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St. Pöltens gute Seite

Wort für Wort auf neuen Wegen

Text Althea Müller
Ausgabe 02/2025

Laut aktueller PIAAC-Studie können 29 Prozent der Erwachsenen in Österreich nicht – oder nicht ausreichend – lesen und schreiben. Von diesen etwa 1,7 Millionen Menschen leben rund 200.000 in Niederösterreich. Echte Hilfe bietet hier die Basisbildung vom BhW NÖ.


Heute liebt er es, Geschichten zu schreiben oder autobiografische Erzählungen über seine Eltern zu verfassen. In seinem früheren Beruf als Handwerker aber musste Karl (60) über lange Zeit hinweg mit einer ausgeprägten Lese- und Schreibschwäche leben – und Wege finden, um trotzdem gut durch den Arbeitstag zu kommen. „Ich habe mir einen eigenen Notizblock angelegt, mit wichtigen Begriffen, die ich dann während der Arbeit abschreiben konnte“, erzählt uns der engagierte Frühpensionist. „Die ganzen Jahre haben meine Kollegen und Chefs nie gemerkt, wie schwer ich mir mit der Rechtschreibung tue.“ 2007 findet er über eine persönliche Empfehlung zur BhW Basisbildung: Bis heute besucht er die Kurse – und freut sich über die laufende Verbesserung seiner Fähigkeiten.

Bildungsauftrag mit Herz und Verstand
Seit über 20 Jahren hilft die BhW Basisbildung mit Sitz in der St. Pölt­ner Linzer Straße Erwachsenen, die Schwierigkeiten mit dem Lesen, Schreiben und Rechnen haben, mit maßgeschneiderten Kursen. Auch Unterstützung für Grundkenntnisse in Englisch oder mit dem PC wird geboten. Die Kurse sind für die Teilnehmenden kostenfrei – und werden sowohl von Österreicher:innen mit Deutsch als Erstsprache als auch von Menschen mit Migrationshintergrund besucht. Männer und Frauen sind dabei etwa gleich oft vertreten.
Eine der Frauen ist Naomi (31): Eine ausgeprägte Lernschwäche ist während der Schulzeit ihr ständiger Begleiter. 2016 entschließt sie sich, es anzugehen – und ihre Kompetenzen zu verbessern. In Lesen und Schreiben genauso wie in Mathe und Englisch, denn: „Es ist so aufgebaut, dass ich, wenn ich möchte, all das in einem Kurs mit drin habe. Ich kann mir dann aussuchen, wo ich aktuell auffrischen oder verbessern möchte. Und Elisabeth oder Barbara helfen mir immer, wenn ich nicht weiter weiß.“
Elisabeth und Barbara zählen zu den rund zehn engagierten Lernbegleiter:innen, die die Erwachsenenkurse gestalten – im BhW-Haus in der St. Pöltner Linzer Straße sowie an mehreren Standorten in ganz Niederösterreich. Sie sind es, die Menschen wie Naomi und Karl Woche für Woche dabei unterstützen, echte Fortschritte zu machen.

Zeile für Zeile zum Fortschritt
„Letztens habe ich nicht nur etwas geschrieben, sondern es danach auch noch auf Englisch übersetzt“, strahlt Naomi. „Natürlich unter anderem mit Übersetzungsseiten im Internet, wie andere auch – aber alleine, dass ich jetzt weiß, wie ich solche Tools finden und nützen kann, zählt so viel!“ Damit bringt es die lebensfrohe Frau, die mittlerweile auch beruflich gut angekommen ist, auf den Punkt: Die Basisbildung setzt an den eigentlichen Kompetenzen an – und beeinflusst damit automatisch auch zahlreiche weitere Lebensbereiche und Eigenschaften positiv. Wie etwa das Selbstbewusstsein, den Orientierungssinn oder die Kreativität. 
Das unterstreicht Therese Reinel, BhW-Geschäftsführerin und Expertin der Basisbildung: „Lesen und schreiben oder auch rechnen zu können“, erklärt sie, „kommt natürlich eine hohe Bedeutung zu, um sich im Alltag zurechtzufinden, gesellschaftlich teilzuhaben – und selbstständig Entscheidungen treffen zu können.“

Anstrengende Alltagsstrategien
Michael Lindenhofer ist seit rund 20 Jahren, beinahe also wirklich vom Start weg, als Lernbegleiter an Bord des BhW. „Bei den österreichischen Kurs-Teilnehmenden kennen wir die Tendenz, dass sie meist sehr lange mit ihrer Schreibschwäche durchs Leben gehen“, erzählt er. „Dafür entwickeln sie Strategien, wie etwa, dass sie in manchen Situationen immer jemanden als Begleitung mithaben, oder dass sie Hilfsmittel einsetzen.“ So wie Karl sein heimliches selbstgemachtes Taschen-Wörterbuch. „Wenn sie mit 20 oder auch erst mit 50 doch zu uns kommen, hat das meist einen der folgenden Gründe“, erläutert Michael: „Entweder möchten oder müssen sie den Führerschein machen. Oder sie bekommen Kinder und wollen sie, vor allem auch in der Schule, unterstützen können.“

Analphabetismus?
Das Schlagwort „Analphabet“ ist schnell mal herausposaunt. Was aber steckt wirklich dahinter? „Primärer Analphabetismus bedeutet, dass die Person nie lesen und schreiben gelernt hat“, erklärt Michael. „Das erleben wir, wenn, dann bei Menschen mit Deutsch als Zweitsprache. Funktionaler Analphabetismus wiederum bedeutet, dass die Menschen sehr wohl in der Schule waren und die Techniken des Lesens und Schreibens einmal unterrichtet bekommen haben. Allerdings haben sie es nicht in dem Ausmaß gelernt, um es in ihrem Leben wirklich anwenden zu können. Es fällt ihnen extrem schwer, Wörter überhaupt zu lesen.“ Die Lese- und Schreibkompetenzen sind somit zu gering zur Bewältigung des Alltags: Dinge wie Formulare auszufüllen sind nicht bewältigbar. Darum entwickeln die Menschen, wie schon gesagt, individuelle Lösungen – wie, zu Terminen eine eingeweihte Vertrauensperson mitzubringen. Oder sich Texte von Handy-Apps vorlesen zu lassen. Im Gegensatz zu funktionalen Analphabet:innen haben dagegen Personen mit Lese- und Schreibschwäche die Technik des Lesens an sich normalerweise drauf: Sie können Sätze zusammenlauten – und Wörter meist eher problemlos lesen. „Aber weil sie diese Technik nicht richtig verinnerlicht haben“, so Michael, „brauchen sie viel Energie fürs Lesen selbst. Die Sinnerfassung bleibt auf der Strecke. Das ist dann noch einmal eine andere Ebene.“
Dass sie trotzdem in den allermeisten Fällen in Österreich durchs Schulsystem kommen, ist dabei kein Widerspruch: „Manche wurden damals sozusagen ‚durchgeschleust‘“, fährt er fort, „und viele können während der Schule so gut lesen und schreiben, wie es notwendig ist. Danach verlernen sie es aber quasi wieder. Weil sie es im Beruf kaum oder gar nicht brauchen und darum auch nicht anwenden.“ In der Not wird dann jeweils zum Hilfsmittel nach Wahl gegriffen.

Lebensverändernde Kurse
Therese Reinel bestätigt: „Menschen mit fehlender oder nicht ausreichender Schreib- und Lesekompetenz sind tatsächlich sehr geschickt darin, das im täglichen Leben zu verbergen und zu umschiffen.“ Der Grund für diese Anstrengungen? „Unglücklicherweise ist die Scham wegen der fehlenden oder unzureichenden Kompetenz im Erwachsenenalter oft sehr groß“, bedauert Tobias Hauzeneder-Mörth, Projektleiter der Basisbildung, „sodass sich viele lange oder gar nicht trauen, sich bei uns zu melden.“
Dabei ist der Schritt zur Basisbildung vielmehr der Beweis von großer Courage und einem bewundernswerten Lern- und Arbeitswillen. Das betonen auch Naomi und Karl: „Einfach anrufen und sich beraten lassen – es kostet nichts außer Zeit!“ Außerdem, streichen sie unisono heraus, geht es beim BhW wertschätzend und menschlich zu: vom ersten Anruf übers Erstgespräch bis hin zum Kurs, mit guter Stimmung in der Gruppe. „Wenn die Angst trotzdem sehr groß ist, hilft es auch, anfangs einen vertrauten Menschen mitzunehmen“, macht Naomi lächelnd Mut zur nachhaltigen Veränderung.

LESE-TIPP
Unsere Interview-Partner:innen Naomi und Karl haben bereits Geschichten publiziert, nachzulesen in der Buch-Reihe „schriftlos heißt nicht sprachlos“ – herausgegeben von der Zentralen Beratungsstelle für Basisbildung und Alphabetisierung mit dem Institut für Bildungsentwicklung Linz, mit Texten von Teilnehmenden der Basisbildung.

BHW NIEDERÖSTERREICH GMBH
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