Vorhang auf. Manege frei!
Ausgabe
Ein unfassbares Verbrechen macht St. Pölten vom Gerichtsschauplatz mit Provinz-Charakter zum Austragungsort eines internationalen Medienspektakels. Am Ende waren die meisten glücklich. Wohl auch, weil alles wieder vorbei war. Und wohl auch, weil alle brennenden Fragen unbeantwortet blieben.
Täter aus Hollywood
Am ersten Prozesstag bietet sich vor dem Landesgericht ein Schauspiel besonderer Art. Eindrucksvolle Truppen von Polizei- und Justizwachebeamte stellen die Staatsgewalt unter Beweis. Hunderte Medienmenschen aus aller Herren Länder, Journalisten und Kameraleute, sind angereist um der unfassbaren Dimension des Verbrechens zu huldigen. Momentan interviewen sie sich gegenseitig, viel gibt es ja noch nicht zu berichten. Niederösterreichs größtes Medienhaus hat unterdessen seinen Mitarbeitern ein Interviewverbot erteilt, sie sollen nicht den internationalen Kollegen Auskunft geben. Sicher ist sicher.
Ein bunter Bogen von Selbstdarstellern und Aktivisten versammelt sich vor dem Gerichtsgebäude um die mediale Aufmerksamkeit zu nützen und für ihre Anliegen Stimmung zu machen. „Da schau, der Hubsi Kramar! Der gibt sicher was her, der hat bestimmt eine Aktion geplant“, steigert sich die Vorfreude. Genervt herrscht der Entdeckte via Handy einen Mit-Organisatoren an: „Was heißt, ihr steht’s im Stau?! Des gibt’s doch ned! So geht des ned.“ Auch Provokationskunst verlangt professionelles Zeit- und Selbstmanagement. Zwischen all dem Ärger findet der Nationalprovokateur aber doch noch Zeit den fragenden Journalisten geduldig mehrmals seine „szenische Darbietung“ zu erklären: „Wir werden den Täter aus einer Limousine aussteigen lassen, er wird wie einen Hollywood-Star abgefeiert, die Fotografen stürzen sich auf ihn, sein Opfer hält er unterdessen an einer Kette.“ Nein, mit Österreich hat der Fall nichts zu tun, ist Hubsi Kramar überzeugt: „Das hätte überall passieren können, das Problem ist das Patriarchat! Und die Heuchelei in den Medien.“ Er selbst habe schon Drehbücher zugeschickt bekommen: „In zwei Jahren ist das Ganze verfilmt! Und heute tut jeder so, wie wenn das hier alles kein Medienzirkus sei?!“
Live vom Wintergarten
Unfreiwillige Profiteure des medialen Interesses am Gerichtsstandort St. Pölten sind heimische Tourismusgrößen wie der Bahnhofs-Hotelier Leo Graf. Schon Tage vor dem Prozessauftakt durften sie das Informationsbedürfnis der Welt in Nachrichtensendungen stillen. In der ganzen Region sei kein Bett mehr zu kriegen. „Schon drei Stunden nach Bekanntgabe des Prozesstermins waren wir ausgebucht“, berichtet der Hotelier. Und erwähnt die reibungslose Zusammenarbeit mit der Stadtverwaltung, die von den ausländischen Gästen hervorgehoben wurde: „Die Presseanfragen hat das Rathaus alle sehr rasch beantwortet und auch Interviewtermine mit dem Bürgermeister waren problemlos arrangiert.“ Die Gunst der Stunde nutzte auch Stefan Weiss und lies das neben dem Gerichtsschauplatz liegende „BarRock“ vormittags öffnen. Gedankt wurde es ihm, manche verlagerten den Arbeitsplatz direkt in das Lokal. Und welcher St. Pöltner Gastronom kann schon behaupten, dass die BBC von seinem Wintergarten aus Live-Einstiege in die Welt gemacht hat?
Warum? Kein Kommentar
Doch zurück zum Prozessauftakt, ein Montagmorgen vor dem Landesgericht. Der ORF verlängert seine Morgennachrichten und überträgt live, als Josef F. umringt von einem Kordon an Justizwachebeamten die Bühne betritt. Handschellen trägt er keine. „Wir hatten ja keine Angst, dass er davonläuft“, lacht Gerichtssprecher Franz Cutka, „das Aufgebot diente mehr dem Schutz des Angeklagten, es gab ja im Vorfeld Drohungen.“
Der Aufmarsch der uniformierten Staatsgewalt passt zum Ambiente des alten Schwurgerichtssaals, der einem Prunkraum der Habsburger gleicht. 95 handverlesene Journalisten, pro Medium einer, warten darauf, der Pressefreiheit gerecht zu werden. Getreu dem Motto: Gerechtigkeit soll nicht nur passieren, man soll auch sehen, wie sie passiert. Zwei Fotografen, zwei Fernsehkameras, zwei Mikrofone nehmen den Angeklagten ins Visier. Doch der zweifelhafte Star macht gleich am Gang zum Verhandlungssaal mit einem leisen: „Kein Kommentar“ alles klar.
Kein weiteres Wort mehr will und wird das von den Medien geschaffene „Monster“ den Damen und Herren der Presse schenken. Dennoch bleiben die Objektive auf ihn gerichtet, es wird gezoomt, es wird die Perspektive gewechselt. 15 Minuten lang hält der bald 74-jährige Angeklagte einen blauen Aktenordner vor sein Gesicht. Das Bild geht um die Welt. Nur den O-Ton bleibt er der Medienmeute schuldig. Eine geschlagene Viertelstunde lang, die immer gleichen Fragen der zwei lebenden Mikrofonständer: „Gibt es eine Antwort auf die Frage nach dem Warum?“ – „Wie werden Sie sich heute verantworten?“ – „Würden Sie wieder so handeln?“ – „Erwarten Sie ein faires Verfahren?“ Diese Mischung aus Provokation und Demütigung quittiert der Angeklagte mit keinem Wort. Viel wurde in Folge über die Aussagekraft dieser Standhaftigkeit diskutiert.
Kirtagsduft
Draußen vor dem Gericht wurde von der Stadtverwaltung ein Parkplatz zu einem provisorischen Mediencenter adaptiert. Ein Zelt bietet Schutz vor Regen und Schnee, Heurigengarnituren dienen als Arbeitsplatz, ein hell ausgeleuchteter Briefingtisch für die täglichen Pressekonferenzen steht bereit. Am Eingang hat das Medienservice der Stadt Quartier bezogen. Die offiziellen Info-Mappen des Gerichts geben Auskunft über den Ablauf des Verfahrens und erläutern ausländischen Journalisten die Grundzüge der österreichischen Strafprozessordnung. Eine Weitere informiert über Pressetermine: ein Empfang beim Bürgermeister, ein Rundgang in der barocken Altstadt, ein Besuch im Stadtmuseum.
Gefahr liegt in der Luft. Natürlich, sagen die Magistratsmitarbeiter, ist man sich der Gratwanderung bewusst: „Informieren wir nicht, fragt man uns, wie provinziell wir sind. Gehen wir zu offensiv an die Sache heran, wirft man uns vor, dass wir uns hier profilieren wollen.“ Genauso wird es später kommen.
Parade-Bäcker Wolfgang Hager stellt mit einem Verkaufswagen vor dem Pressezelt die Grundversorgung der rund 300 Journalisten mit kleinen Snacks und Kaffee sicher. Ein praktischer Service, der bei allen Beteiligten gut ankommt. Für Kopfschütteln sorgt hingegen der Stand vis-a-vis: getunkte Früchte und Zuckerwatte sind das falsche Sortiment. Der Stand bricht noch vor den Journalisten seine Zelte ab. Und gleich liegt etwas weniger vom ungewollten Kirtagsduft in der Luft.
Unterdessen hebt sich im Schwurgerichtssaal der Vorhang. Richterin Andrea Humer bringt in einem Statement an die Öffentlichkeit das Spannungsfeld der nächsten Tage auf den Punkt: „Dies hier ist nicht der Prozess einer ganzen Nation.“ Juristisch gesehen mag das stimmen.
Schande übers Land
Draußen vor dem Landesgericht hat man einen anderen Eindruck. Ein entwürdigendes Kasperltheater rast auf seinen Höhepunkt zu. Die angekündigte Limousine ist doch noch eingetroffen, Schauspieler steigen aus und die Fotografentruppe verhält sich genauso wie erwünscht. Aktivisten schreien nach Bundeskanzler Faymann, weil seine Regierung Kinderschänder schütze, und werfen mit blutigen Baby-Puppen um sich. Aus Monitorboxen erklingt klassische Musik, später ein Remix von „I Can’t Get No Satisfaction“. Eingebettet in wütende Demonstranten und Rechtsaußen-Fahnenträgern entsteht ein bizarres Bild, eine wirre Melange, die für Kopfschütteln sorgt. Die internationalen Medien begreifen nicht, wie sich so ein Faschingsumzug vor einem Gerichtsgebäude erklären lässt: „Bei uns daheim wäre das unmöglich. Aus Respekt vor dem Gericht!“
In St. Pölten hingegen beschimpfen angebliche „Berufsdemonstranten“ die anwesenden Polizisten als Schweine. Jeder, der sich in eine Polizeiuniform zwängt, sei wohl selber als Kind missbraucht worden. Zugleich treten sie für mehr Behördentransparenz und mehr Opferrechte ein. Für die Ausformulierung konkreter Anliegen war keine Zeit mehr. Deutsch- und englischsprachige Transparente zitieren dafür die „Schande für Österreich“ und wirken wie am Vorabend schnell gebastelt – immerhin tritt man sonst ja gegen nicht minder abstrakte Gegner wie Atomkraft, Abschiebungen, Globalisierung, Krieg, Putin oder Walfang ein. Für die Korrektur der Rechtschreibfehler war leider keine Zeit mehr, die werden taxfrei mitgeschickt, hinaus in die weite Welt.
Schlimmer als Weißrussland
Theater, wohin man blickt. Vor laufenden Kameras beklagen die Aktivisten die Einschränkung ihrer Versammlungsfreiheit und das Brechen von Zusagen durch die Polizei, weil besagte Limousine nur einen Teil des geplanten Weges fahren konnte – und nicht wie gewünscht quer durch die ganze Kameramenge. „Niederösterreich ist schlimmer als Weißrussland“, ärgert sich Peter Rosenauer von der Gruppe „Resistance for Peace“ deswegen noch Tage später. Ob er schon mal in Weißrussland war, bleibt ungeklärt. Dafür referiert er nach dem Spektakel minutenlang über „meine Präsenz in den Medien der Welt“ und beklagt, dass nur „die heimische Medienlandschaft verraten und verkauft sei, von Presseförderung und Seilschaft mundtot gemacht“.
Den postierten Polizeibeamten wird „das teilweise skurrile Treiben der Aktivsten“ in Erinnerung bleiben. Ein Beamter grübelt: „Wieso sind die Aktivisten teilweise so aggressiv? Ich sag zu einem, er soll von der Straße runtergehen, weil da gerade ein Auto kommt und er schreit mich an, ich soll ihm sofort meine Dienstnummer geben, er wird sich beschweren…“ Rund 36.000 Euro teilt die St. Pöltner Polizeidirektion später mit, hatte der Polizeieinsatz sowie die Vorsicherung rund um den Prozess gekostet. Zu Vorkommnissen sei es nicht gekommen, alles ist ruhig abgelaufen.
Von Anfang an
Drinnen beantwortet der Angeklagte unaufgeregt die Fragen der vorsitzenden Richterin. Fast könnte man meinen, er kommt mit ihr über frühere Arbeitgeber und die Stationen seines Lebens ins Plaudern. Er wirkt wie ein durchschnittlicher Opa, keine Spur von Monster. Wenn andere sprechen harrt er stoisch er der Dinge, mit denen er so gar nichts zu tun zu haben scheint. Während der ganzen vier Tage der öffentlichen Verhandlung lenkt er nie den Blick zu den anwesenden Journalisten im Saal. Er bleibt sein Herr, auch wenn andere über das richten, was sicher schwer auf ihm lastet.
Eine Last ist es auch für die Staatsanwältin Christiane Burkheiser: „Glauben Sie nicht, dass das leicht für mich ist“, stellt sie sich emotional mit den Laienrichtern auf eine Stufe. Sehr emotional, persönlich wird sie ihre Anklage vortragen. Die Geschworenen sollen das Verbrechen riechen und fühlen. Ihre Performance würde auch einem Hollywood-Drehbuch gefallen. Sie macht deutlich, was sie will: Lebenslang für Mord.
Schon als die schwer erkrankte (Enkel-) Tochter von Josef F. damals in Amstetten auftauchte und noch keiner einen Schimmer vom Ausmaß der Causa hatte, war Burkheiser mit dem Fall betraut und initiierte den medialen Aufruf, die Mutter möge sich melden und das Leben ihres Kindes retten. Rund ein Jahr war der „Jahrhundertprozess“ Teil ihres Lebens, nun will die ganze Welt wissen, ob die 33-jährige dem Monster und seinem Prozess gewachsen ist. Gerhard Sedlacek, der Sprecher der Staatsanwaltschaft St. Pölten: „Sie hat sich von der Stunde Null an voll hineingekniet. Objektiv gesehen war natürlich auch ein beachtlicher medialer Druck gegeben, von dem sie sich aber definitiv nicht beeinflussen ließ.“ Von der Oberbehörde wurde sie mit Argusaugen beobachtet, ihre Leistung nach dem Prozess ausdrücklich gelobt.
Die blamierte Meute
Der Prozess ist nach vier Tagen vorbei, alle sprechen von einem „kurzen Prozess“. Insbesondere den ausländischen Medien muss das Gericht erklären, weshalb 24 Jahre sehr wohl in vier Tagen abgehandelt werden können: Monatelange Vorverfahren haben genügend Fakten im Vorfeld der Anklageerhebung ergeben. Es ist demnach nicht nötig die zahlreichen Mieter, Familienmitglieder, Bekannte während des Prozesses zu befragen. Alle relevanten Informationen sind bereits berücksichtigt. Eine Spur auf Mitwisser oder gar Mittäter habe sich in hunderten Einvernahmen nicht gezeigt. Derzeit liegen bei der Staatsanwaltschaft St. Pölten auch keine Hinweise auf, die weitere Ermittlungen notwendig machen.
Auch der Ausschluss der Öffentlichkeit sorgt bei manchen Journalisten für Stirnrunzeln, der Vorwurf von Geheimjustiz liegt in der Luft. Geduldig erklärt das Gericht: Nach dem Ausschluss der Öffentlichkeit wird ein Video abgespielt, das die Aussage des Hauptopfers ersetzt, mit dem der Angeklagte im Kellerverlies eine „Zweitfamilie“ geschaffen hat. Im Sinne des Opferschutzes soll dem Opfer demütigendes Befragen in Gegenwart des Angeklagten erspart werden, voyeuristische Details bleiben unter Verschluss. Veröffentlichungen aus diesem nicht-öffentlichen Teil werden übrigens bestraft, droht das Gericht mehrfach den Journalisten. Wie das mit dem Verhalten der Polizei zusammengeht, fragen sich manche frech. Immerhin wurden gleich nach Bekanntwerden des Kriminalfalls von der Polizei intime Details in ausführlichen Pressekonferenzen präsentiert. Eine Frage, die unbeantwortet bleibt und wohl als Teil des allgemeinen Lernprozesses zusehen ist...
Während das Videomaterial abgespielt wird, ist es den Opfern möglich an der Verhandlung im Zuhörerbereich teilzunehmen. Josef F. dürfte die Anwesenheit seiner Tochter im Saal erst spät entdeckt haben, umso größer war dann der Effekt: in den Augen seines Verteidigers legt Josef F. ein volles Geständnis ab. Der Coup des Landesgerichts war damit perfekt. Vor den Augen der Weltpresse schleusten sie Mitglieder der Opferfamilie unentdeckt ins Gericht um ihnen die Möglichkeit zu bieten, am „eigenen“ Verfahren teilzunehmen, um zu sehen, wie sich der Peiniger verantwortet. Nichts drang vorzeitig nach außen, die wartende Meute war blamiert. Im Pressezelt lächelt Franz Cutka zufrieden in Richtung fragender Journalisten und wiederholt in der Manier des coolen Hofrat: „Zur Frage, ob ein Opfer im Gericht war, sage ich nur: Kein Kommentar.“ Dabei bleibt er bis heute.
Emotionaler Analphabet
Den gesamten Prozess über sitzt die Gutachterin Adelheid Kastner auf der Richterbank und beobachtet. Das von ihr erstellte Gutachten über Josef F. trägt sie persönlich vor. Damit gelingt ihr das Kunststück auf allgemein verständliche Art und Weise die zu Beginn gestellte Frage nach dem Warum zu beantworten. „Der Angeklagte wollte immer etwas, von dem er genau wusste, dass er es nicht wollen darf“, sagt Kastner. Schon bei den Großeltern seien seine Familienverhältnisse hochproblematisch gewesen. Seine Mutter sei in eine unfruchtbare Ehe hineinadoptiert worden. Außerehelichgezeugte Kinder werden in eine Familie hineingebracht. Das Muster sollte sich später auf unvorstellbar dramatische Art und Weise wiederholen.
Die Mutter selber habe ihn nur als „Beweiskind“ für die eigene Fruchtbarkeit gezeugt, danach war er nur mehr eine lästige Plage, die man bedenkenlos schlagen und alleinlassen konnte. Er hatte unglaubliche Angst vor ihr, zugleich war sie aber seine einzige Bezugsperson. Die Mutter habe ihm jede Chance genommen als Kind ein Ur-Vertrauen zu entwickeln. Kastner: „Die Fähigkeit zu lieben entwickelt man nur, wenn man selber geliebt wird.“ Er selbst könne gewisse Emotionen zwar benennen, aber nicht empfinden. Er sei ein emotionaler Analphabet. Der Angeklagte hört aufmerksam zu. Er zeigt keinerlei Reaktion. „In so einer Situation entwickelt man Strategien um zu überleben, man schiebt diese schrecklichen Gefühle weg, am besten in einen Keller, hinter eine schwere Türe“, so Kastner.
Einen Mensch besitzen
Ein springender Punkt sei gewesen, als er mit Einsetzen der Pubertät gemerkt hat, dass er die Möglichkeit hat seine Situation zu verändern. Er stellte sich gegen die Mutter, er sei nicht notwendigerweise der Unterlegene, er könne die Situation auch umkehren: „Daraus entstand ein grandioser Machtwunsch, der Wunsch, einen Mensch ganz zu besitzen.“ Aus diesem Bedürfnis entstehen verbotene Fantasien. „Es darf nicht sein, aber es wäre so schön.“ Die Gutachterin versucht einen Vergleich aus dem Alltag: Man findet Gründe, warum es nicht so schlimm wäre. Wie bei einer Zigarette. Es ist ja nur die eine, dann hör ich auf. Man redet sich ein, dass es nicht so schlimm ist, korrumpiert sich selbst. Es ist befreiend, sich vorzustellen, wie es wäre. Der Moment, wenn man es dann tut ist ein grandioses Erlebnis, alle Wünsche erfüllen sich. Man hat einen Menschen ganz für sich allein. Jee mehr Kinder man mit diesem Menschen zeugt, desto sicherer ist die Bindung, sogar im Fall einer möglichen Befreiung.
Der Angeklagte, so die Gutachterin, war die ganze Zeit über zurechnungsfähig. Er war zu keiner Zeit krank, sondern schwer gestört. Er wusste genau, dass das, was er tut, verboten ist. Dass es Unrecht ist. Und dieses Unrecht hat ihn auch immer belastet. „Glauben Sie, ich hätte oben Grillfeste feiern können, wenn ich dabei an die Familie unten gedacht hätte“, soll er zu ihr mal gesagt haben. Nur in den Phasen kurz vor dem Einschlafen und kurz nach dem Aufstehen, so Kastner, könne man sich nicht ablenken. Da habe er immer gewusst, wie schlecht „das“ ist, wie schuldhaft er handelt. Er hätte sich strenger an die Zügel nehmen müssen, die Verantwortung für sein Tun könne man ihm nicht abnehmen: „Ja, er ist eindeutig schuldig.“
Warum gerade diesen Menschen, wieso genau diese Tochter, will das Gericht wissen. Auch hier will sie vom Angeklagten eine Antwort bekommen haben: „Er hat mal gesagt, sie sei genauso stark und stur gewesen wie er.“ Je stärker der Gegner, desto größer der Sieg, heißt es. Wenige Meter entfernt veranstalten die Medien gerade den Jahrhundertprozess.
Freund der Familie
„Ich habe 1.051 Fotos von den Opfern! Und Sie sagen, Sie kennen mich nicht?!“ Ein Mann mit oranger Krawatte und silbernem Aktenkoffer herrscht einen iranischen Journalisten vor dem Pressezelt an. Wie kann man ihn, Heinrich Schmatz, nach all den Interviews, die er gegeben hat, nicht kennen? Seit Prozessbeginn an ist er da und spricht mit den Journalisten. Als er während einer Pressekonferenz eine Frage an Gerichtssprecher Cutka richten will schmeißt ihn der wortlos aus dem Zelt. Mit der natürlichen Konsequenz, dass jetzt selbst die letzten Journalisten auf den umstrittenen Zaungast aufmerksam werden.
Über Schmatz redet nur er selber. Ein offizielles Statement vom Gericht bekommt man nicht, weshalb der mystischen Aura der Selbstinszenierung natürlich noch mehr Freiraum gegeben wird. Cutka bestätigt nur, dass Schmatz unter Vorspiegelung falscher Tatsachen einen Besuchstermin bei Josef F. erhalten habe, der aber nach drei Minuten abgebrochen wurde, weil sich die wahren Motive für den Besuch gezeigt hätten. Worüber die beiden geplaudert hatten ist stritt. Laut Schmatz wollte er erfragen, wie der Angeklagte sein Verbrechen so lange geheim halten konnte. Realistisch scheint auch, dass er Vermögensfragen besprechen wollte, immerhin meint Schmatz, dass die Opferfamilie von Ärzten und Behörden ausgenutzt wird: „Ich sehe mich als Freund der Familie und würde gerne helfen. Sie werden schon sehen: Die Behörden betreuen die Opfer nur solange, bis vom Vermögen des Josef F., das ja eigentlich den Erben zusteht, nichts mehr da ist. Danach werden sie für gesund erklärt und müssen schauen, wo sie bleiben.“
Heinrich Schmatz behauptet selber ein Justizopfer zu sein: Mit Medikamenten wurde er ruhig gestellt, als er selber Angeklagter in einem Prozess war. Ja, er war rechtskräftig verurteilt und ein Jahr in Haft. Im Landesklinikum Mauer bei Amstetten sei er zur Behandlung gewesen. Nun will er der Wahrheit ans Licht helfen. Gegen den Vorwurf ein Stalker zu sein wehrt er sich. Fotos habe er nie an die Presse verkauft, er hatte es auch nie vor. Nein, er habe auch keinen Kontakt zur Opferfamilie, der würde ja von den Behörden verhindert. Natürlich weiß er, wo sie wohnen. Erst unlängst ist er in einem Café neben ihnen gesessen. Aber er hat sie nicht angesprochen. Nur gegen das Vorgehen des Gerichts habe er Anzeigen eingebracht. Aufgeben wird er nicht: „Mich machen sie nicht mundtot. Auch nicht mit dem Entmündigungsverfahren, dass sie gegen mich einleiten wollen.“ Es wirkt wie die Vendetta des Heinrich Schmatz, ein Nebenschauplatz beim Prozess gegen Josef F., in den sich vor allem deutsche Boulevardmedien kurzzeitig verlieben.
Showdown im Saal
Im Schlussplädoyer wirft die Staatsanwältin dem Angeklagten vor, er will aus einer vorgetäuschten Schwäche eine Stärke machen. Gemeint ist das umstrittene Geständnis, welches ein letzter Versuch des Josef F. sei, die Welt zu täuschen um seine Stärke zu demonstrieren – und sich nicht für den Mord am Neugeborenen verantworten zu müssen: „Helfen Sie ihm nicht! Tragen Sie nicht diese Türe mit ihm in den Keller, wie vor 24 Jahren seine Tochter.“ Den Szenenapplaus verkneifen sich die anwesenden Journalisten knapp.
Der Verteidiger nutzt sein Schlussplädoyer für die Verlesung einer geschmacklosen Email an ihn. In schlimmster Stammtischmanier wird darin einer Lynchjustiz das Maul geredet, Mayer kontert mit einer flammende Rede für die Rechtsstaatlichkeit und eine differenzierte Wahrnehmung von Verteidiger und Angeklagtem. Danach verliert er noch ein paar Sätze zu seinem Mandanten und dem vorliegenden Fall. Jeder weiß, dass hier nicht viel für den Mandanten vorzubringen ist. Nach dem Prozess wird Mayer, der trotz der zahlreichen Drohungen gegen ihn nicht um Polizeischutz angesucht hatte, das faire Verfahren loben und unzählige Interviews geben. Nur auf die Frage, ob das Gerücht stimmt, dass er am ersten Prozesstag mit einer Schusswaffe zu Gericht erschienen sei, blieb er wortkarg. Erstaunter Blick, dann: „Dazu möchte ich nichts sagen.“
Josef F. erhebt sich und will schon für sein Schlusswort Platz nehmen, da heißt es: Kommando retour. Es kommt vorher noch eine bislang stumme Dame zu Wort: Eva Plaz, die Opferanwältin sitzt seit Tagen links hinter Josef F. und sagte bislang kein Wort, unzählige Interviewanfragen hat sie ebenfalls abgelehnt. Nun aber spricht sie zum Gericht – und zwar im Namen des Opfers. Die Journalisten sind hellwach, lehnen sich vor, lauschen angestrengt den leisen Ausführungen der Expertin für Opferrecht und bemühen sich leise zu schreiben, leise zu atmen, jedes Knarren des Parkettbodens zu verhindern.
Ihre Mandantin habe sich der Belastung der Videobefragung nur ausgesetzt, damit sich Josef F. für den Tod des neugeborenen Sohns verantworten muss. Von echter Reue oder einem umfassenden Geständnis könne sie keine Spur entdecken: „Josef F. möchte Sie legen“, appelliert sie an die Geschworenen. Damit ist der Deckel drauf.
Wenige Stunden später wird Josef F. von den acht Hauptgeschworenen in allen Anklagepunkte einstimmig für schuldig befunden. Seine Strafe heißt „lebenslang“ und Einweisung in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher. Andrea Humer verkündet das Urteil und fragt Josef F., ob er das Urteil verstanden habe. Er antwortet: „Ja, ich nehme das Urteil an.“ Etwas vorschnell, zwei Mal setzt die Vorsitzende an und erklärt ihm die Möglichkeiten einer Berufung. „Nein, ich nehme das Urteil an.“ Humer: „Ich empfehle Ihnen, dass Sie sich zuvor mit Ihrem Verteidiger beraten.“ Doch F. beharrt darauf. Damit ist das Urteil rechtskräftig. Josef F. ist jetzt offiziell ein Mörder. Er wirkt erleichtert, als ihn die Traube an Justizwachebeamten wieder in seine Zelle führt. Österreichische Journalisten übersetzen den ausländischen Kollegen, was sich hier gerade zugetragen hat.
Die liebe Kleinstadt
Wenige Stunden später treffen sich im griechischen Lokal Rhodos am Rathausplatz Arbeitskollegen zum Abendessen. Wie Stammgäste werden sie empfangen, sind sie doch jetzt schon zum dritten Mal in Folge hier. Journalisten aus Frankreich, Australien, Mazedonien, Großbritannien, Deutschland plaudern mit St. Pöltnern Kollegen über die vergangenen Tage, übersetzen Speisen ins Englische. Alle sind froh, dass es vorbei ist. Nicht nur, weil das vermeintlich glamouröse Arbeiten im Medienzirkus anstrengend ist. Sondern auch, weil man dem kalten Pressezelt entkommen will – und weil man von Skurrilitäten wie dem selbsternannten „Pornojäger“ Martin Humer, der am Rande des Prozessgeschehens seine Erotik-Vendetta durchzog, genug hat. Schade nur um das gute Abendessen, wird gescherzt. Und dann landet man am Ende wieder beim bestimmenden Thema der letzten Tage und stellt die nagenden Fragen, die auch mit dem Urteil nicht beantwortet wurden: Wie kann man so ein Verbrechen begehen? Wie kann man so ein Verbrechen 24 Jahre lang unbemerkt halten?
Rudolf Mayer brachte es auf den Punkt: „Ob sonst wer was gewusst hat, das ist für mich bedeutungslos. Es war nicht Gegenstand dieses Verfahrens.“ Gerhard Sedlacek, der Sprecher der Staatsanwaltschaft St. Pölten hält es für durchaus menschlich, dass man diese Fragen stellt. Aber in den weit über hundert Befragungen im Vorverfahren, als nach allen Spuren ermittelt wurde, haben sich keine Verdachtsmomente ergeben, die weitere Ermittlungen gegen Mitwisser oder gar Mittäter zulassen.
Zurück zum gegrillten Oktopus. Bei einem Gläschen Wein wird abschließend noch mal die Frage strapaziert, was denn die Presse-Gäste jetzt so von St. Pölten halten. Allgemeines seufzen und dann die Antwort einer französischen Reporterin: „Warum fragt ihr Lokaljournalisten immer, was wir Ausländer von eurer Stadt halten? Wieso macht ihr euch so einen Kopf über euer Image?“ Meike Fries von der deutschen Wochenzeitung „Die Zeit“ ergänzt: „Vielleicht nehmt ihr euch da zu wichtig und macht euch zu viele Sorgen? In Deutschland sorgt selbst der Begriff ‚Amstetten’ ein Jahr danach eher für Stirnrunzeln als für eine spontane Assoziation mit dem Fall Josef F.“ Ein Kameramann legt nach: „Das hier ist eine liebe Kleinstadt. Schöne Gebäude und wirklich nette Menschen. Was sollen wir sonst noch sagen? Es ging doch niemals um St. Pölten?!“ Ach? Nicht?
Interview: Anfangs waren alle überfordert
Udo Jesionek ist Präsident des Weißen Ring Österreich, einer gemeinnützigen Organisation zur Unterstützung von Verbrechensopfern, welche im Jahr rund 4.000 Opfer betreut. Jesionek war lange Jahr Präsident des Jugendgerichtshofs und der Richtervereinigung.
Welche Rolle spielte der Weiße Ring im Fall Josef F.?
Der Fall F. ist einer von vielen Fällen, bei denen der Weiße Ring kontaktiert wurde und in die Organisation der Opferhilfe eingebunden war. Konkret wurde mit dem Gewaltschutzzentrum NÖ die psychologische Betreuung der Opfer organisiert. Für die juristische Betreuung der Familie wurde Frau Dr. Eva Plaz beauftragt. Die wichtigste Aufgabe war eine Strategie zu finden, welche die Opfer möglichst schont und schützt. Diese Prozessbetreuung ist sicher optimal gelaufen.
Welche Aufgaben hat Rechtsanwalt Christoph Herbst?
Christoph Herbst wurde von Landeshauptmann Pröll vorgeschlagen und kümmert sich um andere rechtliche Aspekte, abseits des Strafprozesses. Auf unsere Kontaktaufnahme hin hat er bislang nicht reagiert. Ich hoffe jedenfalls, dass das Engagement des Landeshauptmanns auch soweit geht, dass die Opfer dort unterstützt werden, wo die gesetzliche Opferhilfe endet, beispielsweise wenn es darum geht einen Berufseinstieg für die Jugendlichen zu ermöglichen.
Welche Konsequenzen fordern Sie aus dem Fall Josef F.?
Es gibt bereits Konsequenzen, beispielsweise werden ab 1. Juni die Sicherheitsbehörden auch weiterhin auf länger zurückliegende Sexualdelikte zugreifen können. Gerade bei den Behörden wird sicher ein Umdenken eingetreten sein. Spätestens bei der zweiten Kindesweglegung im gegenständlichen Fall stellt man sich als Laie die Frage, ob das ganze von den Behörden damals zu wenig hinterfragt wurde.
Unmittelbar nach Bekanntwerden des Kriminalfalls gaben die Ermittlungsbehörden sehr intime Details an Medien weiter. Während der Prozesswoche hingegen wurde auf den Ausschluss der Öffentlichkeit Wert gelegt. Wie geht das zusammen?
Anfangs waren sicher alle angesichts der Dimension des Verbrechens überfordert, auch die höchsten Stellen haben ungeschickt agiert. Die Öffentlichkeit hat kein berechtigtes Interesse an den Namen oder der Adresse der Familie. Ein Foto des Täters oder der Opfer trägt nichts zur berechtigten Kontrollfunktion der Medien bei, wie so ein Verbrechen passieren konnte. Genau diese Frage stellen die Medien oft zu wenig.
Interview: Neben dem Zuckerwattestand
Florian Klenk ist stellvertretender Chefredakteur der Wiener Stadtzeitung „Falter“ und Redakteur der deutschen Wochenzeitung „Die Zeit“. Er lebt und arbeitet in Wien und Hamburg. Der „Journalist des Jahres“ 2005 ist zugleich Jurist – und hat familiäre Wurzeln nach Ratzersdorf.
Wie beurteilen Sie den Prozessablauf?
Die Abwicklung des Prozesses selbst war im Großen und Ganzen okay, auch wenn ich emotionale Eröffnungsplädoyers, die sich an Geschworene oder gleich die Presse richten, generell für einen falschen Zugang halte.
Ein Kompliment gebührt dem Landesgericht und insbesondere der Opferanwältin Eva Plaz für den überraschenden Auftritt des Opfers während der Verhandlung. Es war eine erstaunliche, logistische Leistung, vor den Augen der Welt die Tochter unerkannt ins Gericht zu lotsen. Der Angeklagte selbst dürfte mit dem Geständnis im Verlauf des Prozesses seinem Verteidiger Rudi Mayer eher in die Parade gefahren sein, die Verteidigungsstrategie ging wohl nicht auf.
Und das Medienspektakel rundherum?
Die Kundgebungen vor dem Landesgericht glichen einem unwürdigen Spektakel. Die Versammlungsfreiheit in Ehren, aber in dem Fall wäre es wohl legitim eine Art Bannmeile vor einem Gericht anzudenken, damit derartige Aufläufe, bei denen nur Scharlatane angelockt werden, in Zukunft zu verhindern sind.
Generell war die Stadt St. Pölten vielleicht zu viel auf ihr Image bedacht, man hätte sich nicht so auf das Bild der Stadt konzentrieren sollen, sondern einfach den Prozess ablaufen lassen. Das Verteilen von Image-Foldern war sicher nett gemeint, ich unterstelle da niemandem eine böse Absicht und mache somit keinen Vorwurf. Dennoch hat es sehr deplatziert gewirkt.
Man hätte der Versuchung, die Stadt doch irgendwie auch so nebenbei anzupreisen, widerstehen müssen.
Zugleich ist es legitim, der Presse Arbeitsbedingungen zu bieten, oder?
Ich behaupte: hätte es kein Medienzelt gegeben, wären vielleicht manche Journalisten früher gefahren oder hätten in ihren Hotels gearbeitet. Durch ein Zelt entsteht automatisch eine Assoziation mit einem Bierzelt, mit Kirtagsstimmung, ein ungewollter Festivalcharakter, der einem Gerichtsprozess nicht angemessen ist. Vor dem Gericht konnte man glauben, man sei bei der Oskarverleihung. Schon klar, dass die Organisatoren hier ein gutes Service bieten wollten, darum meine ich das auch nicht als Vorwurf. Auch die Tatsache, dass Wichtigtuer in Form von Aktivisten vor dem Gericht ihre Show abgezogen haben ist jetzt per se kein Fehler der Verantwortlichen. Es sagt aber sehr viel über unsere Gesellschaft aus! Früher gab es bei Hinrichtungen diese Volksfeststimmung, heute zumindest nur mehr bei fairen Gerichtsprozessen. Das ist ja schon mal ein Fortschritt.
St. Pölten hatte eine Gradwanderung vor sich: Kritik war vorprogrammiert.
Mein Eindruck war, dass sich St. Pölten besonders gastfreundlich zeigen wollte. Nach dem Motto: „Liebe Welt, sei unser Gast! Hier hast du Kaffee und leckeren selbstgebackenen Kuchen, da drüben kommt das Geselchte.“ Mit dem Bierzelt, den Leberkäsesemmel- und Zuckerwatteständen entstand dann ein Jahrmarktflair – völlig ohne Absicht der Organisatoren. Es heißt ja, wenn was schief geht, wenn ein Schlamassel rauskommt, dann hat das nicht den einen Grund, dann ist nicht der eine Fehler entscheidend. Es ist in der Regel eine Summe von Fehlern.
Interview: Bürgermeister Matthias Stadler
„Kontakte von denen St. Pölten profitiert“
Bürgermeister Matthias Stadler zieht im Gespräch mit MFG eine zufriedene Bilanz über die Performance der Stadt während der Prozesswoche.
Wie sieht die Prozessbilanz aus?
Ich bin sehr zufrieden und möchte mich bei den zahlreichen Beteiligten herzlich bedanken! Österreicher-Ball in Hamburg haben mich viele Gäste sogar auf die perfekte Organisation angesprochen! Wir wollten den Journalisten Informationen über die Stadt geben. Einerseits Arbeitserleichterung andererseits Information, etwa wo man Essen gehen kann. Diesen „Service“ bieten wir jeden Touristen, die sich aus beruflichen Gründen in der Stadt aufhalten. Das hat also nichts mit unangebrachtem „Werben“ zu tun.
Im Vorfeld hatte man Angst vor einem Image-Schaden für St. Pölten – wie hätte der denn aussehen können?
Aufgrund von Medienanfragen vor dem Prozess gab es Befürchtungen. Beispielsweise die Fragen von britischen Medien, ob die Fälle Kampusch und Fritzl eine „typisch österreichische“ Komponente hätten, ob man Bezüge zur NS-Zeit hergestellt könne. Es ging nicht nur um einen „Imageschaden“ für St. Pölten, sondern auch für ganz Österreich.
Medial kam die Stadt gut weg, in Erinnerungen blieben Randdiskussionen wie die deutschsprachige City-Tour...
Von nationalen und internationalen Reportern wurde die Organisation gelobt – und die haben Vergleiche zu anderen, weit größeren Prozess-Städten. Manche Medien suchen das Negative um jeden Preis. Dass dann so Dinge wie die Stadtführung ausgeschlachtet werden kann ich nicht verstehen. Der Stadtrundgang hatte den Sinn, die Journalisten, die aufgrund des Ausschlusses der Öffentlichkeit nichts zu berichten hatten, eine Möglichkeit zu bieten, sich über die Stadt zu informieren und dabei mit der Bevölkerung in Kontakt zu treten. Während dem Rundgang war ein englischsprachiger Mitarbeiter dabei. Die ausländischen Journalisten waren sogar davon überrascht, dass unser reguläres Tourismus-Infomaterial in 14 verschiedenen Sprachen aufliegt. Das gibt’s nicht mal in Salzburg!
Weshalb wurde ein Zelt anstatt der leerstehenden Stadtsäle genutzt?
Die Stadtsäle sind bereits für eine neue Nutzung, das Hotelprojekt, leer geräumt und müssen saniert werden. Es hätte keinen Sinn gemacht für diesen Anlass in eine provisorische Infrastruktur zu investieren. Außerdem ging es uns um die Erwartungshaltung: Von einem Zelt erwarte ich weniger Komfort, als von einem fixen Gebäude, das ein Sanierungsfall ist.
Ausländische Medien schüttelten den Kopf, wenn wir St. Pöltner die Frage nach dem Image der Stadt stellten...
Die Gäste waren froh, dass wir sie betreut haben. Eines ist fix: Hätte die Stadt nichts gemacht, dann hätte man uns vorgeworfen, wir wären provinziell und würden nicht zeigen, was St. Pölten bietet. Natürlich haben wir durch die Anwesenheit der Journalisten auch positive Effekte: Ein norwegisches Kamerateam besucht die Firma Sunpor, ein französisches Kamerateam interessierte, wie wir im Gewerbebereich Baurechtsgründe schaffen, das tschechische Fernsehen wird die 850-Jahr-Feier besuchen. Kontakte, die man sonst nicht geknüpft hätte, von denen St. Pölten aber profitiert. Auch im Hinblick auf die „Special Olympics“ sehr wertvoll.
Kommentar des Autors:
„St. Pölten im Ausnahmezustand“ wurde uns angedroht. Die ganze Welt kommt Schauen, die Reputation der Nation stehe am Spiel! Viel zu provinziell und kleinkariert werde sich St. Pölten verhalten, wußten die einen. Eine perverse Marketingmaschinerie werden sie aufziehen, ätzten die anderen. Und dann das. Den Gästen war unser eigener Minderwertigkeitskomplex egal, wir mussten sie erst auf uns aufmerksam machen. Richtig ist: „Es ging niemals um St. Pölten.“ Oder gleich ums ganze Land. Es war auch keine Zirkusvorführung mit Monstern und Bestien. Es war ein Strafprozess über ein unvorstellbares Verbrechen, begangen von einem Mitmenschen vom Haus nebenan. Und darin liegt die Unbegreifbarkeit der Dimension des Falls Josef F., die naturgemäß Selbstdarsteller und Selbstgerechte anzieht, wie das Scheinwerferlicht die Fliegen.
Was wird wohl Josef F. darüber denken, sofern er überhaupt Interesse an der medialen Ebene seines Falls hat?
Er, der Machtmensch, dessen Streben nie auf Töten, sondern auf Besitzen aus war? Hat ihm das Interesse der Öffentlichkeit gefallen? Hat er sich ein letztes Mal mächtig gefühlt, als er sich selbst im minimalen Freiraum, den ihm der Schwurgerichtssaal bot, mehrmals von uns – der Weltöffentlichkeit – Besitz ergriff? Als er uns seine Ablehnung in Form einer blauen Mappe in die Erinnerung brannte. Als er plötzlich doch den Aussagen seiner Tochter zustimmte, sich aber dennoch nicht als Mörder darstellte? Als er für kurze Zeit die Macht über die Medien dieser Welt hatte? Franz Cutka verabschiedete sich von diesen lächelnd mit den Worten: „Behalten Sie St. Pölten in guter Erinnerung.“ Wieso eigentlich? Es ging ja nie um uns.
Am ersten Prozesstag bietet sich vor dem Landesgericht ein Schauspiel besonderer Art. Eindrucksvolle Truppen von Polizei- und Justizwachebeamte stellen die Staatsgewalt unter Beweis. Hunderte Medienmenschen aus aller Herren Länder, Journalisten und Kameraleute, sind angereist um der unfassbaren Dimension des Verbrechens zu huldigen. Momentan interviewen sie sich gegenseitig, viel gibt es ja noch nicht zu berichten. Niederösterreichs größtes Medienhaus hat unterdessen seinen Mitarbeitern ein Interviewverbot erteilt, sie sollen nicht den internationalen Kollegen Auskunft geben. Sicher ist sicher.
Ein bunter Bogen von Selbstdarstellern und Aktivisten versammelt sich vor dem Gerichtsgebäude um die mediale Aufmerksamkeit zu nützen und für ihre Anliegen Stimmung zu machen. „Da schau, der Hubsi Kramar! Der gibt sicher was her, der hat bestimmt eine Aktion geplant“, steigert sich die Vorfreude. Genervt herrscht der Entdeckte via Handy einen Mit-Organisatoren an: „Was heißt, ihr steht’s im Stau?! Des gibt’s doch ned! So geht des ned.“ Auch Provokationskunst verlangt professionelles Zeit- und Selbstmanagement. Zwischen all dem Ärger findet der Nationalprovokateur aber doch noch Zeit den fragenden Journalisten geduldig mehrmals seine „szenische Darbietung“ zu erklären: „Wir werden den Täter aus einer Limousine aussteigen lassen, er wird wie einen Hollywood-Star abgefeiert, die Fotografen stürzen sich auf ihn, sein Opfer hält er unterdessen an einer Kette.“ Nein, mit Österreich hat der Fall nichts zu tun, ist Hubsi Kramar überzeugt: „Das hätte überall passieren können, das Problem ist das Patriarchat! Und die Heuchelei in den Medien.“ Er selbst habe schon Drehbücher zugeschickt bekommen: „In zwei Jahren ist das Ganze verfilmt! Und heute tut jeder so, wie wenn das hier alles kein Medienzirkus sei?!“
Live vom Wintergarten
Unfreiwillige Profiteure des medialen Interesses am Gerichtsstandort St. Pölten sind heimische Tourismusgrößen wie der Bahnhofs-Hotelier Leo Graf. Schon Tage vor dem Prozessauftakt durften sie das Informationsbedürfnis der Welt in Nachrichtensendungen stillen. In der ganzen Region sei kein Bett mehr zu kriegen. „Schon drei Stunden nach Bekanntgabe des Prozesstermins waren wir ausgebucht“, berichtet der Hotelier. Und erwähnt die reibungslose Zusammenarbeit mit der Stadtverwaltung, die von den ausländischen Gästen hervorgehoben wurde: „Die Presseanfragen hat das Rathaus alle sehr rasch beantwortet und auch Interviewtermine mit dem Bürgermeister waren problemlos arrangiert.“ Die Gunst der Stunde nutzte auch Stefan Weiss und lies das neben dem Gerichtsschauplatz liegende „BarRock“ vormittags öffnen. Gedankt wurde es ihm, manche verlagerten den Arbeitsplatz direkt in das Lokal. Und welcher St. Pöltner Gastronom kann schon behaupten, dass die BBC von seinem Wintergarten aus Live-Einstiege in die Welt gemacht hat?
Warum? Kein Kommentar
Doch zurück zum Prozessauftakt, ein Montagmorgen vor dem Landesgericht. Der ORF verlängert seine Morgennachrichten und überträgt live, als Josef F. umringt von einem Kordon an Justizwachebeamten die Bühne betritt. Handschellen trägt er keine. „Wir hatten ja keine Angst, dass er davonläuft“, lacht Gerichtssprecher Franz Cutka, „das Aufgebot diente mehr dem Schutz des Angeklagten, es gab ja im Vorfeld Drohungen.“
Der Aufmarsch der uniformierten Staatsgewalt passt zum Ambiente des alten Schwurgerichtssaals, der einem Prunkraum der Habsburger gleicht. 95 handverlesene Journalisten, pro Medium einer, warten darauf, der Pressefreiheit gerecht zu werden. Getreu dem Motto: Gerechtigkeit soll nicht nur passieren, man soll auch sehen, wie sie passiert. Zwei Fotografen, zwei Fernsehkameras, zwei Mikrofone nehmen den Angeklagten ins Visier. Doch der zweifelhafte Star macht gleich am Gang zum Verhandlungssaal mit einem leisen: „Kein Kommentar“ alles klar.
Kein weiteres Wort mehr will und wird das von den Medien geschaffene „Monster“ den Damen und Herren der Presse schenken. Dennoch bleiben die Objektive auf ihn gerichtet, es wird gezoomt, es wird die Perspektive gewechselt. 15 Minuten lang hält der bald 74-jährige Angeklagte einen blauen Aktenordner vor sein Gesicht. Das Bild geht um die Welt. Nur den O-Ton bleibt er der Medienmeute schuldig. Eine geschlagene Viertelstunde lang, die immer gleichen Fragen der zwei lebenden Mikrofonständer: „Gibt es eine Antwort auf die Frage nach dem Warum?“ – „Wie werden Sie sich heute verantworten?“ – „Würden Sie wieder so handeln?“ – „Erwarten Sie ein faires Verfahren?“ Diese Mischung aus Provokation und Demütigung quittiert der Angeklagte mit keinem Wort. Viel wurde in Folge über die Aussagekraft dieser Standhaftigkeit diskutiert.
Kirtagsduft
Draußen vor dem Gericht wurde von der Stadtverwaltung ein Parkplatz zu einem provisorischen Mediencenter adaptiert. Ein Zelt bietet Schutz vor Regen und Schnee, Heurigengarnituren dienen als Arbeitsplatz, ein hell ausgeleuchteter Briefingtisch für die täglichen Pressekonferenzen steht bereit. Am Eingang hat das Medienservice der Stadt Quartier bezogen. Die offiziellen Info-Mappen des Gerichts geben Auskunft über den Ablauf des Verfahrens und erläutern ausländischen Journalisten die Grundzüge der österreichischen Strafprozessordnung. Eine Weitere informiert über Pressetermine: ein Empfang beim Bürgermeister, ein Rundgang in der barocken Altstadt, ein Besuch im Stadtmuseum.
Gefahr liegt in der Luft. Natürlich, sagen die Magistratsmitarbeiter, ist man sich der Gratwanderung bewusst: „Informieren wir nicht, fragt man uns, wie provinziell wir sind. Gehen wir zu offensiv an die Sache heran, wirft man uns vor, dass wir uns hier profilieren wollen.“ Genauso wird es später kommen.
Parade-Bäcker Wolfgang Hager stellt mit einem Verkaufswagen vor dem Pressezelt die Grundversorgung der rund 300 Journalisten mit kleinen Snacks und Kaffee sicher. Ein praktischer Service, der bei allen Beteiligten gut ankommt. Für Kopfschütteln sorgt hingegen der Stand vis-a-vis: getunkte Früchte und Zuckerwatte sind das falsche Sortiment. Der Stand bricht noch vor den Journalisten seine Zelte ab. Und gleich liegt etwas weniger vom ungewollten Kirtagsduft in der Luft.
Unterdessen hebt sich im Schwurgerichtssaal der Vorhang. Richterin Andrea Humer bringt in einem Statement an die Öffentlichkeit das Spannungsfeld der nächsten Tage auf den Punkt: „Dies hier ist nicht der Prozess einer ganzen Nation.“ Juristisch gesehen mag das stimmen.
Schande übers Land
Draußen vor dem Landesgericht hat man einen anderen Eindruck. Ein entwürdigendes Kasperltheater rast auf seinen Höhepunkt zu. Die angekündigte Limousine ist doch noch eingetroffen, Schauspieler steigen aus und die Fotografentruppe verhält sich genauso wie erwünscht. Aktivisten schreien nach Bundeskanzler Faymann, weil seine Regierung Kinderschänder schütze, und werfen mit blutigen Baby-Puppen um sich. Aus Monitorboxen erklingt klassische Musik, später ein Remix von „I Can’t Get No Satisfaction“. Eingebettet in wütende Demonstranten und Rechtsaußen-Fahnenträgern entsteht ein bizarres Bild, eine wirre Melange, die für Kopfschütteln sorgt. Die internationalen Medien begreifen nicht, wie sich so ein Faschingsumzug vor einem Gerichtsgebäude erklären lässt: „Bei uns daheim wäre das unmöglich. Aus Respekt vor dem Gericht!“
In St. Pölten hingegen beschimpfen angebliche „Berufsdemonstranten“ die anwesenden Polizisten als Schweine. Jeder, der sich in eine Polizeiuniform zwängt, sei wohl selber als Kind missbraucht worden. Zugleich treten sie für mehr Behördentransparenz und mehr Opferrechte ein. Für die Ausformulierung konkreter Anliegen war keine Zeit mehr. Deutsch- und englischsprachige Transparente zitieren dafür die „Schande für Österreich“ und wirken wie am Vorabend schnell gebastelt – immerhin tritt man sonst ja gegen nicht minder abstrakte Gegner wie Atomkraft, Abschiebungen, Globalisierung, Krieg, Putin oder Walfang ein. Für die Korrektur der Rechtschreibfehler war leider keine Zeit mehr, die werden taxfrei mitgeschickt, hinaus in die weite Welt.
Schlimmer als Weißrussland
Theater, wohin man blickt. Vor laufenden Kameras beklagen die Aktivisten die Einschränkung ihrer Versammlungsfreiheit und das Brechen von Zusagen durch die Polizei, weil besagte Limousine nur einen Teil des geplanten Weges fahren konnte – und nicht wie gewünscht quer durch die ganze Kameramenge. „Niederösterreich ist schlimmer als Weißrussland“, ärgert sich Peter Rosenauer von der Gruppe „Resistance for Peace“ deswegen noch Tage später. Ob er schon mal in Weißrussland war, bleibt ungeklärt. Dafür referiert er nach dem Spektakel minutenlang über „meine Präsenz in den Medien der Welt“ und beklagt, dass nur „die heimische Medienlandschaft verraten und verkauft sei, von Presseförderung und Seilschaft mundtot gemacht“.
Den postierten Polizeibeamten wird „das teilweise skurrile Treiben der Aktivsten“ in Erinnerung bleiben. Ein Beamter grübelt: „Wieso sind die Aktivisten teilweise so aggressiv? Ich sag zu einem, er soll von der Straße runtergehen, weil da gerade ein Auto kommt und er schreit mich an, ich soll ihm sofort meine Dienstnummer geben, er wird sich beschweren…“ Rund 36.000 Euro teilt die St. Pöltner Polizeidirektion später mit, hatte der Polizeieinsatz sowie die Vorsicherung rund um den Prozess gekostet. Zu Vorkommnissen sei es nicht gekommen, alles ist ruhig abgelaufen.
Von Anfang an
Drinnen beantwortet der Angeklagte unaufgeregt die Fragen der vorsitzenden Richterin. Fast könnte man meinen, er kommt mit ihr über frühere Arbeitgeber und die Stationen seines Lebens ins Plaudern. Er wirkt wie ein durchschnittlicher Opa, keine Spur von Monster. Wenn andere sprechen harrt er stoisch er der Dinge, mit denen er so gar nichts zu tun zu haben scheint. Während der ganzen vier Tage der öffentlichen Verhandlung lenkt er nie den Blick zu den anwesenden Journalisten im Saal. Er bleibt sein Herr, auch wenn andere über das richten, was sicher schwer auf ihm lastet.
Eine Last ist es auch für die Staatsanwältin Christiane Burkheiser: „Glauben Sie nicht, dass das leicht für mich ist“, stellt sie sich emotional mit den Laienrichtern auf eine Stufe. Sehr emotional, persönlich wird sie ihre Anklage vortragen. Die Geschworenen sollen das Verbrechen riechen und fühlen. Ihre Performance würde auch einem Hollywood-Drehbuch gefallen. Sie macht deutlich, was sie will: Lebenslang für Mord.
Schon als die schwer erkrankte (Enkel-) Tochter von Josef F. damals in Amstetten auftauchte und noch keiner einen Schimmer vom Ausmaß der Causa hatte, war Burkheiser mit dem Fall betraut und initiierte den medialen Aufruf, die Mutter möge sich melden und das Leben ihres Kindes retten. Rund ein Jahr war der „Jahrhundertprozess“ Teil ihres Lebens, nun will die ganze Welt wissen, ob die 33-jährige dem Monster und seinem Prozess gewachsen ist. Gerhard Sedlacek, der Sprecher der Staatsanwaltschaft St. Pölten: „Sie hat sich von der Stunde Null an voll hineingekniet. Objektiv gesehen war natürlich auch ein beachtlicher medialer Druck gegeben, von dem sie sich aber definitiv nicht beeinflussen ließ.“ Von der Oberbehörde wurde sie mit Argusaugen beobachtet, ihre Leistung nach dem Prozess ausdrücklich gelobt.
Die blamierte Meute
Der Prozess ist nach vier Tagen vorbei, alle sprechen von einem „kurzen Prozess“. Insbesondere den ausländischen Medien muss das Gericht erklären, weshalb 24 Jahre sehr wohl in vier Tagen abgehandelt werden können: Monatelange Vorverfahren haben genügend Fakten im Vorfeld der Anklageerhebung ergeben. Es ist demnach nicht nötig die zahlreichen Mieter, Familienmitglieder, Bekannte während des Prozesses zu befragen. Alle relevanten Informationen sind bereits berücksichtigt. Eine Spur auf Mitwisser oder gar Mittäter habe sich in hunderten Einvernahmen nicht gezeigt. Derzeit liegen bei der Staatsanwaltschaft St. Pölten auch keine Hinweise auf, die weitere Ermittlungen notwendig machen.
Auch der Ausschluss der Öffentlichkeit sorgt bei manchen Journalisten für Stirnrunzeln, der Vorwurf von Geheimjustiz liegt in der Luft. Geduldig erklärt das Gericht: Nach dem Ausschluss der Öffentlichkeit wird ein Video abgespielt, das die Aussage des Hauptopfers ersetzt, mit dem der Angeklagte im Kellerverlies eine „Zweitfamilie“ geschaffen hat. Im Sinne des Opferschutzes soll dem Opfer demütigendes Befragen in Gegenwart des Angeklagten erspart werden, voyeuristische Details bleiben unter Verschluss. Veröffentlichungen aus diesem nicht-öffentlichen Teil werden übrigens bestraft, droht das Gericht mehrfach den Journalisten. Wie das mit dem Verhalten der Polizei zusammengeht, fragen sich manche frech. Immerhin wurden gleich nach Bekanntwerden des Kriminalfalls von der Polizei intime Details in ausführlichen Pressekonferenzen präsentiert. Eine Frage, die unbeantwortet bleibt und wohl als Teil des allgemeinen Lernprozesses zusehen ist...
Während das Videomaterial abgespielt wird, ist es den Opfern möglich an der Verhandlung im Zuhörerbereich teilzunehmen. Josef F. dürfte die Anwesenheit seiner Tochter im Saal erst spät entdeckt haben, umso größer war dann der Effekt: in den Augen seines Verteidigers legt Josef F. ein volles Geständnis ab. Der Coup des Landesgerichts war damit perfekt. Vor den Augen der Weltpresse schleusten sie Mitglieder der Opferfamilie unentdeckt ins Gericht um ihnen die Möglichkeit zu bieten, am „eigenen“ Verfahren teilzunehmen, um zu sehen, wie sich der Peiniger verantwortet. Nichts drang vorzeitig nach außen, die wartende Meute war blamiert. Im Pressezelt lächelt Franz Cutka zufrieden in Richtung fragender Journalisten und wiederholt in der Manier des coolen Hofrat: „Zur Frage, ob ein Opfer im Gericht war, sage ich nur: Kein Kommentar.“ Dabei bleibt er bis heute.
Emotionaler Analphabet
Den gesamten Prozess über sitzt die Gutachterin Adelheid Kastner auf der Richterbank und beobachtet. Das von ihr erstellte Gutachten über Josef F. trägt sie persönlich vor. Damit gelingt ihr das Kunststück auf allgemein verständliche Art und Weise die zu Beginn gestellte Frage nach dem Warum zu beantworten. „Der Angeklagte wollte immer etwas, von dem er genau wusste, dass er es nicht wollen darf“, sagt Kastner. Schon bei den Großeltern seien seine Familienverhältnisse hochproblematisch gewesen. Seine Mutter sei in eine unfruchtbare Ehe hineinadoptiert worden. Außerehelichgezeugte Kinder werden in eine Familie hineingebracht. Das Muster sollte sich später auf unvorstellbar dramatische Art und Weise wiederholen.
Die Mutter selber habe ihn nur als „Beweiskind“ für die eigene Fruchtbarkeit gezeugt, danach war er nur mehr eine lästige Plage, die man bedenkenlos schlagen und alleinlassen konnte. Er hatte unglaubliche Angst vor ihr, zugleich war sie aber seine einzige Bezugsperson. Die Mutter habe ihm jede Chance genommen als Kind ein Ur-Vertrauen zu entwickeln. Kastner: „Die Fähigkeit zu lieben entwickelt man nur, wenn man selber geliebt wird.“ Er selbst könne gewisse Emotionen zwar benennen, aber nicht empfinden. Er sei ein emotionaler Analphabet. Der Angeklagte hört aufmerksam zu. Er zeigt keinerlei Reaktion. „In so einer Situation entwickelt man Strategien um zu überleben, man schiebt diese schrecklichen Gefühle weg, am besten in einen Keller, hinter eine schwere Türe“, so Kastner.
Einen Mensch besitzen
Ein springender Punkt sei gewesen, als er mit Einsetzen der Pubertät gemerkt hat, dass er die Möglichkeit hat seine Situation zu verändern. Er stellte sich gegen die Mutter, er sei nicht notwendigerweise der Unterlegene, er könne die Situation auch umkehren: „Daraus entstand ein grandioser Machtwunsch, der Wunsch, einen Mensch ganz zu besitzen.“ Aus diesem Bedürfnis entstehen verbotene Fantasien. „Es darf nicht sein, aber es wäre so schön.“ Die Gutachterin versucht einen Vergleich aus dem Alltag: Man findet Gründe, warum es nicht so schlimm wäre. Wie bei einer Zigarette. Es ist ja nur die eine, dann hör ich auf. Man redet sich ein, dass es nicht so schlimm ist, korrumpiert sich selbst. Es ist befreiend, sich vorzustellen, wie es wäre. Der Moment, wenn man es dann tut ist ein grandioses Erlebnis, alle Wünsche erfüllen sich. Man hat einen Menschen ganz für sich allein. Jee mehr Kinder man mit diesem Menschen zeugt, desto sicherer ist die Bindung, sogar im Fall einer möglichen Befreiung.
Der Angeklagte, so die Gutachterin, war die ganze Zeit über zurechnungsfähig. Er war zu keiner Zeit krank, sondern schwer gestört. Er wusste genau, dass das, was er tut, verboten ist. Dass es Unrecht ist. Und dieses Unrecht hat ihn auch immer belastet. „Glauben Sie, ich hätte oben Grillfeste feiern können, wenn ich dabei an die Familie unten gedacht hätte“, soll er zu ihr mal gesagt haben. Nur in den Phasen kurz vor dem Einschlafen und kurz nach dem Aufstehen, so Kastner, könne man sich nicht ablenken. Da habe er immer gewusst, wie schlecht „das“ ist, wie schuldhaft er handelt. Er hätte sich strenger an die Zügel nehmen müssen, die Verantwortung für sein Tun könne man ihm nicht abnehmen: „Ja, er ist eindeutig schuldig.“
Warum gerade diesen Menschen, wieso genau diese Tochter, will das Gericht wissen. Auch hier will sie vom Angeklagten eine Antwort bekommen haben: „Er hat mal gesagt, sie sei genauso stark und stur gewesen wie er.“ Je stärker der Gegner, desto größer der Sieg, heißt es. Wenige Meter entfernt veranstalten die Medien gerade den Jahrhundertprozess.
Freund der Familie
„Ich habe 1.051 Fotos von den Opfern! Und Sie sagen, Sie kennen mich nicht?!“ Ein Mann mit oranger Krawatte und silbernem Aktenkoffer herrscht einen iranischen Journalisten vor dem Pressezelt an. Wie kann man ihn, Heinrich Schmatz, nach all den Interviews, die er gegeben hat, nicht kennen? Seit Prozessbeginn an ist er da und spricht mit den Journalisten. Als er während einer Pressekonferenz eine Frage an Gerichtssprecher Cutka richten will schmeißt ihn der wortlos aus dem Zelt. Mit der natürlichen Konsequenz, dass jetzt selbst die letzten Journalisten auf den umstrittenen Zaungast aufmerksam werden.
Über Schmatz redet nur er selber. Ein offizielles Statement vom Gericht bekommt man nicht, weshalb der mystischen Aura der Selbstinszenierung natürlich noch mehr Freiraum gegeben wird. Cutka bestätigt nur, dass Schmatz unter Vorspiegelung falscher Tatsachen einen Besuchstermin bei Josef F. erhalten habe, der aber nach drei Minuten abgebrochen wurde, weil sich die wahren Motive für den Besuch gezeigt hätten. Worüber die beiden geplaudert hatten ist stritt. Laut Schmatz wollte er erfragen, wie der Angeklagte sein Verbrechen so lange geheim halten konnte. Realistisch scheint auch, dass er Vermögensfragen besprechen wollte, immerhin meint Schmatz, dass die Opferfamilie von Ärzten und Behörden ausgenutzt wird: „Ich sehe mich als Freund der Familie und würde gerne helfen. Sie werden schon sehen: Die Behörden betreuen die Opfer nur solange, bis vom Vermögen des Josef F., das ja eigentlich den Erben zusteht, nichts mehr da ist. Danach werden sie für gesund erklärt und müssen schauen, wo sie bleiben.“
Heinrich Schmatz behauptet selber ein Justizopfer zu sein: Mit Medikamenten wurde er ruhig gestellt, als er selber Angeklagter in einem Prozess war. Ja, er war rechtskräftig verurteilt und ein Jahr in Haft. Im Landesklinikum Mauer bei Amstetten sei er zur Behandlung gewesen. Nun will er der Wahrheit ans Licht helfen. Gegen den Vorwurf ein Stalker zu sein wehrt er sich. Fotos habe er nie an die Presse verkauft, er hatte es auch nie vor. Nein, er habe auch keinen Kontakt zur Opferfamilie, der würde ja von den Behörden verhindert. Natürlich weiß er, wo sie wohnen. Erst unlängst ist er in einem Café neben ihnen gesessen. Aber er hat sie nicht angesprochen. Nur gegen das Vorgehen des Gerichts habe er Anzeigen eingebracht. Aufgeben wird er nicht: „Mich machen sie nicht mundtot. Auch nicht mit dem Entmündigungsverfahren, dass sie gegen mich einleiten wollen.“ Es wirkt wie die Vendetta des Heinrich Schmatz, ein Nebenschauplatz beim Prozess gegen Josef F., in den sich vor allem deutsche Boulevardmedien kurzzeitig verlieben.
Showdown im Saal
Im Schlussplädoyer wirft die Staatsanwältin dem Angeklagten vor, er will aus einer vorgetäuschten Schwäche eine Stärke machen. Gemeint ist das umstrittene Geständnis, welches ein letzter Versuch des Josef F. sei, die Welt zu täuschen um seine Stärke zu demonstrieren – und sich nicht für den Mord am Neugeborenen verantworten zu müssen: „Helfen Sie ihm nicht! Tragen Sie nicht diese Türe mit ihm in den Keller, wie vor 24 Jahren seine Tochter.“ Den Szenenapplaus verkneifen sich die anwesenden Journalisten knapp.
Der Verteidiger nutzt sein Schlussplädoyer für die Verlesung einer geschmacklosen Email an ihn. In schlimmster Stammtischmanier wird darin einer Lynchjustiz das Maul geredet, Mayer kontert mit einer flammende Rede für die Rechtsstaatlichkeit und eine differenzierte Wahrnehmung von Verteidiger und Angeklagtem. Danach verliert er noch ein paar Sätze zu seinem Mandanten und dem vorliegenden Fall. Jeder weiß, dass hier nicht viel für den Mandanten vorzubringen ist. Nach dem Prozess wird Mayer, der trotz der zahlreichen Drohungen gegen ihn nicht um Polizeischutz angesucht hatte, das faire Verfahren loben und unzählige Interviews geben. Nur auf die Frage, ob das Gerücht stimmt, dass er am ersten Prozesstag mit einer Schusswaffe zu Gericht erschienen sei, blieb er wortkarg. Erstaunter Blick, dann: „Dazu möchte ich nichts sagen.“
Josef F. erhebt sich und will schon für sein Schlusswort Platz nehmen, da heißt es: Kommando retour. Es kommt vorher noch eine bislang stumme Dame zu Wort: Eva Plaz, die Opferanwältin sitzt seit Tagen links hinter Josef F. und sagte bislang kein Wort, unzählige Interviewanfragen hat sie ebenfalls abgelehnt. Nun aber spricht sie zum Gericht – und zwar im Namen des Opfers. Die Journalisten sind hellwach, lehnen sich vor, lauschen angestrengt den leisen Ausführungen der Expertin für Opferrecht und bemühen sich leise zu schreiben, leise zu atmen, jedes Knarren des Parkettbodens zu verhindern.
Ihre Mandantin habe sich der Belastung der Videobefragung nur ausgesetzt, damit sich Josef F. für den Tod des neugeborenen Sohns verantworten muss. Von echter Reue oder einem umfassenden Geständnis könne sie keine Spur entdecken: „Josef F. möchte Sie legen“, appelliert sie an die Geschworenen. Damit ist der Deckel drauf.
Wenige Stunden später wird Josef F. von den acht Hauptgeschworenen in allen Anklagepunkte einstimmig für schuldig befunden. Seine Strafe heißt „lebenslang“ und Einweisung in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher. Andrea Humer verkündet das Urteil und fragt Josef F., ob er das Urteil verstanden habe. Er antwortet: „Ja, ich nehme das Urteil an.“ Etwas vorschnell, zwei Mal setzt die Vorsitzende an und erklärt ihm die Möglichkeiten einer Berufung. „Nein, ich nehme das Urteil an.“ Humer: „Ich empfehle Ihnen, dass Sie sich zuvor mit Ihrem Verteidiger beraten.“ Doch F. beharrt darauf. Damit ist das Urteil rechtskräftig. Josef F. ist jetzt offiziell ein Mörder. Er wirkt erleichtert, als ihn die Traube an Justizwachebeamten wieder in seine Zelle führt. Österreichische Journalisten übersetzen den ausländischen Kollegen, was sich hier gerade zugetragen hat.
Die liebe Kleinstadt
Wenige Stunden später treffen sich im griechischen Lokal Rhodos am Rathausplatz Arbeitskollegen zum Abendessen. Wie Stammgäste werden sie empfangen, sind sie doch jetzt schon zum dritten Mal in Folge hier. Journalisten aus Frankreich, Australien, Mazedonien, Großbritannien, Deutschland plaudern mit St. Pöltnern Kollegen über die vergangenen Tage, übersetzen Speisen ins Englische. Alle sind froh, dass es vorbei ist. Nicht nur, weil das vermeintlich glamouröse Arbeiten im Medienzirkus anstrengend ist. Sondern auch, weil man dem kalten Pressezelt entkommen will – und weil man von Skurrilitäten wie dem selbsternannten „Pornojäger“ Martin Humer, der am Rande des Prozessgeschehens seine Erotik-Vendetta durchzog, genug hat. Schade nur um das gute Abendessen, wird gescherzt. Und dann landet man am Ende wieder beim bestimmenden Thema der letzten Tage und stellt die nagenden Fragen, die auch mit dem Urteil nicht beantwortet wurden: Wie kann man so ein Verbrechen begehen? Wie kann man so ein Verbrechen 24 Jahre lang unbemerkt halten?
Rudolf Mayer brachte es auf den Punkt: „Ob sonst wer was gewusst hat, das ist für mich bedeutungslos. Es war nicht Gegenstand dieses Verfahrens.“ Gerhard Sedlacek, der Sprecher der Staatsanwaltschaft St. Pölten hält es für durchaus menschlich, dass man diese Fragen stellt. Aber in den weit über hundert Befragungen im Vorverfahren, als nach allen Spuren ermittelt wurde, haben sich keine Verdachtsmomente ergeben, die weitere Ermittlungen gegen Mitwisser oder gar Mittäter zulassen.
Zurück zum gegrillten Oktopus. Bei einem Gläschen Wein wird abschließend noch mal die Frage strapaziert, was denn die Presse-Gäste jetzt so von St. Pölten halten. Allgemeines seufzen und dann die Antwort einer französischen Reporterin: „Warum fragt ihr Lokaljournalisten immer, was wir Ausländer von eurer Stadt halten? Wieso macht ihr euch so einen Kopf über euer Image?“ Meike Fries von der deutschen Wochenzeitung „Die Zeit“ ergänzt: „Vielleicht nehmt ihr euch da zu wichtig und macht euch zu viele Sorgen? In Deutschland sorgt selbst der Begriff ‚Amstetten’ ein Jahr danach eher für Stirnrunzeln als für eine spontane Assoziation mit dem Fall Josef F.“ Ein Kameramann legt nach: „Das hier ist eine liebe Kleinstadt. Schöne Gebäude und wirklich nette Menschen. Was sollen wir sonst noch sagen? Es ging doch niemals um St. Pölten?!“ Ach? Nicht?
Interview: Anfangs waren alle überfordert
Udo Jesionek ist Präsident des Weißen Ring Österreich, einer gemeinnützigen Organisation zur Unterstützung von Verbrechensopfern, welche im Jahr rund 4.000 Opfer betreut. Jesionek war lange Jahr Präsident des Jugendgerichtshofs und der Richtervereinigung.
Welche Rolle spielte der Weiße Ring im Fall Josef F.?
Der Fall F. ist einer von vielen Fällen, bei denen der Weiße Ring kontaktiert wurde und in die Organisation der Opferhilfe eingebunden war. Konkret wurde mit dem Gewaltschutzzentrum NÖ die psychologische Betreuung der Opfer organisiert. Für die juristische Betreuung der Familie wurde Frau Dr. Eva Plaz beauftragt. Die wichtigste Aufgabe war eine Strategie zu finden, welche die Opfer möglichst schont und schützt. Diese Prozessbetreuung ist sicher optimal gelaufen.
Welche Aufgaben hat Rechtsanwalt Christoph Herbst?
Christoph Herbst wurde von Landeshauptmann Pröll vorgeschlagen und kümmert sich um andere rechtliche Aspekte, abseits des Strafprozesses. Auf unsere Kontaktaufnahme hin hat er bislang nicht reagiert. Ich hoffe jedenfalls, dass das Engagement des Landeshauptmanns auch soweit geht, dass die Opfer dort unterstützt werden, wo die gesetzliche Opferhilfe endet, beispielsweise wenn es darum geht einen Berufseinstieg für die Jugendlichen zu ermöglichen.
Welche Konsequenzen fordern Sie aus dem Fall Josef F.?
Es gibt bereits Konsequenzen, beispielsweise werden ab 1. Juni die Sicherheitsbehörden auch weiterhin auf länger zurückliegende Sexualdelikte zugreifen können. Gerade bei den Behörden wird sicher ein Umdenken eingetreten sein. Spätestens bei der zweiten Kindesweglegung im gegenständlichen Fall stellt man sich als Laie die Frage, ob das ganze von den Behörden damals zu wenig hinterfragt wurde.
Unmittelbar nach Bekanntwerden des Kriminalfalls gaben die Ermittlungsbehörden sehr intime Details an Medien weiter. Während der Prozesswoche hingegen wurde auf den Ausschluss der Öffentlichkeit Wert gelegt. Wie geht das zusammen?
Anfangs waren sicher alle angesichts der Dimension des Verbrechens überfordert, auch die höchsten Stellen haben ungeschickt agiert. Die Öffentlichkeit hat kein berechtigtes Interesse an den Namen oder der Adresse der Familie. Ein Foto des Täters oder der Opfer trägt nichts zur berechtigten Kontrollfunktion der Medien bei, wie so ein Verbrechen passieren konnte. Genau diese Frage stellen die Medien oft zu wenig.
Interview: Neben dem Zuckerwattestand
Florian Klenk ist stellvertretender Chefredakteur der Wiener Stadtzeitung „Falter“ und Redakteur der deutschen Wochenzeitung „Die Zeit“. Er lebt und arbeitet in Wien und Hamburg. Der „Journalist des Jahres“ 2005 ist zugleich Jurist – und hat familiäre Wurzeln nach Ratzersdorf.
Wie beurteilen Sie den Prozessablauf?
Die Abwicklung des Prozesses selbst war im Großen und Ganzen okay, auch wenn ich emotionale Eröffnungsplädoyers, die sich an Geschworene oder gleich die Presse richten, generell für einen falschen Zugang halte.
Ein Kompliment gebührt dem Landesgericht und insbesondere der Opferanwältin Eva Plaz für den überraschenden Auftritt des Opfers während der Verhandlung. Es war eine erstaunliche, logistische Leistung, vor den Augen der Welt die Tochter unerkannt ins Gericht zu lotsen. Der Angeklagte selbst dürfte mit dem Geständnis im Verlauf des Prozesses seinem Verteidiger Rudi Mayer eher in die Parade gefahren sein, die Verteidigungsstrategie ging wohl nicht auf.
Und das Medienspektakel rundherum?
Die Kundgebungen vor dem Landesgericht glichen einem unwürdigen Spektakel. Die Versammlungsfreiheit in Ehren, aber in dem Fall wäre es wohl legitim eine Art Bannmeile vor einem Gericht anzudenken, damit derartige Aufläufe, bei denen nur Scharlatane angelockt werden, in Zukunft zu verhindern sind.
Generell war die Stadt St. Pölten vielleicht zu viel auf ihr Image bedacht, man hätte sich nicht so auf das Bild der Stadt konzentrieren sollen, sondern einfach den Prozess ablaufen lassen. Das Verteilen von Image-Foldern war sicher nett gemeint, ich unterstelle da niemandem eine böse Absicht und mache somit keinen Vorwurf. Dennoch hat es sehr deplatziert gewirkt.
Man hätte der Versuchung, die Stadt doch irgendwie auch so nebenbei anzupreisen, widerstehen müssen.
Zugleich ist es legitim, der Presse Arbeitsbedingungen zu bieten, oder?
Ich behaupte: hätte es kein Medienzelt gegeben, wären vielleicht manche Journalisten früher gefahren oder hätten in ihren Hotels gearbeitet. Durch ein Zelt entsteht automatisch eine Assoziation mit einem Bierzelt, mit Kirtagsstimmung, ein ungewollter Festivalcharakter, der einem Gerichtsprozess nicht angemessen ist. Vor dem Gericht konnte man glauben, man sei bei der Oskarverleihung. Schon klar, dass die Organisatoren hier ein gutes Service bieten wollten, darum meine ich das auch nicht als Vorwurf. Auch die Tatsache, dass Wichtigtuer in Form von Aktivisten vor dem Gericht ihre Show abgezogen haben ist jetzt per se kein Fehler der Verantwortlichen. Es sagt aber sehr viel über unsere Gesellschaft aus! Früher gab es bei Hinrichtungen diese Volksfeststimmung, heute zumindest nur mehr bei fairen Gerichtsprozessen. Das ist ja schon mal ein Fortschritt.
St. Pölten hatte eine Gradwanderung vor sich: Kritik war vorprogrammiert.
Mein Eindruck war, dass sich St. Pölten besonders gastfreundlich zeigen wollte. Nach dem Motto: „Liebe Welt, sei unser Gast! Hier hast du Kaffee und leckeren selbstgebackenen Kuchen, da drüben kommt das Geselchte.“ Mit dem Bierzelt, den Leberkäsesemmel- und Zuckerwatteständen entstand dann ein Jahrmarktflair – völlig ohne Absicht der Organisatoren. Es heißt ja, wenn was schief geht, wenn ein Schlamassel rauskommt, dann hat das nicht den einen Grund, dann ist nicht der eine Fehler entscheidend. Es ist in der Regel eine Summe von Fehlern.
Interview: Bürgermeister Matthias Stadler
„Kontakte von denen St. Pölten profitiert“
Bürgermeister Matthias Stadler zieht im Gespräch mit MFG eine zufriedene Bilanz über die Performance der Stadt während der Prozesswoche.
Wie sieht die Prozessbilanz aus?
Ich bin sehr zufrieden und möchte mich bei den zahlreichen Beteiligten herzlich bedanken! Österreicher-Ball in Hamburg haben mich viele Gäste sogar auf die perfekte Organisation angesprochen! Wir wollten den Journalisten Informationen über die Stadt geben. Einerseits Arbeitserleichterung andererseits Information, etwa wo man Essen gehen kann. Diesen „Service“ bieten wir jeden Touristen, die sich aus beruflichen Gründen in der Stadt aufhalten. Das hat also nichts mit unangebrachtem „Werben“ zu tun.
Im Vorfeld hatte man Angst vor einem Image-Schaden für St. Pölten – wie hätte der denn aussehen können?
Aufgrund von Medienanfragen vor dem Prozess gab es Befürchtungen. Beispielsweise die Fragen von britischen Medien, ob die Fälle Kampusch und Fritzl eine „typisch österreichische“ Komponente hätten, ob man Bezüge zur NS-Zeit hergestellt könne. Es ging nicht nur um einen „Imageschaden“ für St. Pölten, sondern auch für ganz Österreich.
Medial kam die Stadt gut weg, in Erinnerungen blieben Randdiskussionen wie die deutschsprachige City-Tour...
Von nationalen und internationalen Reportern wurde die Organisation gelobt – und die haben Vergleiche zu anderen, weit größeren Prozess-Städten. Manche Medien suchen das Negative um jeden Preis. Dass dann so Dinge wie die Stadtführung ausgeschlachtet werden kann ich nicht verstehen. Der Stadtrundgang hatte den Sinn, die Journalisten, die aufgrund des Ausschlusses der Öffentlichkeit nichts zu berichten hatten, eine Möglichkeit zu bieten, sich über die Stadt zu informieren und dabei mit der Bevölkerung in Kontakt zu treten. Während dem Rundgang war ein englischsprachiger Mitarbeiter dabei. Die ausländischen Journalisten waren sogar davon überrascht, dass unser reguläres Tourismus-Infomaterial in 14 verschiedenen Sprachen aufliegt. Das gibt’s nicht mal in Salzburg!
Weshalb wurde ein Zelt anstatt der leerstehenden Stadtsäle genutzt?
Die Stadtsäle sind bereits für eine neue Nutzung, das Hotelprojekt, leer geräumt und müssen saniert werden. Es hätte keinen Sinn gemacht für diesen Anlass in eine provisorische Infrastruktur zu investieren. Außerdem ging es uns um die Erwartungshaltung: Von einem Zelt erwarte ich weniger Komfort, als von einem fixen Gebäude, das ein Sanierungsfall ist.
Ausländische Medien schüttelten den Kopf, wenn wir St. Pöltner die Frage nach dem Image der Stadt stellten...
Die Gäste waren froh, dass wir sie betreut haben. Eines ist fix: Hätte die Stadt nichts gemacht, dann hätte man uns vorgeworfen, wir wären provinziell und würden nicht zeigen, was St. Pölten bietet. Natürlich haben wir durch die Anwesenheit der Journalisten auch positive Effekte: Ein norwegisches Kamerateam besucht die Firma Sunpor, ein französisches Kamerateam interessierte, wie wir im Gewerbebereich Baurechtsgründe schaffen, das tschechische Fernsehen wird die 850-Jahr-Feier besuchen. Kontakte, die man sonst nicht geknüpft hätte, von denen St. Pölten aber profitiert. Auch im Hinblick auf die „Special Olympics“ sehr wertvoll.
Kommentar des Autors:
„St. Pölten im Ausnahmezustand“ wurde uns angedroht. Die ganze Welt kommt Schauen, die Reputation der Nation stehe am Spiel! Viel zu provinziell und kleinkariert werde sich St. Pölten verhalten, wußten die einen. Eine perverse Marketingmaschinerie werden sie aufziehen, ätzten die anderen. Und dann das. Den Gästen war unser eigener Minderwertigkeitskomplex egal, wir mussten sie erst auf uns aufmerksam machen. Richtig ist: „Es ging niemals um St. Pölten.“ Oder gleich ums ganze Land. Es war auch keine Zirkusvorführung mit Monstern und Bestien. Es war ein Strafprozess über ein unvorstellbares Verbrechen, begangen von einem Mitmenschen vom Haus nebenan. Und darin liegt die Unbegreifbarkeit der Dimension des Falls Josef F., die naturgemäß Selbstdarsteller und Selbstgerechte anzieht, wie das Scheinwerferlicht die Fliegen.
Was wird wohl Josef F. darüber denken, sofern er überhaupt Interesse an der medialen Ebene seines Falls hat?
Er, der Machtmensch, dessen Streben nie auf Töten, sondern auf Besitzen aus war? Hat ihm das Interesse der Öffentlichkeit gefallen? Hat er sich ein letztes Mal mächtig gefühlt, als er sich selbst im minimalen Freiraum, den ihm der Schwurgerichtssaal bot, mehrmals von uns – der Weltöffentlichkeit – Besitz ergriff? Als er uns seine Ablehnung in Form einer blauen Mappe in die Erinnerung brannte. Als er plötzlich doch den Aussagen seiner Tochter zustimmte, sich aber dennoch nicht als Mörder darstellte? Als er für kurze Zeit die Macht über die Medien dieser Welt hatte? Franz Cutka verabschiedete sich von diesen lächelnd mit den Worten: „Behalten Sie St. Pölten in guter Erinnerung.“ Wieso eigentlich? Es ging ja nie um uns.