MFG - Die Kunst des Vergessens
Die Kunst des Vergessens


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St. Pöltens gute Seite

Die Kunst des Vergessens

Text Tina Reichl
Ausgabe 02/2025
„MAMA? Weißt du wo mein Hoodie ist?“, hör ich den Teenager aus dem Zimmer rufen.
Unser Gehirn ist ein unglaubliches Organ, das ständig Informationen speichert und verarbeitet. Doch inmitten dieses immerwährenden Informationsflusses ist es entscheidend, dass wir nicht alles behalten. Mein persönliches Nudelsiebhirn leistet hier großartige Arbeit. Gestern erst hab ich einen Film gesehen, der mir nach 10 Minuten irgendwie bekannt vorkam. Dann die Erkenntnis: Den kenn ich doch schon, der war großartig! Früher hätt ich hier sofort abgedreht, aber heute danke ich meinem Hirn, dass ich das alles noch einmal entdecken kann! Ebenso bei Büchern: Als ich „Herr der Ringe“ zu Ende gelesen hatte, rannen mir Tränen über die Wangen, weil mir bewusst wurde, dass ich dieses großartige Buch jetzt weglegen muss. Das ist jetzt alles kein Problem mehr. Ich kann Bücher immer wieder lesen, ich Glückspilz! Ähnlich geht’s mir beim Anhören einer Oper! Ich bin immer wieder erstaunt, wie schlecht ich mir die Inhalte merke! Die Basics weiß ich zwar meistens noch, zum Beispiel: Missglückte Dreiecksbeziehung – zwei Tote. Aber die näheren Umstände und Melodien verblüffen mich immer wieder aufs Neue.
Und offensichtlich habe ich diese wundervolle Gabe des Vergessens weitervererbt! Mein Sohn kann sich hier doppelt glücklich schätzen, denn auch mein Mann trägt dieses Gen dominant in sich!
„MAMA!“, dringt die Stimme meines Sohnes wieder laut an mein Ohr! Upps! Jetzt hab ich ganz vergessen zu suchen!