall dran“.
Leidenschaft
Gaming müsse man dahingegen als klassische Freizeitbeschäftigung begreifen, auch wenn es vor allem früher eines langen Atems bedurfte, um dies Nicht-Zockern verständlich zu machen. „In meinem Fall hat es sicher gut 15 Jahre gebraucht, bis meine Frau akzeptiert hat, dass das einfach ein Hobby von mir ist, das mich glücklich macht!“, erzählt Florian, und Alina bringt es so auf den Punkt: „Gaming ist einfach eine Leidenschaft!“ Wobei Gaming natürlich nicht gleich Gaming ist, Gamer nicht gleich Gamer. „Die einen stehen mehr auf Spiele mit fotorealistischen Darstellungen, andere wiederum bevorzugen einfachere Grafiken und Plots, wo mehr die eigene Fantasie eine Rolle spielt – das kann man am ehesten vielleicht mit dem Unterschied zwischen Film und Buch vergleichen.“
Gespielt wird auch längst nicht mehr nur einsam im finsteren Kämmerlein, sondern oft mittlerweile im Internet mit der ganzen Welt verbunden. „Ich hab während des Lockdowns notgedrungen mehr online gespielt und das hat großen Spaß gemacht – vor allem wird dir bewusst, wie ‚klein‘ die Welt auf gewisse Weise geworden ist, du spielst ja mit Menschen auf der ganzen Welt!“, erklärt Maurice, den vor allem auch die völkerverständigende, ja verbindende Dimension des Spielens fasziniert. „Man kennt sich ja nicht, aber es spielt einfach keine Rolle, welcher Nation man angehört, welcher Rasse, welcher Religion, ob man arm ist oder reich. Man spielt einfach gemeinsam und hat Spaß zusammen!“
Und lernt sich dann bisweilen doch näher kennen. „Benjamin und ich haben etwa über Discord mit einem Deutschen gezockt – daraus ist mittlerweile eine richtige Freundschaft geworden“, erzählt Florian, und Maurice erinnert sich lachend an den verdutzten Blick einer Freundin „als ihr ihr 13-jähriger Sohn eröffnete ‚Mama, ich möchte meinen Freund in Deutschland besuchen‘ und sie fragte ‚Welcher deutsche Freund?‘“ Der Junior hatte diesen beim Zocken kennengelernt. „Viele Eltern wissen ja gar nicht, was im Zimmer ihrer Kinder abgeht!“, räumt Maurice ein, und er meint es in dem Fall nicht – wie sonst oft in der gesellschaftlichen Debatte – negativ, von wegen Inhalten, die nicht altersgemäß sind, sondern durchaus positiv. „Gaming verschafft dir neue Horizonte. Du kannst etwas erleben, in neue Rollen schlüpfen, die dir im realen Leben sonst verwehrt sind. Das kann sehr bereichernd sein!“
Austausch mit Gleichgesinnten
Emotion und Leidenschaft sind auch die Ingredienzien, die das noch junge Vereinsleben ausmachen. Vor allem geht es um Austausch mit Gleichgesinnten, in real life, wie Alexander schwärmt. „Du kannst ins Detail gehen, bekommst neue Inputs, weil ja jeder seine eigenen spezifischen Erfahrungen hat.“ Und diese auch mit den anderen teilt – bei jedem Treffen hält ein anderes Mitglied einen Vortrag über ein Thema, das ihm selbst am Herzen liegt. Da wird dann auch schnell die Bandbreite offensichtlich. „Es gibt ja ganz unterschiedliche Gründe, warum man dabei ist“, erklärt Gründungsmitglied Robert. „Manche sind ‚retro‘ und interessieren sich für alte Spiele, wollen diese zocken und sich darüber austauschen, andere wiederum – wie ich zum Beispiel – interessieren sich mehr für den technischen Aspekt, die Systeme dahinter, denn ganz einfach formuliert: Ohne Technik keine Games!“ Letztlich sind es drei Säulen, die den inhaltlichen Grobrahmen bilden, wie Maurice ausführt: „Hardware – Software – Gaming.“ Und alles, was dazu gehört, könnte man sagen. So ist spannend zu beobachten, dass man im Gespräch rasch bei gesamtgesellschaftlichen Themen landet. Während Asdrens Vortrag kommt es etwa zu Zwiegesprächen über die unterschiedliche Mentalität zwischen Asien und Europa und den Einfluss der Preußen auf Japan. Alina wiederum erzählt über aktuelle Entwicklungen am KI-Sektor – womit sie sich im Zuge ihres Studiums intensiv auseinandersetzt – und konstatiert „dass wir diesbezüglich in Europa und Österreichs meilenweit hinter den USA, China und Japan herhinken.“ KI werde zwar nicht alles und alle ersetzen, aber – um etwa beim Gamingbereich zu bleiben – „sie spielt zum Beispiel eine große Rolle in der Programmierung, kann Abläufe optimieren und beschleunigen, schneller Fehler finden, bessere Übersetzungen liefern etc.“ Robert wiederum sieht das Phänomen des Überkapitalismus auch in der Gamingbranche manifestiert. „Es wird versucht, jeden Cent rauszupressen, da gabs auch einige Skandale im In-Gaming-Bereich, die der Branche nicht gutgetan haben. Es findet aktuell auch wenig Innovation statt, man bringt vor allem Remasters raus, das heißt, alte Ideen werden neu aufpoliert – manches davon ist gut, anderes aber auch einfach nur aufgewärmt und fad.“ Die Gamingindustrie sei, pflichtet Maurice bei, in einer veritablen Krise, „weil es immer schwerer wird, diesen Riesenapparat mit Tausenden Mitarbeitern zu finanzieren, weshalb man auch eher auf Nummer sicher geht und Titel bringt, die möglichst vielen gefallen“, was auf Kosten der Innovation gehe. Dennoch unterstreicht er mit einer gewissen Bewunderung, dass „viele Games wahre Kunst sind! Du hast die Programmierer, die Zeichner und Designer, riesige Orchester, die die Musik einspielen. Das ist schon beeindruckend.“ Ebenso wie der Stellenwert, den Gaming im Mutterland Japan einnimmt. „Da findest du etwa Pokémon Werbung an jeder Ecke, jede U-Bahn ist damit gebrandet, und es ist ganz normal, dass in den hippen Einkaufsstraßen neben Stores von Gucci und Prada jener von Nintendo steht. Das ist eine komplett andere Welt.“
Das trifft auch auf den Mikrokosmos des „Videospiel & Technikkultur Verein St. Pölten“ jeden ersten Montag im Monat im Vinzenz Pauli zu. „Hier ist es absolut cool“, versichert mir ein Vereinsmitglied bei der Verabschiedung. Wie zur Bestätigung fällt mein Blick zuletzt noch einmal auf Pac-Man, und plötzlich erinnere ich mich auch wieder an die Hintergrundmusik von „Digger“: Popcorn! LE-GEN-DÄR!