Interaktives Mahnmal gegen das Vergessen
Ausgabe
In den nächsten ein, zwei Jahren wird, wenn die Finanzierung klappt, jeder St. Pöltner Haushalt eine Ansichtskarte der Wiener Künstlerin Tatiana Lecomte mit folgendem handgeschriebenem Text erhalten: „Ich bin gesund, es geht mir gut.“ Ein Bericht über Schreckensorte, Opfer und Helden.
Ein Standardsatz der NS-Zeit, der auf Postkarten von Lagerinsassen, wenn es ihnen überhaupt erlaubt war, zu schreiben, niemals fehlen durfte. Insgesamt werden drei verschiedene Ansichtskarten-Motive versandt werden: Der große Vie-
hofener Schotter-See, unter dem heute das Lager für ungarisch-jüdische Zwangsarbeiter liegt, die Reste des ehemaligen Zwangsarbeiterlagers der Glanzstoffwerke in der Viehofener Au und ein Massengrab der NS-Zeit am St. Pöltner Hauptfriedhof. Auf jeder Ansichtskarte wird auch die Adresse einer Homepage mit historischen Materialien zu den drei Schreckensorten vermerkt sein. Mit dieser Idee hat Tatiana Lecomte den ersten Preis beim Künstlerwettbewerb für ein „Mahnmal für die Zwangsarbeiterlager St. Pölten-Viehofen“ gewonnen, der vom Land Niederösterreich und der Stadt St. Pölten ausgeschrieben wurde und an dem sich letzlich 164 Künstler aus 11 Nationen beteiligt hatten. Ein zweiter erster Preis, auch er von der Jury zur Verwirklichung empfohlen, ging ebenfalls an eine Wiener Künstlerin, nämlich an Catrin Bolt. „Sie greift in ihrem Entwurf die in Freizeitarealen zur Vermittlung von Informationen beliebten Orientierungstafeln auf. An stark frequentierten Orten geben diese den aktuellen Standort der BesucherInnen wieder, in diesem Fall jedoch auf einer Karte, die die Situation um die Viehofener Seen von 1944/145 wiedergibt. Die fünf vorgeschlagenen Tafeln werden teils Ausschnitte des Geländes, teils das ganze Gebiet wiedergeben, wobei die Baracken der Arbeitslager sowie Teile der Strecke des Todesmarsches samt Legende eingezeichnet werden“, heißt es in einer kurzen Beschreibung von Bolts Projektidee auf www.publicart.at.
Stellvertretend für die zigtausenden St. Pöltner ZwangsarbeiterInnen wollen wir ein Schicksal näher beleuchten, nämlich das von Margareta Balog, die 1928 in eine ungarische Arztfamilie im jugoslawischen Subotica geboren und am 16. Juni 1944 gemeinsam mit ihrer Verwandtschaft ebenso wie die gesamte jüdische Bevölkerung der Stadt in Viehwaggons getrieben wurde. Ziel des Transportes war Auschwitz, aber der mit rund 70 Personen völlig überfüllte Waggon der 16-jährigen landete nach einer drei Tage dauernden Horrorfahrt ohne Verpflegung und mit viel zu wenig Trinkwasser im Zwangsarbeiter-Zwischenlager Strasshof in der damaligen Ostmark. Mit Margareta Balog hatten zunächst ihre Eltern Ernst und Julia, ihre 12jährigen Schwester Olga und ihre Großmutter Elvira Voida überlebt, von den übrigen Verwandten würde Margareta nie wieder etwas hören. Anfang Juli 1944 wurden die Balogs gemeinsam mit 121 weiteren ungarischen Juden wiederum in Waggons gepfercht. Das Ziel der Fahrt wurde ihnen nicht genannt.
Die Verhältnisse in dem völlig überfüllten Viehwaggon während der tagelangen Fahrt von Strasshof nach St. Pölten waren traumatisierend, das 16-jährige Mädchen schrieb später in sein Tagebuch: „Seligmann Klara lag auf mir. Ich war im Schock. Ständig bohrte sich irgendein Eisen schrecklich in mich. Es kam mir vor, dass diese Nacht ewig dauerte.“
Am Abend des 10. Juli 1944 kam der Transport am St. Pöltner Hauptbahnhof an. Die Nacht verbrachten die künftigen Zwangsarbeiter am Boden der Warteräume, als Juden wurde es ihnen nicht gestattet, auf den Bänken zu schlafen. Am Morgen marschierten die 126 Gefangenen, eskortiert von drei Wachen namens Kubitschek, Losleben und Seif auf Fahrrädern, in Richtung Osten durch die Stadt. Entlang des westlichen Ufers des Flusses Traisen ging es in Richtung Norden in die Au östlich des St. Pöltner Stadtteiles Viehofen. Die Neuankömmlinge fanden ein leeres Lager mit acht umzäunten, kleinen Baracken vor. Außerhalb des Stacheldrahtes standen eine Waschküche, ein WC und die größte, für den Lagerführer bestimmte Baracke, die über einen Luftschutzbunker für ihn und die Wachen verfügte. Die Viehofener Au gehörte dem Grafengeschlecht derer von Kuefstein. Betreiber des Lagers und damit quasi Arbeitgeber der ungarischen Juden war der in St. Pölten ansässige Traisen-Wasserverband, der nach den Hochwässern der Jahre 1940 und 1941 versuchte, den Fluss im Bereich von Viehofen zu regulieren. Ab 1942 hatte er sich dazu zunächst des Reichsarbeitsdienstes, dann Kriegs- und Strafgefangener sowie bis 10. Juli 1944 ukrainischer Zwangsarbeiter bedient. Als Letztere kriegswichtigeren Arbeitsstellen zugeteilt werden, suchte der Verbandssekretär Johann Gruber um neue Zwangsarbeiter an, war aber dann nicht gerade glücklich über die vom Gauarbeitsamt zugeteilten, jüdischen Arbeitskräfte, da ihm zu viele Kinder, Frauen und alte Menschen darunter waren. Die Wachen des Viehofener Aulagers waren neben dem Lagerführer Kubitschek, nach Aussagen von Lagerinsassen bis zuletzt ein überzeugter Nazi, zwei ältere Männer, die man aus der Pension geholt und hier in Dienst gestellt hatte. Letztere standen den Juden wohl weder besonders negativ noch positiv gegenüber. Der Lagerführer begann nach einiger Zeit ein Verhältnis mit einer blutjungen, jüdischen Lagerinsassin, die diese ‚Freundschaft’ in ihrer totalen Abhängigkeit wohl oder übel über sich ergehen lassen musste. Die für das Mädchen sehr traumatische, erzwungene Liebschaft kulminierte ein paar Monate später in einer Abtreibung, die unter primitiven Bedingungen und unter höchster Geheimhaltung vorgenommen werden musste.
Die schwere, erschöpfende Zwangsarbeit musste von den Erwachsenen am Traisenufer östlich des Lagers geleistet werden, wo Dämme zu bauen waren und der mäandernde Fluss in ein gerades Bett umgeleitet werden sollte. Die Kinder hatten im Lager Holz und Balken zu sägen sowie andere Arbeiten zu verrichten. Als alleinige Verpflegung für die zunächst 126 Zwangsarbeiter waren 14 Brote vorgesehen, die jeden Tag von Margareta und Julia Balog mit einem Handkarren von einer Bäckerei neben der Viehofener Schule abgeholt wurden. Für die beiden Halbwüchsigen, die ein Dasein als Sklaven zu fristen hatten, war es schrecklich, mitansehen zu müssen, wie das Leben im Dorf völlig unbeeindruckt von ihren Qualen seinen ganz normalen Gang ging. Vor allem wenn die Kinder in der Schule neben der Bäckerei fröhlich sangen und lachten, war den beiden jüdischen Teenagern ihr elendes Dasein besonders schmerzlich bewusst. Obwohl die Anzahl der Gefangenen in den folgenden Wochen und Monaten auf rund 180 stieg, wurden nie mehr als 14 Brote zugeteilt. Vor allem alte Menschen im Lager erlagen dem Hunger und der Erschöpfung, bis April 1945 starben acht von ihnen. Während die Zwangsarbeiter darbten, wurde das Wild in der Au, die gräflich-kuefsteinsches Jagdrevier war, bis Kriegsende gut gefüttert. Auf Fluchtversuche stehe der Tod durch Erschießung, wurde den Insassen ständig eingeschärft, aber aus Hunger wurden trotzdem einige unternommen. Von diesen Flüchtigen hat man bis heute nie wieder etwas gehört.
Als Lagerarzt gelang es Dr. Ernst Balog, der in Wien Medizin studiert hatte, nach einiger Zeit Beziehungen zu einem Arzt, einem Chirurgen im städtischen Krankenhaus zu knüpfen. Der St. Pöltner Mediziner hatte sein Büro mit dem Porträt eines von ihm verehrten Wiener Universitätsprofessors für Chirurgie geschmückt, das einst auch in Dr. Balogs Ärztezimmer in Subotica hing. Die beiden Kollegen kamen sich näher und bald erhielt der jüdische Lagerarzt sogar Medikamente für seine Patienten. Als trotz all seiner Bemühungen ein Typhusfall im Lager auftrat, wurde er von der SS dafür verantwortlich gemacht und in Gegenwart aller Insassen ausgepeitscht. „Schweine-Jude!“, brüllte der SS-ler bei jedem einzelnen Hieb, den er dem inoffiziellen Anführer der Lagerinsassen versetzte.
Die einzige Freude für die Lagerinsassen waren wohl die Nachrichten über das Vorrücken der Alliierten, die sie gelegentlich von italienischen Kriegsgefangenen aus einem weiteren Au-Zwangsarbeiterlager circa einen Kilometer südlich erhielten. Die Italiener, die weit mehr Bewegungsfreiheit genossen, wickelten kurze, schriftliche Nachrichten um Kieselsteine und warfen sie über den Zaun ins jüdische Lager. Sie hatten in ihrer Baracke ein illegales Radio und waren daher über den Kriegsverlauf bestens informiert. Als einige von ihnen bei einem Bombenangriff zu Ostern 1945 verwundet wurden, wurden sie ins jüdische Lager gebracht und von Dr. Balog im Rahmen seiner begrenzten Möglichkeiten chirurgisch behandelt.
In den ersten Apriltagen war bereits das Artilleriefeuer der Sowjetarmee zu hören, deren Angriffslinien sich von Osten her der „Wirtschaftsgauhauptstadt St. Pölten“ näherten. Am Abend des 6. April 1945 erklärte der Lagerführer Kubitschek dem Lagerarzt Dr. Balog, dass er sich mit seinen beiden Männern unverzüglich absetzen und die Insassen ihrem Schicksal überlassen werde. „Die Lagertore blieben unversperrt und die Wachen kamen auch in der Nacht nicht mehr zurück“, heißt es im Tagebuch von Margareta Balog. Kaum jemand im Lager schlief in dieser Nacht, alle Insassen standen vor einer existentiellen Entscheidung. Am Morgen des 7. April verließen die fünf Mitglieder der Familie Balog das Lager und machten sich auf in Richtung Krankenhaus. Nur wenige wie etwa die Familien Kohn und Kraus folgten ihrem Beispiel.
Durch den schlechten Gesundheits- und Ernährungszustand von Margaretas Großmutter Elvira Voida dauerte der Weg, der normalerweise in nicht mehr als einer halben Stunde zu schaffen war, mehrere Stunden - auch weil die Flüchtenden versuchten, die Strecke so weit wie möglich in der Deckung von Au, Feld und Flur zu bewältigen. Im Krankenhaus bat Dr. Balog den ihm bekannten Chirurgen, ihn und seine Familie bis zum endgültigen Einmarsch der Russen zu verstecken. Der Mediziner zögerte zunächst ein wenig, brachte die fünf Flüchtlinge dann aber in einer Kammer im Keller der Isolierstation unter, in der in großen Holzverschlägen die Kleidung von Patienten gelagert wurde, die an infektiösen Krankheiten wie Typhus, Fleckfieber usw. verstorben waren. Das Spital, das bereits unter gelegentlichem Beschuss durch Artillerie und Tiefflieger stand, hatte keine Möglichkeit mehr, diese zu desinfizieren, ja nicht einmal zu verbrennen. Ein großes Schild an der Tür wies auf die Seuchengefahr hin und hielt auch die SS in den nächsten Tagen davon ab, diesen Kellerraum zu betreten.
Nur kurze Zeit nach der Flucht der Balogs rückte die SS in das Viehofener Aulager ein und erschoss alle Alten, Kranken und Schwachen. Der Rest der Insassen wurde auf einen grausamen Todesmarsch nach Mauthausen getrieben.
Sieben Tage lang blieben die Balogs hinter den Holzverschlägen versteckt. Eine mit dem Arzt im Bunde stehende Krankenschwester und Nonne von den Barmherzigen Schwestern vom Heiligen Vinzenz von Paul namens Schwester Andrea versorgte die Ausgehungerten mit Brot und warmer Suppe. Allein der Anblick der weißen, gestärkten Flügelhaube der geistlichen Schwester bedeutete Hoffnung für die Familie, die es Tag und Nacht nicht wagte, sich zu rühren, um nicht entdeckt zu werden. Nach ein, zwei Tagen begannen die Balogs wahre Höllenqualen zu erleiden, als Margaritas schwerkranke und erschöpfte Großmutter einen nicht zu stoppenden Reizhusten entwickelte.
Am 13. April 1945 war vor der Tür des Verstecks plötzlich Russisch zu hören. Kurz darauf kam Schwester Andrea in die Kammer und teilte der überglücklichen Familie mit, dass sie nun ihr Versteck verlassen könne.
Kaum dem Tod entronnen, wurde Dr. Balog gebeten, im Krankenhaus sofort als Operateur zu arbeiten, da es an erfahrenen Chirurgen mangelte. Er begann unverzüglich zu operieren.
Durch Recherchen im Ordensarchiv der Barmherzigen Schwestern konnte die Retterin Schwester Andrea als Ursula Skafar mit bürgerlichem Namen identifiziert werden. Sie wurde 1893 im ungarischen Murabarat als Bauernmädchen geboren und trat 1912 bei den Barmherzigen Schwestern in Graz ein. Ihr ganzes Leben arbeitete sie als Krankenschwester in vom Orden betreuten Spitälern, so auch von 1939 bis 1946 im Krankenhaus St. Pölten. Über die dramatische Rettung von fünf Menschenleben im April 1945 haben weder sie noch der Orden jemals ein Aufhebens gemacht, ja die 1976 in Wien verstorbene, barmherzige Barmherzige Schwester hat Zeit ihres Lebens nicht ein Wort über ihre mutige Tat verloren. Nur dem Tagebuch von Margareta Balog ist es zu verdanken, dass die Retterin nun doch namentlich bekannt geworden ist.
hofener Schotter-See, unter dem heute das Lager für ungarisch-jüdische Zwangsarbeiter liegt, die Reste des ehemaligen Zwangsarbeiterlagers der Glanzstoffwerke in der Viehofener Au und ein Massengrab der NS-Zeit am St. Pöltner Hauptfriedhof. Auf jeder Ansichtskarte wird auch die Adresse einer Homepage mit historischen Materialien zu den drei Schreckensorten vermerkt sein. Mit dieser Idee hat Tatiana Lecomte den ersten Preis beim Künstlerwettbewerb für ein „Mahnmal für die Zwangsarbeiterlager St. Pölten-Viehofen“ gewonnen, der vom Land Niederösterreich und der Stadt St. Pölten ausgeschrieben wurde und an dem sich letzlich 164 Künstler aus 11 Nationen beteiligt hatten. Ein zweiter erster Preis, auch er von der Jury zur Verwirklichung empfohlen, ging ebenfalls an eine Wiener Künstlerin, nämlich an Catrin Bolt. „Sie greift in ihrem Entwurf die in Freizeitarealen zur Vermittlung von Informationen beliebten Orientierungstafeln auf. An stark frequentierten Orten geben diese den aktuellen Standort der BesucherInnen wieder, in diesem Fall jedoch auf einer Karte, die die Situation um die Viehofener Seen von 1944/145 wiedergibt. Die fünf vorgeschlagenen Tafeln werden teils Ausschnitte des Geländes, teils das ganze Gebiet wiedergeben, wobei die Baracken der Arbeitslager sowie Teile der Strecke des Todesmarsches samt Legende eingezeichnet werden“, heißt es in einer kurzen Beschreibung von Bolts Projektidee auf www.publicart.at.
Stellvertretend für die zigtausenden St. Pöltner ZwangsarbeiterInnen wollen wir ein Schicksal näher beleuchten, nämlich das von Margareta Balog, die 1928 in eine ungarische Arztfamilie im jugoslawischen Subotica geboren und am 16. Juni 1944 gemeinsam mit ihrer Verwandtschaft ebenso wie die gesamte jüdische Bevölkerung der Stadt in Viehwaggons getrieben wurde. Ziel des Transportes war Auschwitz, aber der mit rund 70 Personen völlig überfüllte Waggon der 16-jährigen landete nach einer drei Tage dauernden Horrorfahrt ohne Verpflegung und mit viel zu wenig Trinkwasser im Zwangsarbeiter-Zwischenlager Strasshof in der damaligen Ostmark. Mit Margareta Balog hatten zunächst ihre Eltern Ernst und Julia, ihre 12jährigen Schwester Olga und ihre Großmutter Elvira Voida überlebt, von den übrigen Verwandten würde Margareta nie wieder etwas hören. Anfang Juli 1944 wurden die Balogs gemeinsam mit 121 weiteren ungarischen Juden wiederum in Waggons gepfercht. Das Ziel der Fahrt wurde ihnen nicht genannt.
Die Verhältnisse in dem völlig überfüllten Viehwaggon während der tagelangen Fahrt von Strasshof nach St. Pölten waren traumatisierend, das 16-jährige Mädchen schrieb später in sein Tagebuch: „Seligmann Klara lag auf mir. Ich war im Schock. Ständig bohrte sich irgendein Eisen schrecklich in mich. Es kam mir vor, dass diese Nacht ewig dauerte.“
Am Abend des 10. Juli 1944 kam der Transport am St. Pöltner Hauptbahnhof an. Die Nacht verbrachten die künftigen Zwangsarbeiter am Boden der Warteräume, als Juden wurde es ihnen nicht gestattet, auf den Bänken zu schlafen. Am Morgen marschierten die 126 Gefangenen, eskortiert von drei Wachen namens Kubitschek, Losleben und Seif auf Fahrrädern, in Richtung Osten durch die Stadt. Entlang des westlichen Ufers des Flusses Traisen ging es in Richtung Norden in die Au östlich des St. Pöltner Stadtteiles Viehofen. Die Neuankömmlinge fanden ein leeres Lager mit acht umzäunten, kleinen Baracken vor. Außerhalb des Stacheldrahtes standen eine Waschküche, ein WC und die größte, für den Lagerführer bestimmte Baracke, die über einen Luftschutzbunker für ihn und die Wachen verfügte. Die Viehofener Au gehörte dem Grafengeschlecht derer von Kuefstein. Betreiber des Lagers und damit quasi Arbeitgeber der ungarischen Juden war der in St. Pölten ansässige Traisen-Wasserverband, der nach den Hochwässern der Jahre 1940 und 1941 versuchte, den Fluss im Bereich von Viehofen zu regulieren. Ab 1942 hatte er sich dazu zunächst des Reichsarbeitsdienstes, dann Kriegs- und Strafgefangener sowie bis 10. Juli 1944 ukrainischer Zwangsarbeiter bedient. Als Letztere kriegswichtigeren Arbeitsstellen zugeteilt werden, suchte der Verbandssekretär Johann Gruber um neue Zwangsarbeiter an, war aber dann nicht gerade glücklich über die vom Gauarbeitsamt zugeteilten, jüdischen Arbeitskräfte, da ihm zu viele Kinder, Frauen und alte Menschen darunter waren. Die Wachen des Viehofener Aulagers waren neben dem Lagerführer Kubitschek, nach Aussagen von Lagerinsassen bis zuletzt ein überzeugter Nazi, zwei ältere Männer, die man aus der Pension geholt und hier in Dienst gestellt hatte. Letztere standen den Juden wohl weder besonders negativ noch positiv gegenüber. Der Lagerführer begann nach einiger Zeit ein Verhältnis mit einer blutjungen, jüdischen Lagerinsassin, die diese ‚Freundschaft’ in ihrer totalen Abhängigkeit wohl oder übel über sich ergehen lassen musste. Die für das Mädchen sehr traumatische, erzwungene Liebschaft kulminierte ein paar Monate später in einer Abtreibung, die unter primitiven Bedingungen und unter höchster Geheimhaltung vorgenommen werden musste.
Die schwere, erschöpfende Zwangsarbeit musste von den Erwachsenen am Traisenufer östlich des Lagers geleistet werden, wo Dämme zu bauen waren und der mäandernde Fluss in ein gerades Bett umgeleitet werden sollte. Die Kinder hatten im Lager Holz und Balken zu sägen sowie andere Arbeiten zu verrichten. Als alleinige Verpflegung für die zunächst 126 Zwangsarbeiter waren 14 Brote vorgesehen, die jeden Tag von Margareta und Julia Balog mit einem Handkarren von einer Bäckerei neben der Viehofener Schule abgeholt wurden. Für die beiden Halbwüchsigen, die ein Dasein als Sklaven zu fristen hatten, war es schrecklich, mitansehen zu müssen, wie das Leben im Dorf völlig unbeeindruckt von ihren Qualen seinen ganz normalen Gang ging. Vor allem wenn die Kinder in der Schule neben der Bäckerei fröhlich sangen und lachten, war den beiden jüdischen Teenagern ihr elendes Dasein besonders schmerzlich bewusst. Obwohl die Anzahl der Gefangenen in den folgenden Wochen und Monaten auf rund 180 stieg, wurden nie mehr als 14 Brote zugeteilt. Vor allem alte Menschen im Lager erlagen dem Hunger und der Erschöpfung, bis April 1945 starben acht von ihnen. Während die Zwangsarbeiter darbten, wurde das Wild in der Au, die gräflich-kuefsteinsches Jagdrevier war, bis Kriegsende gut gefüttert. Auf Fluchtversuche stehe der Tod durch Erschießung, wurde den Insassen ständig eingeschärft, aber aus Hunger wurden trotzdem einige unternommen. Von diesen Flüchtigen hat man bis heute nie wieder etwas gehört.
Als Lagerarzt gelang es Dr. Ernst Balog, der in Wien Medizin studiert hatte, nach einiger Zeit Beziehungen zu einem Arzt, einem Chirurgen im städtischen Krankenhaus zu knüpfen. Der St. Pöltner Mediziner hatte sein Büro mit dem Porträt eines von ihm verehrten Wiener Universitätsprofessors für Chirurgie geschmückt, das einst auch in Dr. Balogs Ärztezimmer in Subotica hing. Die beiden Kollegen kamen sich näher und bald erhielt der jüdische Lagerarzt sogar Medikamente für seine Patienten. Als trotz all seiner Bemühungen ein Typhusfall im Lager auftrat, wurde er von der SS dafür verantwortlich gemacht und in Gegenwart aller Insassen ausgepeitscht. „Schweine-Jude!“, brüllte der SS-ler bei jedem einzelnen Hieb, den er dem inoffiziellen Anführer der Lagerinsassen versetzte.
Die einzige Freude für die Lagerinsassen waren wohl die Nachrichten über das Vorrücken der Alliierten, die sie gelegentlich von italienischen Kriegsgefangenen aus einem weiteren Au-Zwangsarbeiterlager circa einen Kilometer südlich erhielten. Die Italiener, die weit mehr Bewegungsfreiheit genossen, wickelten kurze, schriftliche Nachrichten um Kieselsteine und warfen sie über den Zaun ins jüdische Lager. Sie hatten in ihrer Baracke ein illegales Radio und waren daher über den Kriegsverlauf bestens informiert. Als einige von ihnen bei einem Bombenangriff zu Ostern 1945 verwundet wurden, wurden sie ins jüdische Lager gebracht und von Dr. Balog im Rahmen seiner begrenzten Möglichkeiten chirurgisch behandelt.
In den ersten Apriltagen war bereits das Artilleriefeuer der Sowjetarmee zu hören, deren Angriffslinien sich von Osten her der „Wirtschaftsgauhauptstadt St. Pölten“ näherten. Am Abend des 6. April 1945 erklärte der Lagerführer Kubitschek dem Lagerarzt Dr. Balog, dass er sich mit seinen beiden Männern unverzüglich absetzen und die Insassen ihrem Schicksal überlassen werde. „Die Lagertore blieben unversperrt und die Wachen kamen auch in der Nacht nicht mehr zurück“, heißt es im Tagebuch von Margareta Balog. Kaum jemand im Lager schlief in dieser Nacht, alle Insassen standen vor einer existentiellen Entscheidung. Am Morgen des 7. April verließen die fünf Mitglieder der Familie Balog das Lager und machten sich auf in Richtung Krankenhaus. Nur wenige wie etwa die Familien Kohn und Kraus folgten ihrem Beispiel.
Durch den schlechten Gesundheits- und Ernährungszustand von Margaretas Großmutter Elvira Voida dauerte der Weg, der normalerweise in nicht mehr als einer halben Stunde zu schaffen war, mehrere Stunden - auch weil die Flüchtenden versuchten, die Strecke so weit wie möglich in der Deckung von Au, Feld und Flur zu bewältigen. Im Krankenhaus bat Dr. Balog den ihm bekannten Chirurgen, ihn und seine Familie bis zum endgültigen Einmarsch der Russen zu verstecken. Der Mediziner zögerte zunächst ein wenig, brachte die fünf Flüchtlinge dann aber in einer Kammer im Keller der Isolierstation unter, in der in großen Holzverschlägen die Kleidung von Patienten gelagert wurde, die an infektiösen Krankheiten wie Typhus, Fleckfieber usw. verstorben waren. Das Spital, das bereits unter gelegentlichem Beschuss durch Artillerie und Tiefflieger stand, hatte keine Möglichkeit mehr, diese zu desinfizieren, ja nicht einmal zu verbrennen. Ein großes Schild an der Tür wies auf die Seuchengefahr hin und hielt auch die SS in den nächsten Tagen davon ab, diesen Kellerraum zu betreten.
Nur kurze Zeit nach der Flucht der Balogs rückte die SS in das Viehofener Aulager ein und erschoss alle Alten, Kranken und Schwachen. Der Rest der Insassen wurde auf einen grausamen Todesmarsch nach Mauthausen getrieben.
Sieben Tage lang blieben die Balogs hinter den Holzverschlägen versteckt. Eine mit dem Arzt im Bunde stehende Krankenschwester und Nonne von den Barmherzigen Schwestern vom Heiligen Vinzenz von Paul namens Schwester Andrea versorgte die Ausgehungerten mit Brot und warmer Suppe. Allein der Anblick der weißen, gestärkten Flügelhaube der geistlichen Schwester bedeutete Hoffnung für die Familie, die es Tag und Nacht nicht wagte, sich zu rühren, um nicht entdeckt zu werden. Nach ein, zwei Tagen begannen die Balogs wahre Höllenqualen zu erleiden, als Margaritas schwerkranke und erschöpfte Großmutter einen nicht zu stoppenden Reizhusten entwickelte.
Am 13. April 1945 war vor der Tür des Verstecks plötzlich Russisch zu hören. Kurz darauf kam Schwester Andrea in die Kammer und teilte der überglücklichen Familie mit, dass sie nun ihr Versteck verlassen könne.
Kaum dem Tod entronnen, wurde Dr. Balog gebeten, im Krankenhaus sofort als Operateur zu arbeiten, da es an erfahrenen Chirurgen mangelte. Er begann unverzüglich zu operieren.
Durch Recherchen im Ordensarchiv der Barmherzigen Schwestern konnte die Retterin Schwester Andrea als Ursula Skafar mit bürgerlichem Namen identifiziert werden. Sie wurde 1893 im ungarischen Murabarat als Bauernmädchen geboren und trat 1912 bei den Barmherzigen Schwestern in Graz ein. Ihr ganzes Leben arbeitete sie als Krankenschwester in vom Orden betreuten Spitälern, so auch von 1939 bis 1946 im Krankenhaus St. Pölten. Über die dramatische Rettung von fünf Menschenleben im April 1945 haben weder sie noch der Orden jemals ein Aufhebens gemacht, ja die 1976 in Wien verstorbene, barmherzige Barmherzige Schwester hat Zeit ihres Lebens nicht ein Wort über ihre mutige Tat verloren. Nur dem Tagebuch von Margareta Balog ist es zu verdanken, dass die Retterin nun doch namentlich bekannt geworden ist.